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Der Frühling wollte kommen, aber er brachte die Eroberung von Verdun noch immer nicht mit. Ungeheuere Anstürme, ungeheuere Verteidigungen, auf beiden Seiten ungeheuere Opfer. Dieses Frühjahr war es besonders zeitig warm geworden, es blühte bereits im April, aber wer konnte sich daran freuen?
Wenn Hedwig Bertholdi jetzt durch ihren Garten ging, sah sie nicht, daß der Flieder bald Knospen ansetzte. Sie hatte Sorgen, größere Sorgen, als sie vordem gehabt hatte. Wenn Annemarie lachte, tat es ihr fast körperlich weh. Ihr Ältester war jetzt der, um den sie am meisten bangte. Es sei ihm über, als Artillerist ewig im Unterstand zu liegen und sich mit den Ratten herumzuschlagen; er hatte ein Bett da unten, eine nette Wohnung, nur auf den Knopf braucht er zu drücken, so war der Bursche auch schon da, aber dieser Stellungskrieg war das Ödeste, was man sich denken konnte. Er hatte sich zu den Fliegern gemeldet; da war doch noch Freiheit und ein selbständiges Handeln. Den Hauptmann Bölcke hatte er kennengelernt, der hatte sein Gesuch unterstützt. Nun wußte die Mutter ihn freilich augenblicklich nicht im Kampf, hinter der Gefahrzone machte er seine Ausbildung durch. Aber ging er nicht noch viel größeren Gefahren entgegen als Rudolf, der als Infanterist vor Verdun lag? Heinz flog schon, und seine Briefe, die seit dem Urlaub selten gekommen waren und die ihr eigentümlich müde und unlustig gedünkt hatten, strömten jetzt über von einer Lebhaftigkeit, die sich wie Begeisterung las. Aber das feine Ohr der Mutter hörte unter der Begeisterung doch noch etwas anderes: Was war mit Heinz?
Wenn sie jetzt nachts im Bette lag, flog auch sie. Dann war es ihr, als höbe ihr Körper sich aus den Kissen, als schwebe sie durch unendliche Räume, die man Himmel nennt, und fühlte mit Schaudern die Erde unter sich versinken. Warum nur hatte Heinz sich dazu gedrängt? Sie las jetzt nur von Abstürzen. Wußte er denn nicht, daß ›Flieger‹ das Allergefährlichste ist?
»Fliegen, die reine Lebensversicherung«, antwortete er ihr. »Ein herrliches Gefühl, so allem entrückt zu sein, auf den Flügeln des großen Vogels durch den Äther zu schweben, von allem andern losgelöst. Dann denkt man nicht mehr an das, was gewesen ist, oder was sein könnte, alles ist vergessen, man fliegt, fliegt und genießt das.«
»Laß ihn doch«, sagte Annemarie. »Ich finde es riesig schneidig von ihm.«
Was wußte diese junge Frau, die mit einer unerklärlichen Unbefangenheit in den Tag hineinlebte, von den Gedanken einer Mutter? Die Ältere hätte die Jüngere beneiden mögen um ihren Gleichmut – hatte die ein glückliches Temperament! Und es war ja auch so, als sollte sie recht behalten mit ihrem täglichen: ›Es wird schon gutgehen‹, noch immer hatte sie die besten Nachrichten von ihrem Mann. Briefe flogen hin, Briefe flogen her. Mitten in allen Kriegsgreueln blühte das Liebesglück. Und Hedwig sagte sich: So muß wohl die Frau sein, die es ihrem Mann leichtermacht zu dieser Zeit. Sie wußte nicht recht, sollte sie die Schwiegertochter oberflächlich nennen, oder herzenskühl, oder sie beneiden? Es hatte sie als etwas ganz Unfaßliches berührt, wie die beiden Menschen voneinander Abschied genommen hatten. Strahlend waren sie von Dresden wiedergekommen, Rudolf hatte seine Frau noch nach Hause gebracht am letzten Tag des Urlaubs, am Abend mußte er fort. Annemarie würde ruhig bei der Mutter bleiben, bis er wiederkam, dann würde man ja schon weitersehen. Und Annemarie hatte sich hineingefügt mit derselben Leichtigkeit, mit der sie sich eben in alles fügte. Sie hatte wohl geweint, als ihr Rudolf sie zum Abschied küßte, aber als sie dann auf dem Bahnsteig stand und ihm nachwinkte, hatte sie doch schon wieder unter Tränen gelächelt. Und er hatte ihr lächelnd wiedergewinkt, obgleich auch ihm das Wasser in den Augen stand. Sie waren eben jung, sie hatten noch nie das große Leid erfahren, das das Innerste um und um kehrt – glückliche Kinder.
Es gab Stunden, in denen es Hedwig Bertholdi schwerfiel, nicht ungerecht gegen die Schwiegertochter zu werden. Wie konnte die nur so heiter sein! Das Lachen, das sie einst entzückt hatte, dieses volle, tönende Lachen, fiel ihr jetzt auf die Nerven. Aber mußte sie nicht eigentlich froh sein, daß Annemarie die Zeit und die Trennung so trug? Wenn die nun immer geklagt und gezagt hätte? Ohne daß Hedwig es wußte, nahm sie sich jetzt mehr zusammen; sie konnte sich von der so viel Jüngeren doch nicht beschämen lassen.
Annemarie genoß das Behagen, das sie in dieser Häuslichkeit umgab. Es war doch schön, Frau zu sein, selbst wenn der Mann nicht da war. War der Krieg erst zu Ende und Rudolf zurück, würde es freilich noch schöner sein. Jetzt beschäftigte sie das Kind, das sie erwartete. Noch war es lange hin, bis das geboren werden sollte, aber sie fühlte sich schon ganz als junge Mutter. War es Eitelkeit, war es Stolz auf das Kriegskind? Oder schon Liebe? Sie pflegte nicht über sich nachzudenken, aber ihr selber unbewußt wachte ein Trieb in ihr auf: der Trieb zum Kinde. Sieben Söhne möchte sie haben, sieben schöne, gesunde, muntere Jungen, sieben Söhne für den Kaiser. Und leise trällerte sie das alte Soldatenlied vor sich hin, das sie als Mädchen oft gesungen:
»Musketier sein lustge Brüder,
Haben guten Mut.
Fidera, fidera, fiderallala!«
In den beiden benachbarten Gärten gingen die beiden jungen Frauen. In ihrer gesunden Fülle guckte Annemarie über den Zaun: Frau Rossi war noch immer so schlank; war sie nicht wie eine Lilie zart und weiß? Annemarie bewunderte die schöne Frau im stillen; sie hatte die kennengelernt, Frau Rossi war einmal herübergekommen und hatte einen Besuch gemacht. Aber sprechen hatte sie nicht viel mit ihr können, die Schwiegermutter führte die Unterhaltung. Sie sprachen über den Tod des Leutnants Rossi, wo und wie er gefallen war. Die Witwe hatte sehr leise, fast zögernd, die teilnahmsvollen Fragen beantwortet; dabei waren ihre Augen mit einem zerstreuten, unruhig suchenden Ausdruck durchs Zimmer geglitten. Ein Bild von Heinz stand da. Sie nahm es in die Hand, sah darauf nieder und hielt es so während des Gespräches eine ganze Weile. »Ein neues Bild meines Sohnes«, sagte die Mutter. Da errötete sie leicht und stellte es hin.
Hatte die etwas Weibliches, Sympathisches und so etwas Gehaltenes! Hedwig Bertholdi war ganz entzückt.
Nun sah Annemarie mit einer gewissen Neugier hinüber zu der jungen Frau. Was machte die wohl den ganzen Tag? Keinen Mann, an den sie schreiben konnte, und kein Kind, auf das sie warten konnte. Das mußte doch zu langweilig und traurig sein. Still und langsam ging Frau Rossi zwischen den mit Buchsbaum eingefaßten Rabatten, gleich einer Nonne, ab und zu bückte sie sich, sie pflückte Veilchen. Aber kein Lächeln kam dabei auf das ernste Gesicht.
Das ganze Gefühl ihres Reichtums überströmte die junge Frau Bertholdi. Sie grüßte mit ihrem frohesten Lachen, wollte gern besonders freundlich sein: Die war ja so arm. Und wie eine, die Millionen zu verschenken hat, sagte sie: »Sie sind immer so allein, kommen Sie doch öfter mal zu uns herüber, ja?« Sie streckte ihre Hand hin.
Jetzt lächelte Lili; sie nahm die dargebotene Hand, aber dann wurde ihr Gesicht gleich wieder ernst. Zurückhaltend sagte sie: »Ich bin nicht so allein, ich habe ja meine Mutter am Ort. Aber gewiß, ich werde schon gern einmal kommen.«
Annemarie fühlte: Das war nur so gesagt. Die würde natürlich nicht kommen; das war dumm, sie waren doch beide jung, sie würden gut zueinander passen. Mit der ganzen Unbefangenheit ihres Wesens hielt sie fest: Die gefiel ihr nun einmal, und die sollte sie nicht mit einer Redensart abspeisen. »Sie kommen ja doch nicht, wenn Sie so sagen: ›Ich werde schon gern einmal kommen.‹ Och!« Sie warf den Mund auf und schüttelte den Kopf: »Nein, damit gebe ich mich nicht zufrieden. Sie sollen sagen: ›Ja.‹ Morgen? Übermorgen? Meinetwegen auch erst in drei Tagen. Aber Sie müssen sagen: ›Ich komme.‹ Sie sind doch auch jung. Ich bin achtzehn. Wie alt sind Sie?«
»Fünfundzwanzig.«
»Schon fünfundzwanzig? Aber, na, jung ist das doch auch noch. Es wäre so nett, wenn wir uns öfter sähen.« Und von einem plötzlichen Impuls getrieben, langte Annemarie über den Zaun und zog mit beiden Armen die andere näher zu sich heran. »Soll ich hinüberklettern zu Ihnen?« Sie machte schon Anstalt dazu, aber dann besann sie sich: »Nein, das darf ich ja nicht mehr.« Sie lachte und errötete stolz: »Ich muß jetzt Rücksicht nehmen.«
Mit einem Gefühl, das nicht ganz frei von einem schmerzlichen Neid war, dachte Lili an diese erste Unterredung mit der jungen Frau von Rudolf Bertholdi zurück. Die war ein glücklicher Mensch! Von Tausenden vielleicht der einzig Glückliche – wenigstens von Frauen gewiß die einzige jetzt. Die Männer fanden schon eher ein Glück, es lag für sie sogar eines in dieser Zeit. War ihr Mann denn nicht glücklich gewesen in seinen Kämpfen? In seinem Tod? Und war Heinz nicht glücklich auf seinen Flügen?
Es war nichts Auffälliges dabei, daß Lili die junge Frau nach dem Schwager gefragt hatte; die wußte ja, daß sie mit Leutnant Bertholdi öfter zusammengewesen war. Aber sie merkte bald, Annemarie hatte keine Ahnung davon, wie nahe sie dem älteren Bruder gestanden hatte. Um so eher hatte sie fragen dürfen: »Wie geht es dem Bruder Ihres Herrn Gemahls – auch gut?«
»Der ist Flieger geworden – warum wundert Sie das so?«
Lili hatte einen Ausruf nicht unterdrücken können. Ein »Ach!« war ihr entfahren, sie war sehr bleich geworden, der zarte Anhauch ihrer Wangen gänzlich verschwunden. Mit Mühe nur hielt sie an sich, sie durfte ja nicht zeigen, wie sehr sie das erregte. Nun erst mußte sie doppelt in Sorge um ihn sein, in doppelt berechtigter Sorge. Flieger, Flieger! Was hatte ihn dazu getrieben? Sie vielleicht? Um Gottes willen: sie?!
Es war eine Nacht voller Qual, die Lili hiernach verbrachte. War sie nicht eine Törin, daß sie ihn so hatte gehen lassen, so?! Hätte sie ihm nicht doch sagen können, sagen dürfen: ›Geh jetzt. Aber wenn du wiederkommst, bin ich dein.‹ Hatte der Tote denn alles Recht, der Lebende keines? Sie wußte viel von Fliegererfolgen und konnte sich wohl denken, daß die Herrschaft in der Luft einen jungen kühnen Menschen reizte. Aber nein, er hätte es doch nicht tun dürfen. Wußte er denn nicht, daß sie nun hier in Ängsten die Hände so fest ineinander wand, daß die Gelenke knackten? Sie konnte keinen Schlaf finden, keine Minute – ach, sie würde nie mehr ruhig schlafen können!
Mit brennenden, trockenen Augen sah sie hinüber zum Bild ihres Mannes an der Wand. Angst hatte sie auch um ihn gehabt, hatte Angst kennengelernt, wie alle Frauen sie kennen, die ihre Männer draußen haben; aber jetzt war noch etwas anderes bei ihrer Angst. Es empörte sich etwas in ihr gegen sie selber. Warum war sie so abweisend gewesen, hatte sich so kühl gezeigt? Hatte sich in die Tugend der unwandelbar treuen Witwe gehüllt, von der ihr Herz doch schon nichts mehr wußte. Warum, warum sich immer selber belügen? Warum so wohlerzogen sein, so in den Formen der Welt befangen, daß man nicht offen zu sagen wagt: »Ja, ich bin dein, da, nimm mich!«
In einer leidenschaftlichen Unrast bäumte die blonde Frau sich auf in den Kissen. Wenn er nun stürzte, wenn er, durch die Abwehr des Feindes getroffen, oder durch die Tücke des Elements bezwungen, sich zu Tode verletzte? Sie, sie allein war verantwortlich! Sie ächzte laut. Die peinvolle Einsamkeit der Nacht malte ihr die Schrecknisse nur noch schreckensvoller aus. Und dann zürnte sie auch wieder ihm. Mehr hatte sie doch nicht zeigen können, als sie ihm gezeigt hatte. ›Ich kann nicht zum zweitenmal all die Qual und Angst des Wartens durchmachen‹, so hatte sie zu ihm gesprochen – hatte er das denn nicht gehört? Gehört; aber nicht verstanden. So spricht doch keine Frau zu einem, der ihr gleichgültig ist. Wie hatte er nur von ihr gehen können im Trotz, im Zorn, in einer so knabenhaften Verletztheit, daß er es jetzt darauf anlegte, sein Leben zu verlieren? Sie stiegen alle nicht ungestraft auf zur Sonne, die Helden der Luft.
Im einsamen Dunkel, das ihr Bett umgab, sah Lili plötzlich sein so liebes, so junges Gesicht, und schwere Tränen fingen an ihr langsam über die Wangen zu sickern. ›Kommen Sie wieder!‹ Sie hatte im letzten Augenblick des Scheidens nicht hindern können, daß ihr das über die Lippen geschlüpft war; aber sie hatte es geflüstert, so leise, daß es unhörbar blieb. Jetzt, in der Angst um den, der sich, einem Vogel gleich, hoch in die Lüfte hob, unbekümmert um das, was er hier unten ließ, streckte sie ihre Hände bittend aus und rief mit der ganzen Hingabe des Weibes, das weiß, was Liebe ist: »Komm wieder!«
Die Tage waren jetzt schon viel länger. Für Glückliche mag es schön sein, wenn die Nächte lange dunkeln, für die, so einsam sind und bleiben, ist es Erlösung, wenn der Abend spät kommt und der Morgen früh. Und überall begann es sich grünend zu regen. Schon zeigten die Büsche in den Gärten Blättchen, und die Krokusse auf den Rasenplätzen waren so farbenbunt, als wäre es niemals Winter gewesen. Lili hörte eine Amsel singen drüben im Bertholdischen Garten, und eine andere, zwischen den Krügerschen Buchsbaumrabatten, antwortete. Als sie zum erstenmal diesen Lenzgesang vernahm, hob sich etwas in ihr. War es Hoffnung, was da aufstieg? Befreiung? Sie hatte nie einen Brief von ihm erhalten, aber sie wußte, gestern hatte seine Mutter Nachricht von ihm bekommen. Er lebte! Das mußte ihr für jetzt genügen. Mit träumerischen Augen sah sie hinab in den ländlichen Garten.
Dort schaffte Frau Krüger jetzt emsig. Im hellen Frühlingsschein sah man recht, wieviel Schnee dieser Winter ihr aufs Haar gelegt. Doch sie hatte noch Kräfte. Wie ein Mann stach sie den Spaten ein, sie grub ihre Beete um. Sie schaffte den Dung aus dem Ziegenstall unter. Das sollte alles fruchtbar werden, zutragen, einbringen – für wen?! Ein finsterer Gedanke schoß der Frau durch den Kopf, die Falte über der Nasenwurzel furchte sich noch tiefer. Warum all die Arbeit, die Schwielen an den Händen, die Schweißperlen auf der Stirn? Wozu säen, pflanzen, ernten? Saß einer mit ihr am Tisch, dem sie den Teller füllen konnte? Zu dem sie sprechen konnte: »Schmeckt es dir? Ich habe es selbst gezogen. Alles für dich!«
Nun hatte sie's schon in alle Zeitungen setzen lassen:
VERMISST
wird seit dem 10. November 1914 der Reservist Gustav Krüger, Inf.-Reg. 203, 3. Komp. Kameraden, welche mit ihm bei Dixmuiden kämpften, oder Angehörige von solchen, welche seit gleicher Zeit vermißt werden, und Nachrichten (eventl. aus Gefangenschaft) erhalten haben, werden herzlich um Mitteilung gebeten. Unkosten werden gern vergütet.
Jemand hatte ihr das geraten. Und sie hatte den Rat seinerzeit auch gut befunden. Vielleicht war der Gustav doch nicht in Korsika, sondern wo anders. Leicht möglich, in Sibirien. Da kriegte ja niemand eine Nachricht her.
Sie war zu mehreren Versammlungen in Berlin gewesen, wo alle sich zusammenfanden, die keine Nachricht erhielten. Man war wie eine Familie. Die Mütter saßen zusammen, als wären sie Schwestern, die Väter berieten gemeinsam. Einer erzählte dem andern seine Geschichte: Am Ende wußte der andere doch einen Rat. Da ging sie nun längst nicht mehr hin. Von denen hatte schon mancher sein Kind wiedergefunden. Als sie das letzte Mal die Elternversammlung besucht hatte, war eine Mutter dagewesen, die hatte vor Freude laut geweint:
Heut, heut hatte sie einen Brief erhalten von ihrem Sohn. Aus Sibirien. Wie durch ein Wunder. Kaum leserlich, zerfetzt, über unzählige Meilen gegangen. Erst hatte der Sohn im Lazarett gelegen – wo, wußte er selber nicht –, nun mußte er Bäume fällen in einem Urwald, es war eiskalt, er hatte es unsäglich schwer, aber er lebte. Er lebte! Es war ihm gelungen, einem Schweden den Brief zuzustecken, der hatte ihn weiterbefördert. Die Mutter war wie außer sich vor Glück: ›Mein Sohn lebt!‹ Sie schrie es in den Saal. Darin war zu anderen Zeiten getanzt worden, von der Tribüne herab, auf der die Musik flotte Tänze geschmettert hatte, sollte sie den Brief vorlesen, aber sie konnte es nicht, die Freudentränen erstickten sie. Sie hielt nur das Blatt empor und schwenkte es: »Lebt, lebt!« Und dann sank sie auf die Knie. Betete sie? Sie falteten alle die Hände. Keiner sprach ein Wort.
Die hatte also doch Nachricht bekommen – und sie? Die Krüger war nicht mehr hingegangen. Auch in die Zeitungen würde sie es nicht mehr setzen lassen, schon sehr viel Geld hatte das gekostet – wozu? Es war besser, sie legte das beiseite für Gustav. Wer weiß, wie er wiederkam! Ob er es nicht nötiger brauchte; er war vielleicht krank. Oder er kam als Krüppel, ohne Arme, ohne Beine. Gleichviel, wenn er nur da war! Sie würde schon für ihn sorgen, ihn auf Händen tragen, ihm an den Augen absehen, was er sich wünschte.
Mit jugendlicher Kraft stieß die alte Frau den gewichtigen Spaten ein und hob Scholle auf Scholle. Hier sollten Frühkartoffeln her, Kaiserkronen, die er so gerne aß. Ob er wohl schon da war, wenn sie die ausbuddelte? –
Die Krüger war wirklich nicht bei Trost, daß die noch immer auf ihren Jungen hoffte. Da war doch nichts mehr zu hoffen. Kein Mensch glaubte mehr daran, daß Gustav Krüger wiederkommen könnte. Man sagte es der Mutter bloß nicht ins Gesicht, aber man ließ sie es doch fühlen, und das brachte die Frau in eine fast feindselige Stimmung. Sie nahm es den Leuten übel, daß die nicht mit ihr warteten und glaubten. Grollend zog sie sich in ihren Garten zurück, zu ihren Tieren: Die waren besser als Menschen. Und doch hielt sie es jetzt wiederum kaum mehr aus in ihrer Einsamkeit; ein unsägliches Verlangen trieb sie zu fragen: ›Glaubt ihr, daß er wiederkommt?‹ Diese Frage bestätigen zu hören mit: ›Ja, gewiß!‹
Hedwig Bertholdi sah die alte Frau in ihrem Garten arbeiten: Wie weiß die geworden war. Arme Frau! Mußte man jetzt nicht Mitleid mit jeder Mutter haben? Mit der, die schon um Verlorenes trauert – mit der, die noch zu verlieren fürchtet. Welche war schlimmer daran? Es war für beide gleich schwer. War diese Zeit für Mütter nicht noch schwerer als für Gattinnen? Die Hingabe der Gattin kommt nicht der Hingabe der Mutter gleich. Die alternde Frau hat nichts zu erhoffen mehr, was bleibt ihr noch? Jugend, Schönheit, Leidenschaft sind nicht mehr, sie selber begehrt nicht und wird auch nicht mehr begehrt. All das, was sie einst beglückt hat, beglückt sie jetzt nicht mehr, ihre Sinne sind kühler geworden, ihre Wünsche kleiner; sie hat sich bescheiden gelernt, bescheiden lernen müssen, die Welt geht an ihr vorüber, sie steht beiseite. Die Alternde kann nicht noch einmal wie die Junge von neuem beginnen. Der Sohn ist ihr das Letzte: die Hoffnung, das Glück.
Wenn Hedwig Bertholdi darüber nachdachte, überkam sie ein großes Mitgefühl. Obgleich die Schwiegertochter neben ihr lebte, war sie sehr einsam; dieses junge Geschöpf verstand sie nicht, und sie verstand es nicht mehr. Jugend muß erst durch tiefes Leid gehen, um nachzufühlen, wie die empfindet, die schon jenseits der Grenze steht. Es war ihr ganz natürlich, daß sie die Hand hinüberstreckte: »Frau Krüger, wie geht es Ihnen?«
Die Emsige blickte auf. Zögernd legte sie ihre arbeitsharten Finger in die weiche, geschonte Hand. Als sie aber in das Gesicht der Dame blickte, wurde der Druck ihrer Hand fester: Die sah auch aus, als ob sie wüßte, was Kummer ist. Und den Söhnen ging es doch noch gut; die schrieben ihr. »Die Frau Rossi hat es mir gesagt, Ihr Ältester ist unter die Flieger gegangen. Die junge Frau von Herrn Rudolf ist ja noch ganz vergnügt. Ich höre ihr singen. – Mein Gustav hat noch immer nicht geschrieben.« Eine angstvolle Klage zitterte bei den letzten Worten in der müden Stimme.
Sollte sie dieser armen Mutter die letzte Hoffnung nehmen? »In vielen Gefangenenlagern dürfen sie nicht schreiben«, sagte Hedwig Bertholdi. »Das ist grausam. Aber da es bekannt ist, ist es wiederum ein Trost. Man weiß nun doch, woran es liegt, wenn man keine Nachricht bekommt.«
»Glauben Sie denn noch, daß mein Sohn lebt?« fragte die Krüger und sah die andere durchbohrend an aus ihren eingesunkenen glanzlosen Augen.
Und wiederum überkam es Hedwig, sie konnte nicht anders, sie mußte lügen. »Warum soll ich es denn nicht glauben?« sagte sie eifrig. »Aber Frau Krüger, Sie waren doch sonst so voller Zuversicht – wissen Sie noch, wie Sie zu mir kamen, ihn erkannt hatten auf dem Gefangenenbild?«
»Es ist schon so lange her«, murmelte die Frau. »Es wird immer länger. Manchmal denke ich, er is am Ende doch tot.« Sie blickte düster vor sich nieder. Aber nun fuhr sie auf: »Das hätt' ich doch erfahren müssen, nich wahr? Man kann doch ein Kind nich einfach einscharren, ohne es seiner Mutter zu wissen zu tun, nich wahr?«
Es überlief Hedwig. Ach, nun kam der peinvolle Zweifel! »Machen Sie sich keine solchen Gedanken«, sagte sie herzlich. »Was nützt uns alles Denken, alles Hin und her zwischen Zuversicht und Zweifel. Jetzt spielt das Schicksal mit uns so unbegreiflich wie nie zuvor!«
»Ach was, Sie weichen mir nur aus!« Die Krüger blickte argwöhnisch. »Sagen Sie mir, glauben Sie, daß mein Gustav noch am Leben is?« Sie hatte sich aufgerichtet, ihre hager gewordene Gestalt reckte sich am Zaun, ihre Hand ballte sich zur Faust: »Verfluchter Krieg! Lebt mein Sohn, oder lebt er nicht?« Ihr Ton war drohend.
Hedwig nickte beängstigt. »Sicherlich lebt er noch. Sonst hätten Sie doch etwas zu hören bekommen.«
»Ja, das meine ich auch!« Die Krüger stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus: »Na, denn man zu!« Und wie mit neuer Kraft setzte sie den Fuß auf den Spaten und trieb ihn tief hinein in die widerwillige Erde. »Der Boden is hart wie 'ne Tenne, aber ich wer' ihn schon locker kriegen. Warte man, du!« Sie stieß wieder den Spaten tief ein: »Kartoffeln sollen hier wachsen – 'ne Menge – schöne mehlige Kaiserkronen. Der Gustav soll sein Vergnügen dran haben!« Und sie grub weiter, eifrig, den Rücken krumm gebückt, ohne sich weiter mehr um die andere zu kümmern.
Frau Bertholdi blickte bekümmert: Die Krüger war wirklich sehr verändert. Es war schon so, wie Emilie gesagt hatte: Die Frau war seltsam geworden. ›Verrückt‹, sagten die Leute. War es ein Wunder? Ach, tot wissen ist ja nichts gegen Ungewißheit!
Ihr eigener Kummer kam Hedwig plötzlich sehr klein vor. Sie ging ins Haus zurück, es trieb sie förmlich an den Schreibtisch, sie wollte an Heinz schreiben, an Rudolf, die Söhne ihre ganze Liebe fühlen lassen, solange es noch Zeit dazu war. An Heinz schrieb sie: ›Was hat Dich zu den Fliegern getrieben? Sage es mir, ich bitte dich! Es ist nicht allein Dein Mut, Deine Unternehmungslust, Dein Betätigungsdrang, die Dich dazu bewogen haben. Und eine Lebensversicherung ist es auch nicht. Das redest du mir, Deiner Mutter, nicht vor. Neulich war Frau Leutnant Rossi bei mir, eine liebe und auch sehr reizvolle Frau – das brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen. Sie hat mein ganzes Herz gewonnen. Ich werde sie wieder besuchen; ich hoffe mit ihr in nähere Beziehung zu kommen.‹
Und an Rudolf schrieb sie: ›Annemarie geht es ausgezeichnet, sowohl körperlich wie seelisch. Sie ist die rechte Frau für einen, der im Felde steht. Das sehe ich immer mehr ein. Es wird dir lieb sein, zu hören, daß wir gut miteinander auskommen. Wenn ich anfänglich einer so schnell geschlossenen Ehe in Deinen jungen Jahren widerstrebte, so geschah das nur aus Sorge Deiner Zukunft wegen. Ich mache mir keine Sorge für die Zukunft mehr. Jetzt ist die Zeit des ›Heute‹ – der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Und sollte ich einmal in den alten Fehler verfallen, so hoffe ich, Du hast ein wenig Geduld mit Deiner alten Mutter, mein geliebter Junge. Aber ich denke, wenn du zurückkehrst, bin ich nicht umsonst durch die harte Schule des Krieges gegangen, dann findest Du mich, mich restlos mit Dir, mit Euch freuend.‹
Das hatte sie längst ihrem Jüngsten sagen wollen, damit auch der letzte Hauch von Verstimmung zwischen ihm und ihr verschwand. Es war nicht der rechte Abschied gewesen, den sie nach dem Urlaub voneinander genommen hatten. Er hatte sie wohl umarmt und geküßt, und doch war es innerlich nicht so gewesen, wie es sein soll, wenn es vielleicht ein letzter Abschied ist.
Mit einem Gefühl der Erleichterung schloß die Mutter den Brief. Mochte nun kommen, was da wollte! Sie konnte, ohne sich einen Vorwurf zu machen, an ihn denken.