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Wenn Hedwig Bertholdi jetzt in den Garten ging, sah sie drüben die Krüger das Obst abnehmen. Es war reif; bald würden die Blätter fallen. Und eine Angst kam sie an vor dem einsamen Winter. Schon der vorige war schwer gewesen, aber da war doch ihr Mann noch hier. ›Nimm dir jemand ins Haus‹, schrieb er. ›Es gibt so nette junge Mädchen, die froh sind, eine Unterkunft zu finden – besonders jetzt.‹
Kein Wort, daß er bald wiederkommen würde, wiederzukommen hoffte. Und auch nichts von Bedauern darüber, nicht selber bei ihr sein zu können. Und die Söhne schrieben auch davon nichts. Als seien ihnen draußen alle zarteren Empfindungen abhanden gekommen. Ihr Ältester, Heinz, hatte das Eiserne Kreuz bekommen, und Rudolf war Unteroffizier geworden. Aber keiner sagte: ›Arme Mutter, wie bist du so allein!‹ – und das hätte sie doch mehr als alles andere gefreut.
Ihr graute vor einer Gesellschafterin, die darauf angelernt ist, immer heiter zu sein, immer zu lächeln, wenn auch die Launen der Dame noch so schwer zu ertragen sind. Nein, zu so etwas konnte sie sich nicht entschließen! Da schrieb ihr eine Jugendfreundin, von der sie lange nichts gehört hatte, Frau von Loßberg aus Koblenz. Eine Bitte. Herr von Loßberg – Major – war vor einem Vierteljahr nach langem Leiden an den Folgen einer schweren Verwundung gestorben; Frau von Loßberg, schwächlich und zermürbt, wollte zu ihrer alten Mutter ziehen, die in einem kleinen hessischen Städtchen von einer bescheidenen Pension lebte. Der älteste Sohn war auch schon Offizier und im Feld, die beiden jüngsten Söhne in Bensberg im Kadettenkorps; nur noch die Tochter war zu Hause.
›Es ist hart für meine lebensfrohe Annemarie, bei uns zwei lebensmüden alten Frauen im Winkel ihr junges Dasein vertrauern zu müssen. Ich würde sie gern in eine Familie geben, wo sie sich im Haushalt oder bei Kindern nützlich machen könnte. Es ist auch gut, wenn sie es jetzt schon lernt, sich in andere zu fügen – ich werde nicht lange mehr leben, ich fühle es. Ich gehe bald meinem Manne nach. Dann wird für Annemarie doch die Notwendigkeit kommen, unter Fremde zu gehen. Weiter viel gelernt hat sie nicht, wir glaubten, bei meines Mannes Stellung und ihres guten Aussehens wegen sei das nicht nötig. Vielleicht kannst Du mir, liebe Hedwig, die Du doch gewiß viele Beziehungen hast, für meine Tochter behilflich sein.‹ …
Die stillen Zimmer des Hauses grausten Frau Bertholdi an; wenn sie mittags und abends in dem weiten leeren Speisezimmer allein am Tisch saß, konnte sie nichts essen. Die Einsamkeit würgte ihr die Kehle zu. Die Herbstabende waren endlos. Ach, und diese Nächte! Furcht vor Einbrechern, Mördern und Dieben kannte sie jetzt nicht mehr, sie sah nicht mehr hinter die Schränke. Aber eine andere Furcht lebte in ihr, und die war viel schlimmer – die ungeheure Angst: Wie wird es enden?! Nun ging man schon in den zweiten Kriegswinter hinein. Wie lange noch?! Konnte Deutschland noch immer widerstehen? Hatte es immer noch genug Männer zum Kämpfen, zum Siegen? Sie glaubte jeden Tag mehr Trauernde zu sehen. Gingen denn alle Leute in Schwarz? Wurden der Anzeigen von ›Heldentod‹ nicht immer mehr und mehr? Lange Spalten der Zeitungen füllten sie an, ganze Seiten. Und kein Lachen mehr ringsum. Wenn sie doch einen wüßte, der noch so recht herzlich lachen könnte! Ein harmlos-heiteres Lachen aus freier Brust. Ob das junge Mädchen so lachen konnte? Jetzt freilich lachte selbst die Jugend nicht mehr. Drüben im Garten der Krüger sah sie die junge Frau Rossi wandeln, einer Nonne gleich, zwischen den buchsbaumgefaßten Beeten. Auf dem blonden Haar lag ein dunkler Schleier. Es wäre natürlich gewesen, daß Hedwig über den Zaun ein paar Worte an sie gerichtet hätte, sie waren doch nun Nachbarinnen, aber das melancholische Gesicht der anderen schreckte sie ab. Da war auch keine Erheiterung zu holen. Und vor der Krüger hatte sie fast eine Scheu. Die schaffte in ihrem Garten mit einem so ruhigen Gesicht, daß ihr das unnatürlich erschien. Wer konnte so ruhig sein? Die doch am allerwenigsten. Aber sie erntete ihre Obstbäume ab, so ganz bei der Sache, als sei der tiefste Friede und sie habe weiter nichts zu bedenken als ihre Ernte.
Oben auf der Leiter stand die Krüger und angelte mit dem Obstpflücker nach dem letzten Apfel mit einer Hartnäckigkeit, als hinge da oben in der schwanken Spitze das größte Glück. Mit peinlicher Sorgfalt bettete sie die erlesensten Früchte in einen mit Heu gepolsterten Korb; sie faßte sie sogar mit Handschuhen an.
Hedwig konnte sich heute doch nicht enthalten, sie anzurufen. Der Mittag war schön, die Oktobersonne nahm ihre letzte Kraft zusammen, sie durchstach die schon trocken werdenden Blättchen des halbwilden alten Birnbaums am Zaun mit ihren Strahlen, daß, rührte ihn ein Windchen, es von ihm niedertroff wie rotes Blut. Die Krüger sammelte die herabgeschütteten kleinen Birnchen; sie schwitzte, auf ihren tief gebückten Rücken prallte die Sonne. Als sie sich aufrichtete, sah sie gerade in Frau Bertholdis Augen, die über den Zaun weg auf sie blickten. »Haben Sie mir gerufen?«
»Ja«, sagte Hedwig. »Ich bin so allein. Sagen Sie mir, Frau Krüger, warum lesen Sie die alle auf? Mit denen ist doch nicht viel anzufangen.« Sie wies auf die wie geschüttet liegenden verhutzelten Birnchen.
»Die?« Die Krüger hielt ein paar der geringen Früchtchen auf der ausgestreckten Hand. »Da koche ich Mus von. Und wenn sie auch nicht zu essen wären, ich mach' mir zu tun, Frau Bertholdi. Zehnmal bücken nimmt zehn Gedanken weg, hundertmal bücken hundert. Wenn man sich so viel gebückt hat, daß man gar nicht mehr denken kann, dann schläft man nachts. Ich schlafe.«
»Ich nicht!« Hedwig seufzte.
Die Krüger sah sie mißbilligend an. »Schaffen Sie Ihre Mädchen ab, machen Sie Ihre Arbeit alleine. Ich möchte kein Mädchen jetzt haben. Alles alleine, alles alleine: reinemachen, kochen, graben, waschen, die Hühner füttern, den Stall ausmisten von die Karnickels und von der Ziege. Sie glauben nicht, wie gut das einem tut.«
»Ich kann das nicht.« Frau Bertholdi ließ die Arme sinken. »Ich bin die Arbeit ja nicht gewohnt. Ich halte gar nichts aus.«
Die Krüger lachte kurz auf. »Von wegen aushalten! Der Mensch hält noch ganz was anderes aus.« Sie trat dicht an den Zaun; mit der gebräunten Hand sich den Schweiß von der Stirn wischend, in die ihr ein paar gelöste Strähnchen des ergrauten Haares flatterten, sagte sie finster: »Ich habe im Blatt gelesen, was die draußen aushalten: Die liegen im Graben in lauter Schlamm, die Granaten fliegen nur so um sie nun – und da 'ne Hand, da 'n Fuß – 'n halber Kopf, 's pure Gehirn – das war mal 'n Kamerad und jetzt: bloß 'n Stückchen noch. Und sie müssen denken: Gleich bin ich nu dran. Nee, Frau Bertholdi, von uns hier drin darf kein einziger sagen: Ich halte was nich aus.
Und was glauben Sie wohl, was mein Gustav aushält! So weit in Gefangenschaft auf der wüsten Insel. Und denn nich mal schreiben dürfen! Und was halten unsere Verwundeten aus! All meine Birnen sollen die aber auch kriegen und all meine Äpfel. Die feinen Bärblang un denn die Kalwill – die waren immer so was für Gustaven. Nu, das nächste Jahr! Es is ja zu weit, schicken kann ich se ihm jetzt nich. Die kämen nich an.«
Ach, die kämen wohl niemals an! Die Stirn zusammenziehend, sah Hedwig Bertholdi der Krüger nach, die den schweren Korb mit der Last der Birnen ins Haus trug. Das Land, wo der Gustav weilte, das war fern der Erde, so fern, daß noch keiner von dort je wiedergekehrt. Hedwig schüttelte sich in einem geheimen Grausen: Und die Mutter glaubte so fest an sein Gefangensein auf Korsika. Er dürfe nicht schreiben, so nahm sie an – arme Mutter! Es fror Hedwig Bertholdi plötzlich in dem von der Sonne vergoldeten Garten – Oktobersonne, die wärmt doch nicht mehr. Sie eilte ins Haus zurück, an den Schreibtisch, sie nahm die Feder und schrieb in Hast: Zu ihr sollte Annemarie von Loßberg kommen. Und zwar bald – so rasch wie möglich. Sie war allein, das Haus geräumig, Berlin so nahe, sie würde dem jungen Mädchen gern alles zeigen, sich freuen, ihm Freude bereiten zu können. Nur kommen, rasch kommen sollte sie. Und das Lebensfrohe mitbringen, von dem ihre Mutter schrieb.
Hedwig fühlte sich erleichtert, als der Brief zur Post war. Sie rechnete nach: Morgen traf der Brief in Koblenz ein, übermorgen schon konnte sie Antwort haben.
Wenn Annemarie von Loßberg morgens in ihrem mullverhängten Bett unter der blauseidenen Steppdecke aufwachte, konnte sie sich noch immer nicht zurechtfinden: Wo war sie? Wie war das hier so schön und so bequem! Zu Hause hatte sie auf einem Sofa geschlafen bei der Mutter im Zimmer. Im Bett des Vaters durfte sie nicht liegen, Frau von Loßberg konnte es noch nicht ertragen, daß es benutzt wurde. Darin hatte ihr Mann gelegen zu guter und zu böser Zeit; daraus hatte er am Abend, ehe er ins Feld rückte, ihr die starke Soldatenhand entgegengestreckt: ›Sei tapfer, meine geliebte Frau!‹ Und als er den letzten großen Abschied nahm, hatte er ihr daraus wieder die Hand, ach eine jetzt so schwache Hand, hingestreckt: Sei tapfer!
Annemarie war achtzehn. Immer kann man doch nicht traurig sein. Und der Krieg mußte doch auch einmal ein Ende nehmen, und dann würde alles wieder gut. Daran, daß ihr Vater dann nicht mehr da sein würde, dachte sie nicht. Wenn die schlanke, gesunde Junge vorm Spiegel stand, lächelte ihr ein rosiges Gesicht mit strahlenden Augen entgegen; das Blaß, das der Kummer um den Vater und die knappe Zeit bei der Mutter darauf gelegt, war hier bald ganz verschwunden. Mit Schwärmerei sah sie zu Frau Bertholdi auf. Die war ihr das Ideal der großen Dame. Die trug so schöne Kleider, wie sie kaum welche gesehen – die Bekannten in Koblenz trugen sich viel einfacher. – Es kam ihr unendlich vornehm vor, so lange im Bett zu liegen und sich vom Mädchen frisieren zu lassen. Oft ruhte ihr Blick bewundernd auf Frau Bertholdis wohlgepflegten weißen Händen mit den spitzgeschnittenen blanken Nägeln und den vielen Ringen. Die Hände ihrer Mutter waren nicht so geschont gewesen, und außer dem Trauring war kein Schmuck daran. Die arme Mutter hatte sich immer sehr plagen müssen – schrecklich, wenn es nach was aussehen soll und ist doch nichts dahinter!
Jetzt überlief Annemarie oftmals ein leiser Schauder, wenn sie an manches zurückdachte. Nun, da sie das Behagen des Wohlstandes kennengelernt hatte, kam ihr manches, was ihr früher begehrenswert erschienen war, ja einzig-erstrebenswert: eine solche Heirat, wie ihre Mutter getan, furchtbar vor. Sie dachte an Heiraten, sie mußte daran denken, sie wußte: Ich habe nichts gelernt, und Geld habe ich auch nicht, ich habe nur mein hübsches Gesicht, meine schöne Gestalt und meine achtzehn Jahre. –
Hedwig verzog sie. Alles, was sie an Zärtlichkeit während ihres Alleinseins aufgespeichert hatte, schüttete sie über das Mädchen aus. Was für erbärmlich geschmacklose Fähnchen hatte Annemarie mitgebracht!
Und sie fuhr mit ihr nach Berlin und stattete sie aus, und alles mußte Annemarie sehen, und sie weidete sich an ihrem Entzücken. Nun war es fast, als ob kein Krieg wäre, und fast so, als ob sie wieder mit jung würde. Dieses Lachen des Mädchens, dieses tönende, sorglos-rheinische klangerfüllte Lachen!
Kein Brief ging ins Feld an die Söhne, in dem nicht von der ›Pflegetochter‹ ausführlich die Rede war. Was Annemarie dachte, was sie sagte, was sie tat, wie sie aussah, wie sie andern gefiel, alles war wichtig. ›Ein reizendes Mädel‹, schrieb Bertholdi, als seine Frau ihm eine Photographie einschickte. Auch an Heinz ging eine – ›Sieht famos aus‹, schrieb er. Und an Rudolf. Der erwähnte aber nichts weiter davon.
Und das kränkte die Mutter. Ach, ihr Jüngster hatte sich doch sehr verändert – überhaupt beide Söhne. Sie fragten kaum mehr: Wie steht es zu Hause? Sie waren dem ›Einst‹ völlig entrückt. Als ob es nichts anderes auf der Welt mehr gäbe als ›Unterstand, Schützengraben, Minen, Volltreffer, Handgranaten, Gasangriffe‹. Und mit einer Kaltblütigkeit, die sie wie Roheit berührte, beschrieb Rudolf, er, der keinem Tier etwas zu leide hatte tun können, der die Vögel im Winter gefüttert, der jeden Hund gestreichelt, das schreckliche Ende des Feindes, der in seinen Graben eingedrungen war.
Die Mutter sorgte: Zu lange schon waren sie aus der geordneten Häuslichkeit fort, es wurde Zeit, daß der Krieg aufhörte, damit die Söhne wieder zurückkehrten ins bürgerliche Leben, zu ihren Studien, zu ihren früheren Interessen. Es war ihr manchmal, als seien das ihre Söhne nicht mehr, an die sie schrieb, als seien es fremde Männer. Längst erwachsene, harte Männer, ihrem Einfluß, dem Einfluß alles Weicheren entzogen. Das waren die Jungen nicht mehr, denen der Abschied so schwergefallen war. Noch sah sie ihres Rudolfs junges Gesicht vor sich mit den Lippen, die so blaß geworden waren. Es hatte seltsam gezuckt in seinen Zügen – wollte er weinen? »Meine liebe Mutter« – er hatte die Arme nach ihr ausgestreckt, der Zug fuhr ab. Würde sie es denn noch einmal hören, ebenso weich und innig: »Meine liebe Mutter«?
Aber Annemarie, der sie die Briefe der Söhne vorlas, fand es ganz selbstverständlich. »Die müssen doch anders werden, sonst schaffen sie's nicht. Ich finde es herrlich so. Ich wünschte, ich könnte auch dabeisein!« Und sie fing ein Lied an zu trällern, das sie oft gehört, wenn die Soldaten an ihrem Haus in Koblenz vorbeimarschierten, wer weiß wohin, in den Krieg:
»Musketier seins lust'ge Brüder,
Haben guten Mut,
Singen lauter lust'ge Lieder,
Seins den Mädeln gut.
Fidera, fidera, fiderallalla!«
Rasend tobte die Champagneschlacht. Es kamen viele Züge durch mit Verwundeten, lange Lazarettzüge mit dem groß aufgemalten, weithin sichtbaren Roten Kreuz. Manche Nacht fuhr Hedwig Bertholdi jäh erschrocken aus dem Schlaf auf – ihre beiden Söhne standen im Westen –: Durch die tiefe Stille der Vorortnacht tutete die Dampfsirene vom Turm des Feuerwehrgebäudes ihr klagendes, schauerlich-hohles Signal. Es brannte nicht, es wurden Verwundete auch hier ausgeladen.
Die größeren Schüler waren zur Hilfeleistung aufgeboten; die Schülermütze schief auf den Knabenköpfen, am Arm die Samariterbinde, stürmten sie mit ihren Tragbahren zum Bahnhof. Manche Mutter sah ihnen angstvoll nach: Wenn der Krieg noch lange dauerte, kam auch ihr Junge noch daran. Zitternde Gebete stiegen auf zum nächtlichen Himmel. Der stand wunderbar friedsam und herbstlich hoch über der Erde. Er ließ seine Sterne geruhsam glänzen, wie klare Augen, die alles sehen und die nichts kann erschrecken.
Aber den Menschen gab das stille Leuchten da oben von seiner Ruhe nichts ab. Glaubte man nicht Gebrüll zu vernehmen, Gebrüll von Kanonen, Gebrüll von Menschen? Wimmern von Granaten, die in Stücke springen, und Wimmern von Menschen, die durch sie zerrissen werden? War die sonst hier so reine, ländliche Luft nicht voll von Pulverdampf, von erstickenden Gasen und Blutgeruch? Nein, bis hierher drangen nicht das Toben der Schlacht und ihre schaurigen Dünste, und doch war man mit dabei, mitten in ihr wie die in den Schützengräben und mitten zwischen den stürmenden Kolonnen. Mit all ihren Schrecken war die Oktoberschlacht bis hierher gekommen. Man wagte nicht frei mehr zu atmen: Kamen die Feinde durch? Es waren ihrer so viele: Franzosen, Engländer und all das schwarze Gesindel. Würde es ihnen gelingen, die Unseren zu überrennen?
Eine bohrende Angst kroch in die Herzen hinein wie ein Wurm und höhlte sie aus. Die, die nichts mehr zu verlieren hatten, starrten wehmütig auf die anderen hin; sie kannten es: Wer von jenen würde zuerst vergeblich auf Antwort harren? Wer bekam dann den Brief zurück: ›Auf dem Felde der Ehre gefallen‹? Beneidenswert die Mutter, die dann noch Näheres hörte, die erfuhr, wo ihr Kind gebettet war. Nicht allen ward es so gut.
Vor dem Anschlag am Bahnhof drängte sich stündlich die Menge. Von den bleichen Gesichtern las man die Unruhe ab: Schrecklich, dieses Fernab- und doch Mittendarin-Sein! Dieses fiebernde Haschen nach Nachrichten, dieses gierige Lauschen auf alle Gerüchte. Was konnte nicht alles geschehen sein zwischen heut und gestern, zwischen dieser Minute und jener! Minuten waren jetzt Ewigkeiten. Man sprach gedämpft.
Margarete Dietrich fehlte am Bahnhof nie. Sie las jeden neuen Anschlag und las ihn dann nochmals, als verstände sie ihn nicht recht, und dann kaufte sie sich die neueste Zeitung. Sie las die, ging ein paar Schritt weiter und kehrte dann nochmals zurück. Kam ein Verwundetentransport, so drängte sie sich dicht heran. Es half nichts, daß man sie zurückwies – ›Die Verwundeten dürfen nicht belästigt werden durch die Neugier des Publikums!‹ Man stieß sie, sie drängte sich doch wieder heran.
»Vielleicht, daß mein Bräutigam dabei ist – mein Bräutigam. Ach bitte, lassen Sie mich doch!« Mit weit geöffneten Augen sah sie jedem Soldaten ins bleiche Gesicht. Verzweifelt schüttelte sie dann den Kopf: »Das ist er nicht!«
Man hatte Mitleid mit ihr: Die suchte nach ihrem Bräutigam, die Arme.
Keine Nacht, in der Verwundete angezeigt waren, daß die Dietrich nicht am Bahnhof gestanden hätte. Sie wartete Stunde um Stunde, auf der untersten Stufe der Treppe stehend, die hinauf zum Ferngleis führte. Den Rücken lehnte sie gegen die Seitenwand, den Kopf streckte sie vor, unverwandt sah sie hinauf. Sie fröstelte in der zugigen Nacht.
So fand sie Gertrud Hieselhahn, die heute sehr spät, erst gegen Mitternacht, von Berlin kam. Sie war sehr müde, doch wer durfte jetzt danach fragen? Sie hatte den Ehrgeiz, es weiter zu bringen, nur nähen brachte auch zuwenig ein. So nahm sie nach der täglichen Arbeit noch den Abendkursus in einer Handelsschule. Sie mußte für den Winter eine größere Stellung finden, wenn sie mit dem Kleinen nicht hungern wollte.
»Mein Gott, Gretchen, du noch hier? Was machst du denn hier?«
»Ich warte.« Die Dietrich veränderte ihre Stellung nicht.
»Komm doch nach Haus!« Gertrud wollte sie mit sich ziehen. Das seltsam verstörte Gesicht erschreckte sie. »Ich bring' dich bis an deine Tür.«
Aber die Dietrich widersetzte sich, unsanft wehrte sie die Freundin ab. Sie wendete ihr nicht einmal den Blick zu, unverwandt starrte sie die Treppe hinauf.
Oben wurden ein paar Gestalten sichtbar. Auf den verschränkten Händen von zwei Samaritern sitzend, die Arme um deren Nacken gelegt, wurde ein an den Beinen Verwundeter die Treppe hinuntergeschafft. Die durch dicke Verbände zu Klumpen gewordenen Füße hingen schlaff herab, man sah blutige Tücher.
Die Dietrich stutzte, ihre Augen flackerten auf, Gertrud wegstoßend, stürzte sie plötzlich mit einem gellenden Aufschrei dem Verwundeten entgegen: »Da ist er!«
Der Verwundete hob für einen Augenblick den Kopf, der ihm auf die Brust gesunken war, sein müder Blick streifte teilnahmslos die auf ihn Zustürzende.
»Platz da!« Die Träger wurden grob. Der eine stieß mit einem Puff seiner Schulter die Dietrich zur Seite: Was sollte denn das heißen?
Sie kreischte laut auf: »Mein Bräutigam!«
»Ach was! Sie sind wohl nich ganz bei Trost, Fräulein!« Die Träger gingen ruhig mit ihrer Last weiter.
Nein, er war es nicht! Die Hände vors Gesicht schlagend, brach sie in Schluchzen aus.
Der nächtliche Bahnhof wurde lebendig: Was war denn hier los, wer schrie denn hier so? Neugierige kamen herzugelaufen. Vom Bahnsteig herunter kam der diensttuende Wachmann: »Was machen Sie denn hier für'n Radau!«
Die Dietrich hatte sich auf der Stufe der Treppe niedergekauert, sie war zusammengesunken. Der Wachmann faßte sie bei der Schulter: Ach so, das war ja die, die immer hier wartete! »Gehen Sie, gehen Sie«, drängte er gutmütig, »jetzt kommt kein Zug mehr, gehen Sie doch nach Hause!«
»Komm, Gretchen, komm zu!«, drängte auch Gertrud. Sie faßte die Schluchzende unter die Arme. Es gelang ihr, sie aufzuheben. Sie schritt rasch mit ihr fort. Sie wagte nicht aufzublicken, ein Gefühl der Scham trieb ihr das Blut in die Wangen: Es sahen ja alle Leute nach ihnen. Aber die andere im Stich lassen, das wollte sie nicht.