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Es wurden viele Briefe geschrieben zu dieser Zeit. Bangende, sehnsüchtige, liebevolle und verzweifelte Briefe. Verdun war etwas unbeschreiblich Hartes – die ›Hölle von Verdun‹. Um die, so in diesem Fegefeuer waren, bangten Tausende von Müttern, Gattinnen, Bräuten. Alles andere wurde klein dagegen. Es war merkwürdig, wie viele jetzt auch von denen starben, die doch ohne Gefahren zu Hause saßen: Die alten Leute konnten nicht recht mehr aushalten, die heimliche Qual des Wartens, des Ausharrens war zuviel für sie. Und auch Junge starben.
»Wissen Sie schon«, sagte die Dombrowski eines Abends zu Gertrud, als diese eben nach Hause gekommen war, »vorhin beim Fleischstehen hab' ich's gehört: mit Ihrer ehemaligen Freundin, der Dietrich, soll's ja nu zu Ende gehn. Na, die arme Person ins Irrenhaus!« Sie zog die Achseln bedauernd hoch. »Aber jetzt müssen ganz andere sterben.«
Gertrud hatte lange nichts von Margarete Dietrich gehört. Seit die in der Anstalt untergebracht war, hatte sie wohl im Vorübergehen ein paarmal bei der Mutter nach ihr gefragt, aber es war immer irgendein Feldgrauer im Laden gewesen, und die kleine Frau stand so verschüchtert und einsilbig hinter ihren Zigarrenkisten, daß sie nicht viel Näheres hatte erfahren können. Sie beschloß, gleich den nächsten Tag hinzugehen, da kam auch schon andern Morgen ein Brief.
Frau Dietrich schrieb: ›Geehrtes Fräulein! Man hat meine arme Tochter zu Unrecht eingesperrt. Sie tut doch keinem Menschen was, aber sie machen jetzt nicht viel Federlesens, und nun fühlt sich Gretchen so unglücklich da, sie wird nicht lange mehr dableiben, wollen Sie sie nicht noch mal besuchen? Morgen ist Sprechstunde, ich gehe hin, wenn Sie mich begleiten wollen, Gretchen wird sich sicher sehr freuen, sie spricht von Ihnen. Denn holen Sie mich Sonntag um zwei Uhr ab. Mit freundlichem Gruß Frau Dietrich.‹
Gertrud hatte Herzklopfen. Sie hatte für ein paar letzte erübrigte Groschen die ersten Kirschen des Jahres gekauft: rote, blanke, lachende Kirschen; nun stand sie, blaß und ernst, mit Frau Dietrich vor der Tür des Saales in der Frauenabteilung und preßte die Tüte mit dem teueren Einkauf achtlos an sich. Ihr war schrecklich zumute: im Irrenhaus, im Irrenhaus! Und doch sah es hier aus wie in jedem anderen Krankenhaus, nur daß die Fenster vergittert waren. Soldaten, statt in Feldgrau in blauweiß-gestreiften Anzügen, waren ihnen auf der Treppe begegnet; die gingen frei herum. Man merkte äußerlich nicht, was hier eigentlich war. Frau Dietrich wußte gut Bescheid, sie versäumte nie die Sprechstunde, derweilen schloß sie ihren Laden. Sie ging voran in den Saal, mit immer stärkerem Herzklopfen folgte Gertrud.
Die Wärterin trat ihnen entgegen. »Is nich mehr hier, Ihre Tochter«, sagte sie. Frau Dietrich erschrak. »Wir ha'm se aufs Separatzimmer gebracht. Erst war sie so unruhig – sie störte die anderen – nu is se ganz stille. Ja, ja« – die stämmige Person stieß einen dicken Seufzer aus –, »hier kriegt man allerlei zu sehn. Es tut mer leid um das Fräulein, sie war wirklich 'n gutes Mädchen. Aber der Krieg, der Krieg, der war ihr zu Koppe gestiegen. Kann er das denn nich?« Sie seufzte wieder. »Mein Mann ist auf der Männerabteilung – so viele Soldaten! Sonst ganz gesunde, junge Kerls. Es is 'n Jammer. Aber die Nerven, die Nerven, die leiden zu sehr.«
Frau Dietrich weinte leise.
»Na, na«, die Stämmige klopfte ihr auf die Schulter, »noch is se ja nich tot. Aber lange dauert's nich mehr, sagte schon gestern der Professor. Wir wundern uns, daß se heute noch lebt. Gönnen Se ihr doch die Ruhe!« Sie schob die Mutter zur Tür. »Gehn Se man, gehn Se man zu ihr rüber. Kennen wird se Ihnen wohl freilich nich mehr.«
Oh wie bleich, wie entsetzlich zusammengefallen! Kein junges Mädchen mehr, eine uralte Frau mit einem ganz winzig gewordenen Gesicht. Tief erschüttert beugte sich Gertrud über Margarete Dietrich.
Die lag still und wächsern, die Hände über der Brust gefaltet, als wäre sie schon tot. Sie schlief. Gertrud hatte es nicht acht, daß aus ihrer Tüte Früchte fielen: rote, blanke, lachende Kirschen. Sie waren nieder aufs Bett gefallen; da lagen sie wie lauter Sommer, wie Freude und Leben und Genuß.
Frau Dietrich war auf den Stuhl am Bett gesunken, sie weinte in ihr Taschentuch. Die Wärterin war wieder fort. Sie hatte die Tür hinter sich zugezogen, nun waren sie ganz allein mit der Kranken.
»Gretchen«, flüsterte Gertrud, sich tiefer niederbeugend. Sie fand keine Tränen, sie war zu entsetzt. Die Kranke hob die gefalteten Hände auseinander, wurde unruhig, seufzte – die Niedergebeugte fuhr zurück: Jetzt schlug sie die Augen auf. Erst wirrten sie umher; aber jetzt – das war ein ganz verständiger Blick.
»Kennst du mich?« Gretchen lächelte; ein Lächeln, was sich so Lächeln nennt: ein verzerrtes Ziehen der Mundwinkel. Aber sie schien sich zu freuen.
»Trudchen!«
Die war doch nicht verrückt, die erkannte sie ja, nannte sie gleich beim Namen! Gertrud bekam einen großen Schrecken. Wenn die wirklich zu Unrecht hier festgehalten wäre?!
Nun aber zog die so schwach Daliegende, der man nicht zutraute, einen Strohhalm heben zu können, sie plötzlich mit einer wahren Riesenkraft herunter. So tief, daß Gertruds Kopf auf ihrer Brust lag. Und tuschelte ihr ins Ohr: »Mein Mann ist gefallen – ich weiß nicht wo. Ich hoffe, sie haben ihn begraben, daß die Füchse ihn nicht anfressen. Daß die Krähen ihm nicht die Augen aushacken. Seine lieben Augen – oh!« Sie stöhnte.
Und dann stieß sie Gertrud von sich. »Weg, weg!« Ihre Hände suchten unruhig auf der Bettdecke, wilde Angst schien sie zu ergreifen; nun fing sie an zu schreien: »Mein Kind, mein Kind! Wo ist das? So ein liebes, kleines Kind! Wo ist es – mein Kind – weg, ihr da!« Sie stieß mit Händen und Füßen, sie bäumte sich auf und wollte aus dem Bett. »Wann kommt er, wann kommt er?« Ihr Schreien wurde immer lauter, es schüttelte sie wie Krämpfe und warf ihre Glieder wild durcheinander.
Die Wärterin steckte den Kopf in die Tür. »Nanu, was 's denn los? Aber Fräulein Dietrich!« Sie trat ans Bett, packte die Ungebärdige, legte sie platt hin und deckte ihr die Decke wieder ordentlich über. »Was für'n Radau! Benimmt man sich so, wenn man Besuch hat? Nehmen Se sich mal 'n bißchen zusammen, meine Liebe!«
Die Kranke keuchte, man sah durch die Decke, wie ihr Herz flog.
»Das arme Herz!« Die Wärterin legte eine Kompresse auf. »Das hält's nich mehr aus. So – sooo sind Se brav!«
Die Kranke war ganz still geworden, ermattet lag sie da, plötzlich ganz teilnahmlos; ein menschliches Gehäuse, aus dem die Seele genommen war wie aus einem Uhrgehäuse das Werk.
Die Wärterin suchte den Puls. »Sehr schwach, kaum zu fühlen. Setzt immer aus, wer weiß wie lange. Lassen Se ihr man lieber. Gehn Se nach Hause. Sie regen ihr nur auf.« –
Sie warteten noch eine Viertelstunde, aber die Kranke beachtete sie nicht mehr. Sie lag stumm da mit weit geöffneten Augen. Aber diese Augen schienen nicht zu sehen, was um sie war; blickten immerfort geradeaus und so, als spähten sie nach etwas, das kommen sollte.
Es machte Gertrud ganz trostlos. »War Gretchen denn immer so?« fragte sie zitternd die Mutter.
»Ich weiß es nicht. Mein Kind, mein armes Kind!«
»Kommen Sie, wir wollen gehen!« Gertrud drängte mit Mühe das Weinen zurück. Wenn die Arme doch schon hinüber wäre! Da lag sie nun und schaute aus nach dem, den sie erwartet hatte so lange schon: Es war der Tod.
Frau Dietrich streichelte über die schlaff herabhängende Hand der Tochter, sie drückte einen Kuß darauf. Dann gingen sie.
Als Gertrud diesen Abend im Bette lag, fürchtete sie sich. Sie hatte ihren Kleinen wohl bei sich, hielt ihn im Arm, aber das Kind war doch noch so gut wie niemand. Sie grauste sich vor der Einsamkeit. Eine lange Weile hatte sie das Licht noch brennen lassen, konnte sich nicht entschließen, dunkel zu machen, aber dann fiel ihr ein, daß es doch eine Verschwendung sei, jetzt in der Nacht Licht zu brennen, es kostete zuviel Geld. Und daran hätte sie am meisten denken sollen. Aber sie war ganz beherrscht von Furcht. Vor was fürchtete sie sich denn so? Draußen ging die Frühlingsnacht auf weichen Sohlen; es war ruhig und lind. Kein Wind wehte ums Haus; die Scheunentür klappte nicht, keine verrostete Angel quietschte. Es war eine friedvolle Nacht, eine Nacht zum Glücklichsein. Und Gertrud dachte zurück an Nächte, in denen er zu ihr gekommen war; poch, poch – leise hatte er an ihre Tür geklopft … horch, kraspelte nicht draußen etwas?! Es ging jemand über den Hof. Nein, niemand! Wie man sich nur so etwas einbilden kann! Das kam vom Denken und von dem Immer-allein-sein, da bildet man sich zuletzt alles mögliche ein. Gertrud hätte darauf schwören mögen, daß ein vorsichtiger Tritt übers Hofpflaster tappte. An der Scheunentür strich etwas vorbei, eine Hand fühlte tastend. Der Mond gab fahles Licht, er zitterte durchs Fenster. War es eine ziehende Wolke, die plötzlich einen so großen Schatten warf?
Sie unterdrückte einen Schrei: Stand da nicht etwas Dunkles vor ihrem Fenster, spähte hinein, duckte sich dann rasch nieder? Sie fuhr aus dem Bett, sie zog den Vorhang zusammen und steckte ihn noch mit einer Nadel zu. Die Erinnerungen sollten nicht herein, die Erinnerungen. Die machten sie ganz wirr und toll.
Ob Gretchen nun schon tot war? Ach, wenn sie doch ausgelitten hätte! Jetzt fühlte Gertrud erst recht, wie nah ihr dieses Schicksal ging. Das arme Geschöpf! Oh, wieviel arme Geschöpfe waren jetzt auf Erden! Aber mußte man denn gerade um Gretchen so verstört sein? Was hinterließ die denn groß? Nur eine alte, verängstigte, kleine Mutter. Da waren andere, die noch in der Fülle des Lebens standen, die so viel zurückließen, und denen ging es auch nicht besser. Alle nahmen ein klägliches Ende.
Mit zitternder Hand fuhr sich Gertrud über die heiße Stirn. Hatte sie Fieber? Ihre Pulse klopften, Schweiß lief ihr über den Körper. Aber sie war ja nie krank gewesen, nur ein einziges Mal in der Kindheit, als sie die Masern gehabt hatte; sie wurde auch jetzt nicht krank, das war nur die Aufregung über Gretchen. Und dann die Frühlingsnacht. Die war so schwül.
Es war eine beklemmende Luft in der Stube. Aber Gertrud getraute sich nicht, das Fenster zu öffnen. Da war vorhin doch jemand draußen gewesen und hatte hereingeguckt. Wer konnte das gewesen sein?! Die Dombrowski war längst nach oben gegangen; sie hatte Besuch. Heut war der aus Berlin gekommen, der Barbier. Daß der Kerl schon wieder auf Urlaub war! Gertrud fühlte eine Wut in sich aufsteigen – so eine Schande! – und zugleich eine große Angst. Und nun wußte sie, warum sie so unruhig war: Nicht um das arme Gretchen, das nahm ja nun der Tod in seinen Arm, sie war unruhig, weil sie einen da oben wußte. Herr Dombrowski hatte lange nichts von sich hören lassen, aber das letzte Mal hatte er etwas von ›Urlaub‹ geschrieben. Minka hatte es ihr gezeigt, vergnügt lachend: ›ihr guter Stani!‹
Horch! Gertrud setzte sich jetzt im Bette auf: Das war wirklich nicht auszuhalten, sie fühlte es ganz deutlich, draußen war jemand. Ob sie nach der Dombrowski rufen sollte? Die kam ja doch nicht. Die hatte sich's ein für allemal verbeten. Ob sie die schlafenden Kinder weckte? Was sollten ihr die? Sie nahm all ihren Mut zusammen. Wenn es einer war, der stehlen wollte, würde er davonlaufen, wenn er sah, daß er bemerkt war.
Sie öffnete das Fenster spaltbreit: »Wer ist da?« Keine Antwort. Alles totenstill. Der laue Atem der Frühlingsnacht wehte besänftigend um die heiße Stirn der Erregten. Sie streckte den Kopf vollends hinaus: ah, das tat gut! Jetzt merkte man deutlich, wie es wuchs, wie es dem Sommer zudrängte.
Von den Feldern kam der Duft satter, feuchter Erde; der ganze Hof war voll davon. Zwar war es nur der Geruch karger Ackererde; aber, gemischt mit dem Hauch des Kiefernwaldes, hatte er etwas Berauschendes. Es trank sich die Luft wie Wein, liebkosende Hände streckte die Nacht aus. Von dem Luch draußen im Acker, um den es im Feuchten üppiger grünte, kam jetzt ein langgezogenes schluchzendes Locken: Das war die erste Nachtigall.
Mit einem Seufzer schloß Gertrud das Fenster: Gott sei Dank, sie hatte sich doch wohl geirrt, es war niemand auf dem Hof! Was gab es denn auch hier zu stehlen? An dem alten Männeranzug – zerschlissener Rock, zerfranste Hose –, der an der Scheunentür baumelte, würde sich niemand vergreifen, der taugte nur noch, als Mann auf der Stange ins Feld gestellt, die Rehe und Hasen zu schrecken.
Sie hoffte jetzt endlich Schlaf zu finden. Aber kaum lag sie im Bett, so hatte sie doch wieder das Gefühl, draußen schleiche jemand. Dicht zog sie ihr Kind zu sich; als könne sie bei dem kleinen Körper Schutz finden, schmiegte sie sich an. Ihre Gedanken flatterten umher, sie waren wie aufgeschreckte Vögel, die bang zu einem Horst streben. Bald ließen sie sich da nieder, bald dort: Gretchen – Minka – der Mann – das tägliche Brot – Arbeit – Not – Krieg – der immer furchtbarer werdende Krieg. Nirgendwo ein bergendes Nest.
Gertrud hatte im Alltag ihres Lebens nicht mehr an Beten gedacht. Heute, jetzt, fiel ihr auf einmal wieder das Kindergebet ein, das sie hatte sprechen müssen, wenn die Mutter abends an ihrem Bette stand. Ganz brachte sie es nicht mehr zusammen, aber auch das Wenige beruhigte sie:
»Kranke Herzen heile zu,
Nasse Augen trockne du,
Alle Menschen groß und klein
Sollen dir befohlen sein!«
Es war doch einer auf dem Hof. Ganz leise tappte Herr Dombrowski. Der Soldat erfährt es nicht lange vorher, wann er Urlaub bekommt – wozu nun erst noch schreiben? Er war ja selber eher da. Was würde sich seine ›Minkerl‹ freuen! Die Reise war ihm zur Ewigkeit geworden. War das eine Lungerei und Saumseligkeit auf den Stationen, nicht zum Aushalten. Er konnte nicht mehr essen vor Erwartung. Geschlafen hatte er auf der Fahrt auch nicht; daran war aber nicht die harte Bank schuld und das gepferchte Sitzen zwischen anderen Urlaubern, er hatte in viel schlechterer Position, mitten im Geschützdonner in einer Gefechtspause, den Tornister noch auf dem Buckel, auf durchweichter, blutgetränkter Erde traumselig und fest geschlafen. Jetzt schmiegte er sich vergebens in die Ecke des Abteils und drückte die Augen zu. Seine Minkerl, seine Minkerl, wie würde die sich freuen! Die Kinder würden auch hübsch groß geworden sein. Aber an die dachte er kaum, die Frau verschlang all seine Gedanken. Wie hatte sie geweint, als er Abschied nahm, und so lange nachgewinkt! War es nicht eigentlich eine Gemeinheit, daß er sie so lange nicht hatte sehen dürfen?! Nun sollte das aber eine Glückseligkeit werden. Vierzehn Tage Urlaub! Schon fühlte er sie in seinem Arm.
Seine Augen waren vom Staub der Eisenbahn, vom langen Wachen und der Helle des Frühlings, die er im dunklen Graben nicht gewohnt war, verschwollen und rot entzündet, als er endlich in Berlin ankam. Er fühlte nicht, daß sie brannten, fühlte auch nicht den Hunger, der sich endlich meldete; mit dem letzten Zug der Vorortbahn fuhr er noch hinaus zu ihr. Es war schon spät, vom Turm der Kirche schlug es eins, als er auf den Hof tappte. Sie schlief. Das Häuschen war ganz dunkel. Ob er sie noch weckte? Sie würde sich sehr erschrecken, wenn es so spät klopfte. Er wagte es, in ein Fenster zu spähen: Er sah eine fremde Frau. Aha, sie hatte vermietet, das war tüchtig von ihr – ja, seine Minkerl!
Am Ende legte er sich doch besser in der Scheune nieder und wartete bis morgen früh. Er fand noch etwas verfaultes Stroh. Aber die sehnsüchtige Ungeduld ließ ihm keine Ruhe. Er umschlich das Haus, er konnte sich nicht entschließen, sie herauszupochen, aber vielleicht, daß sie ihn von selber hörte, das Fenster öffnete wie vorhin die Fremde, und fragte: ›Wer ist da?‹ Dann – oh, dann!
Wenn ein Steinchen unter seinem Fuß knirschte, oder ein Mörtelstückchen von der Wand, an der er jetzt entlangstrich, abbröckelte, freute er sich: Vielleicht, daß sie ihn jetzt hörte. Gut, daß die Fremde ihn nicht gesehen hatte, überraschen wollte er seine Minka ganz und gar. Er hörte schon den hellen Schrei, den sie ausstieß; sie überschüttete ihn mit Zärtlichkeit. Es überlief ihn heiß und kalt.
Er hatte sich nun doch eine Weile aufs Stroh in der Scheune hingestreckt, fern schlug es zwei, als es ihn wieder aufriß. Die Nachtigall hatte ausgeschluchzt, jetzt quakte ein Frosch sein Liebeslied. Aber pochen würde er nicht. Sie lag im Bett, er würde einsteigen zu ihr, aber nicht durch die Tür – Minkerl, Minkerl, seine schöne junge Frau! Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Da unten im Zimmer wohnte die Fremde. Ein Fenster weiter – er schlich und spähte hinein: zwei Kinderbettchen. Er war enttäuscht. Die Küche hatte eine vergitterte Luke. Halt, sie schlief gewiß oben im Mansardenstübchen! Darin hatte er gehaust, allemal wenn sie in Wochen war. Hinauf zu ihr!
Wie eine Katze klomm er an der Dachrinne empor; mit den Füßen sich in eine Mauerritze klemmend, hing er in der Schwebe am Fenstersims. Das Fenster stand offen – er schaute hinein. Es war gerade hell genug. Er sah.
Das war der helle Schrei, den er sich ersehnt hatte. Und doch nicht der Schrei.
»Tu mir nichts!« kreischte Minka. Sie war aufgewacht von dem Plumps, mit dem er ins Zimmer sprang; sie hatte sofort ihren Mann erkannt. Nun suchte sie ihm die Arme festzuhalten.
Aber er stieß sie beiseite, er packte den andern: »Verfluchter Hund!« Sie rangen.
Der Überraschte fühlte, es ging um sein Leben, und das gab ihm Riesenkraft. Er stieß den Angreifer zur Seite; der war schwach, die Arme hatten jetzt nicht Kraft, nicht Mark, und er hielt sich nicht auf den Füßen, taumelte von dem wuchtigen Stoß und stürzte der Länge nach hin.
Ehe Dombrowski sich wieder aufraffen konnte, war der andere schon bei der Tür, riß sie auf, schlug sie hinter sich zu, rannte davon wie er war, im bloßen Hemde, ließ alles im Stich.
»Tu mir nichts, tu mir nichts!« Die Frau fiel vor dem Mann nieder. Jetzt würde er sie totschlagen, der andere war ja fort. Im Morgendämmer sah sie seine wilden Blicke rollen. Oh, wenn er so mit den Augen rollte, dann war es aus und vorbei!
»Stani, Stani, ich tu's nie mehr wieder! Nee, nur dies eine Mal, dies eine einzige Mal, gewiß und wahrhaftig nur dies eine Mal!«
Er sagte noch immer nichts, er schlug auch nicht zu. Das war ihr unheimlich, erfüllte sie mit noch größerer Angst. Sie sprang auf die Füße, sie flüchtete hinter das Bett. Mit einem Wimmern duckte sie sich da. Sie schluchzte herzbrechend: »Warum warst du auch so lange fort? Ach Gott! Und so 'ne Sehnsucht! Da kam er – was die alles reden – ich hab nich gewollt, nee, bei Gott nich – ich hab gar nich dran gedacht – auf der Stelle will ich sterben, wenn das nich wahr is! Andere sind längst mal auf Urlaub gekommen – nur du nich!«
Sie faßte Mut. Hinter den Händen, die sie sich vors Gesicht hielt, blinzelte sie nach ihm: Seine Augen rollten nicht mehr, er hatte sie zugedrückt, das Gesicht verzogen, als hätte er Schmerzen. Nun wagte sie es, zu ihm hinzurutschen, sich an seine Beine zu drücken, wie eine Katze sich anschmiegt, die schmeicheln will.
»Alle waren sie schon hier, was meinste wohl, alle bei ihren Frauen!« Er erzitterte unter ihrem Anschmiegen. Ihre Hände streichelten an ihm auf und ab, ihre nackte Brust preßte sich an seine Knie, ihre gelösten Haare fielen auf seine Füße. Sie fühlte sein Zittern, und das machte sie keck: Sie hatte doch noch immer ihre Macht. »Warum bist du denn nich auch gekommen – ach Stani, so lange nich! – Du hast mich schön sitzen lassen. Siehste, das kommt nu dervon!«
»Kanaille!« Er hob die Faust, er gab ihr einen Tritt, daß sie umfiel.
Sie glaubte in seiner erhobenen Faust ein Messer blinken zu sehen und sprang mit einem gellenden Schrei auf die Füße: Totstechen wollte er sie, totstechen! Sinnlos vor Angst kreischte sie: »Er macht mich tot, macht mich tot«, und stürzte, immer schreiend, die Treppe hinab.
An die Tür von Gertrud Hieselhahn hämmerte sie mit beiden Fäusten: »Auf, machen Se auf, er macht mich sonst tot!«
Gertrud war eingeschlafen gewesen, sie hatte im Traum das Lärmen gehört, das paßte hinein. Sie träumte vom Krieg. Gustav und einer im Stahlhelm kämpften ums Leben – nun war's doch Wirklichkeit und an ihrer Tür. Sie war wie gelähmt.
»Er macht mich tot! Er macht mich tot!« Das war der Dombrowskis Stimme. Es war ihr sofort alles klar: Der Mann war nach Hause gekommen! Von Entsetzen gejagt, sprang sie aus dem Bett, riegelte die Tür auf und riß die Halbnackte herein.
Nun lauschten sie beide, dicht aneinandergedrängt. Nebenan begannen die Kinder sich zu rühren. Noch waren die nicht ganz wach geworden, sie schliefen sorglosen Schlaf, man hörte, wie sie sich jetzt in den Betten warfen.
»Er macht sie auch tot, macht sie auch tot! Oh Fräulein, haben Se auch fest zugemacht, kann er nich rein?« Zitternd wimmerte das Weib, es hängte sich an Gertrud: »Fräulein, retten Sie mich! Mein Mann, oh Jesus, mein Mann! Er is drüber zugekommen – so'n Pech! Und wenn er nu 's Fenster hier einschlägt?!« Sie hatte einen scheuen Blick nach dem Fenster geworfen, nun flüchtete sie hinter den Schrank. »Sagen Sie ihm doch, er soll mich bloß nicht totmachen – ach, bloß nich tot!«
Gertrud sagte: »Still doch!« Sie war zu Tode erschrocken. Nun horchte sie: Ließ sich etwas hören, kam Dombrowski die Treppe herunter, verfolgte die Frau bis hierher? Es blieb alles still. Was machte er nun? Hielt er den Liebhaber oben gepackt, würgte er ihn ab? Sie lauschte auf ein Getrampel, lauschte auf einen Schrei. Aber nur das Wehen des nahenden Morgens war zu vernehmen. »Wo ist denn der andere hin?« fragte sie.
»Der is ja fort«, wimmerte die Dombrowski. »Oh, so'n Kerl! Der soll mir noch mal kommen! Fortgelaufen is er, anstatt mir beizustehn. Ach Fräulein, Fräulein, hören Sie nichts?«
»Ich höre nichts.« Gertrud öffnete ein wenig die Tür und lauschte hinauf. Vor Herrn Dombrowski hatte sie keine Angst – der unglückliche Mann! Sie fühlte ein grenzenloses Mitleid.
Aber die Dombrowski fuhr jetzt hinterm Schrank vor und schlug hastig die Tür wieder zu. »Um Gottes willen, Fräulein. Sie kennen ihn nich. Wenn der fuchtig wird! Der murkst Sie un mich ab.« Sie zerrte Gertrud von der Tür fort. »Je, je« – sie fuhr sich in die Haare –, »daß er auch gerade drüber zukommen mußte. Nee, aber auch so'n Pech! Und er tut mir doch leid – ach, Fräulein, was tut er mir leid!« Sie weinte bitterlich.
»Gehn Sie doch zu ihm«, sagte Gertrud, »bitten Sie ihn!«
»Wo denken Sie hin! Nee, das kann ich nich!« Zitternd drückte sich die üppige Frau an das schlanke Mädchen. »Fräulein, Sie sind mein einziger Trost. Was finge ich an, wenn ich Sie nich hätte! Ach, ich armes Weib! Ach, Fräulein, Fräulein!« Sie war ganz aufgelöst vor Schmerz, die Zähne schlugen ihr aufeinander. Gertrud ließ sie sich in ihr Bett legen. Da kuschelte sich die Dombrowski ein neben dem Kleinen; sie zog die Decke hoch, daß sie nichts sah und hörte.
Gertrud stand noch lange lauschend: War das eine schreckliche Nacht! Sie fror vor innerem Grauen, vor Furcht, Abscheu und Mitleid mehr als vor der Kühle des Morgens. Zuletzt, als sich noch immer nichts hören ließ, streckte sie sich neben dem Weibe nieder. Sie hatten das schuldlose Kind zwischen sich.
Die Dombrowski schlief längst, da wachte Gertrud noch immer. Von Herrn Dombrowski war nichts zu hören, seinetwegen hätte sie schlafen können. Aber eine Stimme war in ihr, die rief in einem fort: ›Krieg, Krieg, auch das ist der furchtbare Krieg!‹
Herr Dombrowski war seinem Weibe nicht nachgestürzt. Leicht hätte er die Frau einholen können, mit einem Satz, sie packen, würgen, strafen für ihre schamlose Untreue, für ihren Verrat. Als sie gekreischt hatte: ›Er macht mich tot!‹ war es über ihn gekommen wie Befreiung. Nein, das wollte er nicht! Wenn er sie gepackt hätte, das fühlte er wohl, hätte er sie auch nicht mehr losgelassen lebendig.
Seine Knie wankten, er fuhr sich nach der Stirn: Träumte er das nicht alles? Lag er nicht noch im Schützengraben? Da hatte er einmal einen der Eingedrungenen an der Gurgel gepackt gehabt – schon quollen dem die Augen heraus, schon bleckte die Zunge – genauso, genauso wie jetzt war ihm damals zumute gewesen. Eine wilde Mordlust hatte ihn gepackt: Ob er ihr nicht doch nachlief? Sie konnte ihm nicht entrinnen. Wenn er es wollte, entkam sie ihm nicht. Ihre langen Haare würde er sich um die Linke schlingen, sie daran festhalten, ihr mit der Rechten in das verlogene Gesicht schlagen – für jede Lüge einen Puff – mit der Faust auf die Nase, auf den Mund, auf die Augen. Blut quoll – das war alles ganz gleich – ihr Gesicht war wie Brei, sie war die schöne Minka nicht mehr. ›Willst du mich noch einmal hintergehn, du Kanaille?!‹ – Puff – puff. Er warf sie zur Erde, er trat auf ihr herum, seine Stiefel hatten schwere Nägel. Sie atmete nicht mehr, und er –?! Der erste rote Morgenstrahl war durchs Fenster gefallen – er stand vorm Spiegel mit erhobener Faust. Nun sah er sich darin. Der Spiegel war nur klein, halbblind das Glas, aber er zeigte genug.
Er stand allein im verwüsteten Zimmer; schwerfällig den Kopf wendend, sah er langsam hinter sich. Da das zerwühlte Bett, ein umgestürzter Stuhl, verstreute Kleider – und hier, hier, ganz allein, er, Stanislaus Dombrowski, der Urlauber.
Oder war der es nicht? Wie ein Irrer schüttelte der Mann den Kopf: Das war der Dombrowski doch nicht?! Einer war ausgezogen von hier, der hatte braune Haare, einen braunen Schnurrbart. Aber der Kerl da im Spiegel war ja so grau, ganz grau – wer war das?
Er brachte sein Gesicht näher ans Glas, er sah sich selber und prallte zurück, ganz entsetzt: ein alter Kerl! Eisgrau an den Schläfen, das Gesicht verfurcht. Was hatte er doch für hundert und hundert Schrumpeln! Und so mager am Hals! Wie bei einem alten Gockel der Hautlappen, so hing ihm der Kehlkopf. Der feldgraue Rock schlotterte. Und so ein Mannsbild, so ein alter Kerl – vergraut, verstaubt, verschrumpelt – so einer, ja was wollte denn so einer hier? Paßte der zu der schönen Minka, der jungen Frau?
Herrn Dombrowskis blutunterlaufene Augen zwinkerten, er verzog das Gesicht, als wollte er weinen. Ein gequälter Laut, Schluchzen und Lachen zugleich, entrang sich seiner vertrockneten Kehle. Was sollte denn werden? Er hatte plötzlich Mitleid mit ihr. ›Mach dich fort, mach dich fort‹ sagte etwas in ihm. Ja, das war das beste, er ging wieder fort, ging, woher er gekommen war. Lieber wieder im Schützengraben. ›Zu Hause war's nicht schön‹, würde er sagen; sie würden ihm glauben, vielleicht auch nicht. Es war schon manch einer eher wiedergekommen, als der Urlaub zu Ende gewesen. So ein alter Kerl, so ein alter Kerl! Er stierte noch einmal sein graues Spiegelbild an und nickte tiefsinnig. Dann schwang er sich aus dem Fenster. Ohne Geräusch glitt er an der Mauer hinab.
Die Nacht war zu Ende. Im Morgenrot schwammen die Felder in rosa Duft, trillernd stieg eine Lerche vom Ackerrain und wirbelte empor zum erglühenden Antlitz der Sonne.