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Die vom weißen Kalkstaub der Champagne wie die Müller bemehlten Männer hatten ausgelitten, nun hatte es Ruhe da gegeben. Die Feinde waren nicht durchgekommen. Gott sei Dank! Ein Aufatmen ging wie frische Erhebung durch alle Seelen. Was machte es nun, daß der Winter gekommen war und mit ihm Kälte und Grau? Man glaubte bestimmt, jetzt hoffen zu können, und hoffen macht warm und auch hell. Im Frühling war der Krieg zu Ende, nur noch bis dahin Geduld!
Man fing jetzt an, den Krieg recht zu spüren. Nicht, daß man nicht schon längst viel erduldet hätte, aber das große Leid war ein Geschick gewesen, gewaltig gleich dem Donner des Himmels, vor dem die Kreatur sich schweigend duckt; jetzt kam das kleine Leid mit Nadelstichen. Mehl und Brot wurden knapp. Kartoffeln im Brot, das schmeckte nicht; man wurde auch nicht so satt davon. Daß man nicht soviel Brot haben konnte, wie man wollte, schürte den Hunger.
›Es geht aber immer noch‹, schrieb Frau von Voigt an ihren Mann. ›Ich selber spüre die jetzigen Entbehrungen nicht, sie dünken mich noch klein. Ich bin ja so dankbar, daß Du mir bewahrt bliebst und daß Ihr jetzt in Ruhestellung seid nach der gewaltigen Anstrengung in der Champagne. Es gibt jetzt Stunden, in denen ich wieder freier atmen, sogar einmal froh sein könnte, aber Lilis Geschick drückt mir zu schwer auf die Seele. Rossi ist seit Wochen ständig in Gefechten an der Tiroler Front; er schreibt ihr selten.‹ –
Lili lag heute auf ihrem Sofa, sie fieberte leicht. Des deutschen Winters war sie zu lange entwöhnt gewesen, die ewige Naßkälte hatte ihr Husten und Schnupfen gebracht. Und der graue Himmel machte sie schwermütig. Ach, nur ein bißchen Blau, ein bißchen wärmende Sonne – und einen Brief!
Die letzte Nachricht ihres Mannes war vom Ende Oktober gewesen. Nun hatten starke Gefechte an der Grenzbrücke bei Schluderbach stattgefunden. Ach, sie erinnerte sich dieser Brücke so genau!
Sie schloß die Augen. Es zeigten sich allerlei Bilder vor ihr. Da war sie mit den Eltern gefahren an einem wunderlichten Sommertag, doppelt hell und rein nach dem Gewitter des vorherigen Tages. Sie hatte laut gejauchzt vor Lust – oh, sie erinnerte sich wohl: Sie sah sich selber im Wagen stehen, sie war aufgesprungen, die Arme hatte sie ausgestreckt vor Entzücken. Die Pferdchen trabten munter, das Gebirgswasser unten stürzte, silberigen Schaum versprühend. Die riesigen Lärchen dufteten, wie Opferrauch stieg es von ihnen auf zum Himmelsblau. Schmetterlinge schwebten dem Wagen vorauf, es war alles so heiter, so strahlend im engen Tal, selbst die Zinnen mit dem leichten Neuschnee, die schroff über das Tannengrün ragten, sprachen von ewiger Lust. An der Brücke, wo die Straße so steil ansteigt, war sie abgesprungen. Sie schritt neben dem Kutscher her. Zart tänzelte dessen Peitsche auf dem Pferderücken, es tat den Gäulen nicht weh – wer könnte heute und hier der geringsten Kreatur ein Leid antun! Und jetzt –?!
Ein Schauer durchrüttelte Lili. Sie fror, sie kroch tiefer unter die übergebreitete Decke. Da kämpften ihr Mann jetzt und seine Soldaten. Ob sie von den Steinhalden herabschlichen, sich versteckt hielten unter den überhängenden Lärchen? Oder ob sie aus dem Bachbett heraufkrochen, sich anklammerten mit Händen und Füßen? Ob es Tag war? Oder Nacht? Man wußte es nicht. Schwarz lastete der Himmel, umdüstert von Dampf und Rauch. In einem Schrund des Berges hing es wie eine Wolke – da war irgendwo ein Maschinengewehr aufgestellt, seine Schüsse rasten die Schrunnen hinunter. Oh, wie das knatterte! Sie hielt ihre Hände an die Ohren. Hätte sie nur nicht so viel in den Zeitungen gelesen! Da wurden die Kämpfe so geschildert, daß es ihr war, als wäre sie selber dabei. Und doch litt sie ja nur den hundertsten Teil von dem, was ihr Mann durchmachen mußte – übermenschliche Anstrengung, stete Todesgefahr. Nein, nein, sie litt tausendmal mehr!
Unruhig warf die Fiebrige den Kopf hin und her. Hatte er wohl eine Ahnung von dem, was ihre Seele durchwühlte, ihre Wünsche hin und her zerrte, ihre Hoffnung auf und ab schnellte? Der Mann weiß nicht, was die Frau leidet – nie –, und was sie litt, das machte keine andere durch. Wenn sie Italienerin wäre oder er Deutscher, dann würde sie ja nur um sein Leben zittern, jetzt zitterte sie in einer noch höheren Qual. Sollte sie den Verteidigern den Sieg wünschen oder den Angreifern? Drüben stand ihr Mann, den sie einst so sehr geliebt – ach, den sie ja noch immer sehr lieb hatte –, hier war ihr Vaterland, mit dem sie verwachsen war, Wurzelfaser in Wurzelfaser, so eng ineinander verschlungen, daß es ›eingehen‹ heißt, macht man einen Schnitt. Daß sie das früher nicht geahnt hatte, wie sehr sie am Vaterland hing! Da war ihr das andere Land viel schöner erschienen, seine Schätze reicher, seine Menschen liebenswürdiger. Aber jetzt?! Ihre Hände ballten sich, ein Ausdruck der Empörung straffte ihr weiches Gesicht. Sie sprang vom Sofa auf und schleuderte die wärmende Decke von sich: Genug jetzt! Mochte das treulose Land zugrunde gehen, seine Männer – plötzlich schreckte sie zusammen. Hatte sie etwa laut gerufen?
Es klopfte. Ihr Mädchen kam herein. »Die Post, gnädige Frau!«
Die Witwe Krüger unten hörte einen lauten Schrei. Nur einen kurzen Aufschrei, aber so entsetzt, so wild, wie in höchster Todesnot ausgestoßen. Das kam von oben! Sie lief auf den Flur. Da polterte auch schon das Mädchen die Treppe herunter: »Die gnädige Frau, ach Gott, die gnädige Frau!«
Oben lag die junge Frau am Boden, sie war umgefallen. Es war zu jäh gekommen. Als ihre Hauswirtin ins Zimmer trat, richtete sie sich aber schon wieder auf. Nein, sie war nicht ohnmächtig, sie wollte nicht ohnmächtig sein. Sie war schon wieder ganz bei sich. Mit einer stumm Ruhe heischenden Gebärde wies sie die aufheulende Dienstmagd von sich. Wie einer, der blind geworden ist, aber noch nicht zeigen will, daß er nicht sehen kann, tappte sie nach dem Brief, den ihr eben die Post gebracht hatte. Er war ihr entfallen.
Nun hielt sie ihn wieder in der zitternden Hand. Und auf schwankenden Füßen mitten im Zimmer stehend, las sie ihn nochmals mit hastig fliegenden Augen, mit dem Ausdruck eines so schmerzvollen Entsetzens in den Zügen, daß das Herz der Krüger – kein Herz, das gleich weich wird – vor Mitleid zuckte: die auch, die auch?! So jung und so schön, und doch auch, doch auch!
Die von der Arbeit rauh gewordene Hand der Krüger streichelte den Ärmel des weißen Morgenkleides: »Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch!« Sie drückte die junge Frau aufs Sofa nieder, blieb dicht neben ihr stehen, sich aufreckend, als könne sie so mit ihrer breiten Gestalt das Unheil noch aufhalten.
Mit einem herzzerreißenden Lächeln sah die junge Frau zu der alten Frau auf: »Mein Mann ist gefallen.«
Die Alte lächelte zurück: »Und mein Sohn ist gefangen. Ich sehe ihn aber wieder. Sie sehen Ihren Mann auch wieder!«
Die Krüger wagte es, ihre Hand auf den blonden, tief sich senkenden Kopf zu legen. Ein geheimnisvolles Leuchten ging über ihr Gesicht, dessen Alltäglichkeit veredelnd. Etwas wie zuversichtliche Andacht, wie unbedingte Gläubigkeit war in ihrer Stimme: »Sie sehen ihn wieder – ich sehe ihn wieder. Man weiß nur nicht: wann!«
Der Leutnant Rossi war gefallen. Gerade, als er, mit seinen Leuten anstürmend: »Avanti!« gerufen hatte. Ein Geschoß war ihm in den Mund gefahren, sein armes Haupt zersprengend. Sie hatten das, was von ihm übriggeblieben war, auf der kleinen Matte am Monte Pian beigesetzt, wo schon viele brave Soldaten lagen. Sein Heldenblut war nicht umsonst geflossen, durch den Tod ihres Führers zu höchster Leistung angestachelt, war den Alpini das gelungen, was sie seit Wochen vergeblich angestrebt: Sie hatten den Feind von der Grenzbrücke zurückgedrängt, die stark befestigte Stellung genommen. Das teilte ein Kamerad, der zweite Leutnant der Kompagnie, der jungen Witwe mit.
Der Brief hatte sehr lange gebraucht, bis er auf Umwegen in ihre Hände gelangte. Schon zwei Tage, nachdem er zuletzt an sie geschrieben hatte, war Rossi gefallen – ach, und sie hatte in Gedanken noch mit ihm gehadert, ihn und sein treuloses Land verwünscht – oh Gott, nicht ihn, nein, nicht ihn! Nur sein Land. Ach, ihr armer Enrico! Sie las seine Briefe immer und immer wieder und weinte über ihnen. Wie hatte nur manches darin sie je verdrießen können?! Jetzt fand ihre Seele sich wieder ganz zu ihm, klammerte sich an sein Andenken; ihr war, als müsse sie ihre Augen zupressen vor all den Geschehnissen der Welt, ihre Ohren verstopfen. Nichts sehen und hören mehr, nur ihn. Was ging sie die Zwietracht der Nationen, der Haß der Völker an? Ihr eigenes Schicksal füllte sie ganz aus. Und ihr Schicksal war der Mann, der geliebte Mann. Keine Stunde hatte er ihr trübe machen wollen, und nun mußte sie doch so viel weinen um ihn. Er verklärte sich in ihrem Schmerz, wurde mehr, als er selbst je geahnt hatte. Sie fragte jetzt nicht mehr danach, daß er für Italien gekämpft hatte, jetzt sah sie in ihm nur den Helden, der sein Leben zum Opfer gebracht hatte für eine große Sache. Es erfüllte sie mit Stolz, daß sein Freund schrieb, er wäre demnächst Hauptmann geworden, und die Auszeichnung, die des Lebenden Brust nicht mehr hätte schmücken können, sei dem Toten mit unter die Erde gegeben worden. Seine Soldaten hatten um ihn geweint; Vorgesetzte und Untergebene würden dem Tapferen ein ehrenvolles Andenken bewahren.
Mit ihrer Mutter konnte Lili nicht so über den Toten sprechen, wie sie an ihn dachte. Ihr war, als erschiene dann ein Zug auf der Mutter Gesicht, ein Zug, den sie sich deutete: Abwehr.
Und sie hatte recht gesehen. Sosehr Frau von Voigt mit ihrer Tochter trauerte, so konnte sie doch nicht anders, als sich sagen: Dies war eine Lösung. Der italienische Traum war ausgeträumt. Lili war noch jung, wollte Gott, daß sie noch einmal ein neues Leben beginnen könnte!
Und die Tochter fühlte: Wäre der Gefallene ein deutscher Offizier gewesen, der Schmerz der Mutter wäre doch noch anders. Und Lili zog sich ganz in sich zurück.
Stundenlang saß sie am Fenster, die Hände im Schoß, und sah träumend hinunter auf den Hof. Wer doch alles so gelassen hinnehmen könnte wie die Frau da unten! Die ging immer zur selben Stunde ihre Hühner füttern, die Kaninchen und die Ziege. Die Tiere kannten sie. Wenn die Hühner, die jetzt, solange der Frost noch nicht einsetzte, im winterlich-kahlen Garten scharren durften, den ersten Tritt der derben Lederpantoffeln auf dem Pflaster des Hofes klappern hörten, stürzten sie eilig herbei. Dann kam etwas wie ein Lächeln auf das verfaltete Gesicht der Krüger. Und das Lächeln blieb, wenn sie der meckernden Ziege das Heu in die Raufe steckte, und es wurde noch stärker, wenn sie zum Kaninchenstall trat.
Lili sah die weißen und schwarzweiß-gefleckten Tierchen hinter ihren Drahttüren hopsen. Die Krüger hielt sich immer lange bei ihnen auf. Daß die nicht fror! Der erste Schnee war gefallen. Aber sie stand wohl eine halbe Stunde in ihren Pantoffeln in gebückter Stellung bei dem niedrigen Ställchen, streckte ihre Hand hinein und streichelte die Tiere. Wie arm muß man geworden sein, um sich so mit dummen Kaninchen zu befassen! Ein mitleidiger Ausdruck glitt über Lilis Gesicht. Als die Krüger sich eines Tages mühte, Strohmatten um den Stall zu nageln und nicht gut allein damit fertig wurde, ging Lili hinab, um ihr zu helfen. Sie waren ja alle beide arm.
»Das ist ›Schneeweißchen‹«, sagte die Krüger. »Und das ›Rosenrot‹.« Sie hatte das Türchen geöffnet. Zwei schneeweiße Kaninchen, herrliche Tiere mit langen seidigen Haaren, kamen gleich heran, drückten den Kopf mit den zartrosa Ohren zu Boden und wollten geliebkost sein. Wer hätte gedacht, daß die rauhe Hand so sanft streicheln könnte!
»Die wollen immer gekrault sein, da lassen sie Kartoffel und Grünes for stehn«, sagte die Krüger; es war wie Zärtlichkeit in ihrer Stimme. »Mein Gustav hat immer Kaninchen gehabt, als er noch 'n Junge war. Die hat er so gerne!«
Schneeweißchen und Rosenrot! Die junge Frau nickte: Die kannte sie noch aus dem Märchen her. Als sie ein Kind war. Wie wunderschön war das gewesen, wenn sie an solch kaltem Abend wie heute im warmen Kinderzimmer saß auf dem kleinen Stuhl und die Mutter ihr vorlas! Schneeweißchen und Rosenrot, das alte deutsche Märchen. Sie lächelte, es zog ihr hold durch den Sinn. Unwillkürlich lockte es sie, auch sie mußte die Hand ausstrecken und die Tiere streicheln. Wohltuend warm strömte es von dem seidigen Fell in ihre kalten Finger. Schneeweißchen und Rosenrot hielten ganz still, ihre roten Augen blinzelten nicht. Verzauberte Tiere – was die wohl dachten?
Lili neigte den Kopf und legte ihre Wange auf das weiche Fell. Schneeweißchen und Rosenrot – nun war sie wieder im Kinderland, da gab es kein Leid, das über Sonnenuntergang währt, keinen unauslöschlichen Kummer.