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Die Glocke der roten Backsteinkirche läutete. Die Kirche stand mitten im alten Dorf, aber das Dröhnen ihrer Glocken klang über die neuen Villenstraßen hinaus weit in die Felder. Warum läutete es? Wieder ein Sieg? Um diese Mittagsstunde fanden keine Beerdigungen statt; es war wohl ein Sieg. Aber wo?
Gallipoli war gesäubert, die Engländer abgezogen von den heiß umkämpften Dardanellen; die türkischen Verbündeten hatten sich tapfer gewehrt, unter großen Verlusten hatten die Feinde sich einschiffen müssen, es war ruhig geworden da, Stille des Todes; was der Halbmond nicht erwürgte, das hatten die Seuchen erwürgt. Die Geschütze schwiegen, nur Aasgeier krächzten am verlassenen Strand. Und im Westen war es auch ruhig: nur kleine Artillerie- und Minenkämpfe, hier einmal ein Grabenstück gewonnen, dort eins wieder verloren; das ging so hin und her wie Ebbe und Flut. Auf dem östlichen Kriegsschauplatz in Galizien und an der Bessarabischen Grenze waren die Russen überall abgeschlagen, mehr als zweitausend ihrer Leichen lagen letzthin vor der Front. Die Russen hatten freilich Menschen, Menschen ohne Zahl; Heuschreckenschwärmen gleich, die die Luft verdunkeln, kamen ihrer immer neue und neue. Ein entscheidender Sieg konnte auch da nicht sein. In Wolhynien, am Dnjestr und bei Czartorisk – wer konnte die Namen alle behalten – überall das gleiche. An der Tiroler Front, zwischen den Bergen, starrend von Eis und Schnee, legte der Winter den Krieg lahm; ab und zu einmal im Görzischen oder unten am Gardasee ein Geschützgeknatter der Italiener. Nur in Montenegro ging es lebhafter zu. Da stürmten die kaiserlich-königlichen Truppen gegen den winterlichen Karst. Der Lovcen, der, stark befestigt, die vom Meer schier unüberwindbar scheinende, steil ansteigende Mauer des Gebirges krönt, war genommen – sollte es am Ende schon für Cetinje läuten?
Auf der Redaktion der Ortszeitung und beim Telephonamt fragte man neugierig und nervös geworden an.
Es läutete nur wegen einer Hochzeit. Und doch bedeutete auch die einen Sieg, einen raschen sogar. Auch der Vater Bertholdi hatte nachgegeben. Vernunftgründe wurden ja nicht gehört zu dieser Zeit, stürmischer denn je begehrte die Jugend ihr Recht. Es war ihm schwer geworden, der übereilten Verbindung seines Jüngsten zuzustimmen, wenn er die Leidenschaft des Jungen für das hübsche Mädchen auch wohl begriff und daß der sich nicht mit einer Vertröstung aufs Ungewisse beruhigen lassen wollte. Wer konnte sagen: nach dem Krieg?! –
Das junge Paar sah heut keine heiteren Gesichter um sich. Frau von Loßberg war gekommen, noch in tiefer Trauer um ihren Mann und in Sorge um ihren Ältesten, dessen Zustand nach der letzten, nicht von ihm selber, sondern durch die Pflegeschwester geschriebenen Karte bedenklich war. Sie wollte ja so gern ihre Tochter freudig beglückwünschen, aber die sie völlig unvorbereitet treffende Nachricht dieser Kriegstrauung und die überhetzte Reise waren ihren Nerven zuviel geworden. Sie, die ihrem Gatten in gefaßtem Schweigen die Augen zugedrückt hatte, weinte jetzt laut: Auch das noch! Sie hatte es verlernt, sich zu freuen. Und war es denn so zum Freuen? Annemaries materielle Zukunft war freilich gesichert, der Kampf um die Existenz würde nicht an sie herantreten – aber wenn der junge Ehemann fiel oder zum Krüppel wurde? »Hast du das auch bedacht?« fragte sie weinend ihre Tochter, als die ihr lachend um den Hals fiel. Frau von Loßberg hatte in der großen rheinischen Garnison zu viele junge Witwen gesehen.
Das sollte ein Glückwunsch sein?! Doch der Braut Augen trübten sich nicht. Sie wunderte sich nur einen Augenblick, hatte sie doch gedacht, die Mutter müsse sich jubelnd freuen mit ihr. Es nahm ihr nichts von dem Glücksgefühl, das ihre Seele füllte wie einen überschäumenden Becher. Mit leiser Nachsicht streichelte sie die welk gewordene Wange. »Du bist so zaghaft, du warst doch sonst nicht so. Ich verstehe dich gar nicht. Natürlich haben wir an alles gedacht. Wir haben auch alles besprochen, Rudolf und ich. Man ist doch alt genug, man weiß doch, was man tut. Und, Mutter –« ihre strahlende Miene wurde nur für einen Augenblick ernsthafter – »mag nun kommen, was da will! Und wenn es denn sein müßte, ich will lieber seine Witwe sein, als nicht seine Frau wer …« Die Hand der Mutter legte sich ihr rasch auf den Mund.
Es war gut, daß die beiden jüngsten Loßbergs aus dem Kadettenkorps mit zur Hochzeit hatten reisen dürfen. Egon und Ewald kamen sich sehr wichtig vor, sie reckten sich in ihrer Uniform. Der Krieg würde hoffentlich so lange dauern, daß sie auch noch mit herauskamen. Annemarie hatte die Brüder seit dem Tode des Vaters nicht gesehen, und damals war alles so traurig gewesen. Jetzt aber neckte sie sich mit ihnen, lachte und war ausgelassen.
»Du mußt nicht so oft den Kopf schütteln«, sagte Bertholdi heimlich zu seiner Frau. Sie drückte ihm die Hand: Er hatte recht, sie aufmerksam zu machen, sie hatte von ihrem Kopfschütteln gar nichts gewußt. Dachte denn diese Braut gar nicht daran, was ihr bevorstand? Ein kurzes Glück, acht Tage noch, dann war auch der Nachurlaub zu Ende – und dann ein langes, langes Warten. Ein gespanntes Lauern auf jede Post, ein qualvolles Bangen, ein beständiges Zittern vor dem furchtbarsten Schlag. Rudolf hatte recht, sie mußte wirklich zu alt sein, um die Empfindungen zu verstehen, die jene Jugend blind und taub machten. Verstohlen suchte sie wieder die Hand ihres Mannes. Wie gut, daß er da war! Sie selber kam sich vor wie eine Unglücksprophetin mit ihren trüben Ahnungen, mit Mühe nur zeigte sie eine freundliche Gelassenheit. Innerlich rang sie noch immer mit sich: Oh, wäre dieses Mädchen doch nie ins Haus gekommen! Ihre Vorliebe für Annemarie war ganz geschwunden.
»Du bist eifersüchtig«, sagte ihr Mann. »Mehr als alle Zukunftssorgen quält es dich, daß du die Liebe deines Sohnes nun teilen mußt.«
Sie senkte den Kopf: War es denn nicht auch schwer? Nie, nie hätte sie ohne weiteren Kampf eingewilligt, wäre nicht das dunkle Bild der Krüger wie ein mahnender Schatten auf ihren Weg gefallen.
Als sie zur Kirche fuhren, fing es an zu regnen. Es regnete der Braut in den Kranz, das bedeutet Glück. Warum sollte die auch nicht Glück haben, reich, schön, jung? Die Neugierigen, die sich in großer Zahl vor der Kirche angesammelt hatten, waren begeistert. Beifälliges Gemurmel begrüßte die schöne Braut beim Aussteigen. Was die fein war! In weißer Seide, mit einem Schleier, der in vielen duftigen Falten von dem runden Myrtenkranz niederhing, sie ganz umhüllend. Und sie war nicht blaß wie meist die Bräute, sie hatte ein Gesicht wie eine Rose. Und wie schneidig er aussah! Freilich noch ein bißchen sehr jung.
»Det gibt sich mit jedem Dag«, sagte eine Alte.
Die Mutter des Bräutigams hörte alle Bemerkungen, ihre Sinne waren unheimlich geschärft am heutigen Tag. Sie sah all die Blicke, neugierige, bewundernde, teilnehmende, neidische. Sie fühlte den Regen auf ihrem Haupt, empfand ihn wie Tränen. Sie roch den Duft der Tannengirlande, die den Kircheneingang umkränzte; sie schmeckte eine Bitternis auf ihren Lippen. Sie hörte nicht nur die Orgel, die ihnen entgegenbrauste aus dem offenen Portal, sie hörte auch jeden Laut hinter sich.
»Wenn der bloß wiederkommt«, sagte irgend jemand. Und dann jemand anderes: »Unken Se man nich.«
Margarete Dietrich war auch unter den Zuschauern. Ganz vorn in der vordersten Reihe stand sie, dicht am Kirchenportal, und ihre Augen tranken mit einer wahrhaft verzehrenden Gier das Bild des schönen Paares. Bald, bald würde auch sie da hineingehen durchs bekränzte Portal im Seidenkleid, in Schleier und Kranz. Ihr Atem flog. Sie rückte immer näher: daß ihr nur nichts entging! Sie sah das Lächeln im Gesicht der schönen Braut und den stolzen Ausdruck auf dem des jungen Bräutigams. Ihre Blicke flackerten unruhig, ihre Augäpfel rollten: So schön, so schön – ah, waren die glücklich! Nur den Tag erleben, dann war's gut. Weiter wollte sie auch gar nichts: nur den Tag!
Die Dietrich preßte ihre Hände ineinander, es war ihr, als müsse sie laut aufschreien: So viel Glück, und sie war noch immer allein, stand noch immer draußen vor der Pforte. Es war nicht länger mehr auszuhalten. Sie stöhnte auf.
»Wenn Se nich mehr stehn können, denn jehn Se doch ab«, sagte eine Frau. »Det dauert heute. Bei die predigt er lange.«
Sie wollte sich vor die Dietrich drängen, aber diese stieß sie zurück. Hier, hier würde sie ihren Platz behaupten, und wenn sie auch umfiele. Sie war jetzt oft so schwach, essen mochte sie gar nicht mehr, die Kleider hingen ihr. Die Mutter tat, was sie konnte, und pflegte sie, aber konnte sie ihr die Sehnsucht nehmen? Andere starben an Auszehrung, sie fühlte es selber ganz genau: Sie zehrte aus an Sehnsucht.
Drinnen schwieg die Orgel. Was der Geistliche sprach, konnte man draußen nicht hören, aber Margarete hörte doch jedes Wort. Jetzt predigte er: ›Wo du hingehst, da will ich auch hingehen‹ – das sagten sie immer bei Trauungen. Heute aber sagte er noch etwas anderes: von der Liebe, die alles überwindet, von der Liebe, die über das Grab hinaus dauert – von ewiger Liebe. Sie reckte den Hals vor, sie richtete sich auf die Zehen, sie lauschte, lauschte angestrengt. Ein Zittern lief durch ihren Körper, ihre Züge vibrierten, ihr mageres Gesicht bekam fliegende Röte und wurde dann plötzlich grünblaß. Ihr Atem stockte: Jetzt sprach er die Trauformel – jetzt steckte er ihnen die Ringe an – jetzt sagten sie: ›Ja!‹ Wie laut das klang!
Alle sahen hin nach Margarete Dietrich. Sie hatte plötzlich ganz laut gerufen: »Ja!« Und dann fiel sie um …
Auch zum Haus der Krüger waren die Glocken gedrungen, sie wußte, was sie läuteten. Bei ihren Nachbarn war ein frohes Fest, der junge Bertholdi machte Hochzeit. Sie kannte den Rudolf schon, als er ihr vom alten Birnbaum noch die Birnen herunterschlug und ihr Gustav ihn dafür durchprügelte. Wie sich alles änderte! Nun war der obenauf, und ihr Gustav –?! Wenn sie nun auch bald etwas von ihm hören würde, es war ihr doch oft bange. Ruhelos strich sie den ganzen Tag durch Haus und Garten; selbst die Frau, die gekommen war, die Wäsche waschen, hatte sie abgeschafft. Alles allein, alles allein machen, nur Arbeit, Arbeit, daß man müde wurde wie ein Hund.
Als die Glocken feierlich um ihr Haus dröhnten, hielt sie sich die Ohren zu. Sie mochte die nicht hören. Das hätte ihr Gustav auch haben können – Kriegstrauung. Wenn man will, war die so rasch zu haben. Oh, ihr Gustav, ihr armer Junge! Immer fester preßte sie die Hände gegen die Ohren, sie hörte das festliche Läuten doch.
Sie stieg hinab in ihren Keller, da schaffte sie bei ihren Kartoffeln und den eingewinterten Rüben und Kohlköpfen, daß ihr der Schweiß lief. Der Keller war dunkel und tief, die Luke zur Straße mit Stroh verstopft, zu läuten hatte es längst aufgehört, aber sie hörte es immer noch. Was wohl das Mädchen machen mochte, die Hieselhahn? Gekommen war die nie, obgleich sie sie damals aufgefordert hatte. Nun, dann sollte sie's bleibenlassen!
Nun war der Junge schon fast ein Jahr – Gustav sein Junge! Wie sie wohl durchkommen mochte mit dem Kind? Es war jetzt alles so teuer, jetzt mußte ein jeder beten: ›Unser täglich Brot gib uns heute‹, und wurde doch nicht immer satt von dem, was er, seit einem Jahr nun schon, nur auf seine Brotkarte bekam. Fleisch gab's seit dem November wenig; es ging ihr gewiß kümmerlich, der Hieselhahn. Ach, wenn sie's doch lieber zugegeben hätte, daß der Gustav sie geheiratet! Dann wäre er von der Mutter nicht im Trotz geschieden. Dann brauchte sie ihre Gedanken jetzt nicht so herumlaufen zu lassen in der Ferne wie Schafe in der Irre. Oh, dieses Läuten, dieses Läuten, es machte sie ganz verrückt! Bis ins Innerste drang es ihr.
In ihrem tiefen dunklen Keller kniete die Krüger auf ihren Kartoffeln. In der dumpfen Lichtlosigkeit streckte sie ihre Hände empor und schrie zu Gott. Aber der sah nicht hinab in den tiefen Keller. Nein, noch einmal zu der Hieselhahn hingehen, nein, das tat sie nicht. Die mußte jetzt zu ihr kommen, so gehörte sich's!
Immer fester faltete die Krüger ihre Hände, sie kämpfte gegen das Läuten an, das sie verstörte. Sie rang mit sich selber: »Was soll ich tun? Mein Gott, oh, mein Gott!« …
Und noch eine andere im Haus wurde erregt durch das Läuten. Frau Rossi wußte, daß es zur Hochzeit läutete; Heinz Bertholdi hatte ihr vom Bruder erzählt und von dessen Glück. Fast widerwillig hatte er ihr davon gesprochen, mit einer stockenden Langsamkeit, so, als hätte er's lieber nicht erzählt, und doch wieder so, als ob er nur davon sprechen könnte, weil ihn eigene ähnliche Wünsche erfüllten.
Annemarie ließ den älteren Bertholdi vollständig gleichgültig, aber er beneidete den jüngeren Bruder, daß der den Mut gefunden hatte, das Glück an sich zu reißen. Und wenn es auch nur ein kurzes Glück war! Heinz war der einzige, der Rudolf volles Verständnis entgegenbrachte. Warum beklagte die Mutter sich? Der Bruder hatte ja so recht, er genoß das Heute und fragte nicht nach dem Morgen. Das war sein gutes Recht. Und die Pflicht des, der im Felde steht. Ein jeder konnte es freilich nicht, und daß er's nicht konnte, das verstimmte Heinz Bertholdi tief. Sein Urlaub war abgelaufen, am Tage nach der Hochzeit mußte er zu seinem Regiment.
Sie hatten sich seit der ersten Begegnung und ihrer fröhlichen Kaninchenjagd täglich gesprochen. Der junge Mann hatte Frau Rossi seinen Besuch gemacht, und die Generalin, die zufällig gerade bei der Tochter war, hatte ihn freundlich aufgefordert, auch sie zu besuchen. Frau von Voigt war erfreut, daß die Tochter wieder einiges Interesse zeigte. Stumm und teilnahmlos hatte Lili viele Wochen dagesessen, nun wurde sie doch etwas lebhafter. Die Mutter war dem Leutnant Bertholdi dankbar dafür. »Sprechen Sie aber nicht viel vom Krieg«, bat sie, als er bei ihr zum Tee saß und Lili noch nicht da war, »ich fürchte, es greift meine Tochter zu sehr an. Sie wissen, sie hat viel durchgemacht.« Der junge Offizier verbeugte sich: »Exzellenz können ganz ruhig sein. Ich erzähle nicht gern vom Krieg. Was man da erlebt, behält man am besten für sich.«
So hatten sie denn nie von dem gesprochen, was sie mit seinen Schrecknissen so nahe umlauerte. Sie waren zusammen spazierengegangen, es war ihm gelungen, die junge Frau herauszulocken; wenn es auch Winter war, die Tage waren schön. Kalt war es nicht, die Sonne zeigte plötzlich schon Kraft, in den Mittagsstunden konnte man vergessen, daß es noch Januar war. Die Haselnußstauden steckten ihre Träubchen heraus, die dunkelgrünen Kiefern des nahen Waldes dufteten, nicht so wie im Sommer, wenn der harzige Stamm von heißem Wohlgeruch trieft wie eine brennende Opferkerze, jetzt war der Duft heimlicher, aber voll verhaltener Kraft.
Die Spaziergänge belebten die junge Frau, sie hatte den Wald der Heimat gar nicht mehr gekannt; wenn es auch nur ein armer Wald war, jetzt entzückte er sie.
Sie machten den letzten Spaziergang zusammen am Tag vor Rudolfs Hochzeit. Morgen würde er ja nicht Zeit haben, und übermorgen – nun, daran wollte Heinz heute noch nicht denken. Mit einem langen Blick umfaßte er die Gestalt der geliebten Frau, die leicht vor ihm herschritt. Wenn er es ihr doch wenigstens sagen dürfte, daß er sie liebte! Aber durfte er das? Sie war in tiefer Trauer. Oh, dieser Italiener, wie er ihn haßte! Die Tritte des jungen Offiziers waren hart, sie stampften den moosigen Waldboden. Der war ihm ein tückischer Feind, jetzt noch, da er schon lange tot war. Diese Frau, ach, diese Frau! Es gab nurmehr diese einzige für ihn auf der ganzen Erde. Dicht ging er hinter ihr, und wehte der Wind ihr schwarzes Kleid ein wenig zurück, daß es flatternd ihn streifte, fühlte er es wie Beseligung.
Schweigend gingen sie den schmalen Waldpfad, den sie fast täglich gegangen waren, hinunter zum See; sie liebten diesen einsamen Weg, auf dem man keinem Menschen begegnete, nur manchmal einem Reh, das nicht flüchtete. Mitten im Kanonengebrüll, Blutvergießen und Schmerzensgestöhn, mitten im weinenden Klagen, in aller Gemeinheit und Verleumdung der Welt, waren sie hier gewandert im tiefsten Frieden. Abgeschiedene Geister, die nichts mehr von der Vergangenheit wissen, die in der Seligkeit wandeln.
Ob sie es nicht fühlte, daß er sie liebte? Ihr Blick blieb ruhig, immer ein wenig traurig, wenn sie auch lächelte; immer lag es über diesen schönen Augen wie ein Schleier. Der Liebende verglich mit einer gewissen Eifersucht seines Bruders Braut mit dieser Frau hier – diese hier würde der Mutter gefallen. Wenn er nur wüßte, was Lili über ihn dachte! Sie war gern mit ihm zusammen, das fühlte er, aber ob sie denn gar nicht mehr für ihm empfand? Eine so junge Frau – sie konnte doch nicht allem entsagen wollen? Schon sah sie nicht mehr aus wie die Nonne, als die er sie zuerst erblickt hatte im Krügerschen Garten. Einen schwarzen Schleier trug sie heute nicht – sah sie nicht aus wie ein Mädchen in dem kleinen Pelzkäppchen? Er ging hinter ihr und fieberte: Morgen war für ihn ein verlorener Tag, da konnte er hier nicht mit ihr wandern, und übermorgen – Gott im Himmel, übermorgen um diese Zeit war er längst fort! Es überfiel ihn in jähem Schreck, er biß die Zähne zusammen.
Sie standen am See. Der sah aus wie ein Auge, das ein Geheimnis birgt. Ganz unergründlich. Wolken waren über den Himmel gezogen, er warf nichts Lichtes herunter; es spiegelten sich nur die schwarzen Kieferböschungen der Ufer in schweren Klumpen. Auf dem Wasser, das gestern im Sonnenglanz gelächelt hatte, lag es heute wie entsagungsvolle Trauer. Die Witwe stand dicht am Rand, die düstere Lache bespülte fast ihren Fuß. Sie hatte das Pelzkäppchen abgenommen und ließ den Uferwind um ihre Schläfen wehen. Nun sah man die Linien, die schwere Gedanken in ihre Stirn gezeichnet hatten. Die Winkel ihres Mundes waren ein wenig herabgezogen, sie sah sehr traurig aus.
»Tut es Ihnen leid, daß ich fortgehe – übermorgen schon?« fragte er leise. Er konnte nicht länger an sich halten: Das wenigstens, das mußte er sie fragen.
Sie nickte. Aber sie sagte nichts. Als sei sie scheu geworden, so drehte sie um.
Rascher, als sie gekommen waren, gingen sie zurück. Sie lief immer vor ihm her. Als sie am Krügerschen Hause angelangt waren, reichte sie ihm die Hand zum Kuß.
»Sehe ich Sie heute noch?« Seine Augen baten.
»Ich bin heute nicht zu Hause.«
Er fühlte, daß sie nicht die Wahrheit sprach, und das machte ihm Mut. »So werde ich morgen kommen und Ihnen Lebewohl sagen. Wenn auch die Hochzeitsfeier meines Bruders ist. Ich finde schon eine Stunde. Gegen Abend.« Er glaubte ein leises Zittern ihrer Hand zu verspüren, die er noch immer hielt. »Also morgen!«
Es war eine schlaflose Nacht, die die junge Witwe verbracht hatte; von vielen schlaflosen Nächten die schlafloseste. Sie hörte jede Viertelstunde von der großen Turmuhr der Kirche schlagen – hart, gefühllos. Es war eine Qual. Sie wühlte in den Kissen, und dann saß sie aufrecht und stützte die Ellenbogen auf die hochgezogenen Kniee und den schmerzenden Kopf zwischen die Hände. Durch den zugezogenen Vorhang stahl sich ein letzter Mondstrahl und tanzte in allerlei seltsamen Zuckungen und huschenden Lichtern auf dem Bild ihres Mannes, das an der Wand, ihrem Bett gegenüber, hing. Die Mutter hatte ihr eine Photographie vergrößern lassen – es war ihr einziges Weihnachtsgeschenk gewesen, sie hatte nichts anderes haben wollen – und nun?!
Sie hob den Kopf aus den Händen und starrte gramvoll hinüber zu dem beleuchteten Bild. Es war deutlich erkennbar: das hübsche bartlose Gesicht mit dem keck aufgesetzten Käppi und den melancholischen Augen – sahen die sie heute nicht unsäglich traurig an? Nein, das schien nur so; sonderlich tief hatte er sich ja nie etwas genommen. Doch heute, heute – oh Gott, blickten die Augen nicht vorwurfsvoll, starr drohend auf sie?! ›Hast du mich schon vergessen?‹ Es drang eine Stimme zu ihr: ›So bald schon?‹
Sie erbebte. Es wurde ihr sehr kalt. Ach, du armer Mann! Sie grüßte sein Bild mit einem schmerzvollen Neigen: nein, oh nein, sie hatte ihn nicht vergessen. Täglich, stündlich sah sie sein Grab am Monte Pian, mit Geröllbrocken eingefaßt, ein Holzkreuz darauf, das seine Soldaten geschnitzt. Sie hörte den Bergwind darüber sausen, die Lawinen es umdonnern – es war ihr ein qualvoller Gedanke, daß ihn frieren könnte in seinem Grab. Aber was konnte sie dafür, daß sie noch jung war? Daß es sich in ihr regte wie Sehnsucht, nicht nur Sehnsucht nach dem, was vergangen war.
Sie streckte ihre Hände bittend aus zu dem Bild an der Wand: ›Mein armer Mann, ich werde dich nie vergessen. Aber es ist hart, einsam zu sein und einsam zu bleiben, doppelt hart, wenn man weiß, wie schön das Leben sein kann – zu zweien.‹ Aber würde es jetzt noch so schön sein, könnte es denn je wieder so schön sein mit ihm? Ihre Brauen zogen sich zusammen: Sie war Deutsche. Und Deutsche geblieben. Das hatte sie gefühlt vom ersten Tag des Krieges an. Wie hatte sie gelitten unter seiner Begeisterung! Nur Italien, sein Italien, Leib und Seele für Italien. Seine Hingabe an sein Vaterland hatte sie wiederum ihrem Vaterland ganz wiedergegeben. Jetzt verstand sie ihn so gut, sie war ihm nicht gram mehr, daß er sein Italien über alles stellte; das war seine Pflicht, als Offizier doppelte Pflicht gewesen. Aber etwas war jäh aufgeklafft zwischen ihnen, das trennte weiter als der schroffste Schrund der Berge, als der abgrundtiefste eisigste Spalt der Gletscher. Sie hatte ihn längst verloren gehabt.
Die einsam wachende Frau seufzte tief auf, mit einem Ruck warf sie das Haar zurück, das lang und schwer in trauernden Strähnen ihr vom geneigten Haupt über Gesicht und Hände floß. Es war dunkel jetzt an der Wand, der Mondstrahl erloschen.
Und plötzlich verschwand auch vor ihrem inneren Blick das Bild des Mannes – da war nicht der italienische Offizier mehr, eine deutsche Uniform tauchte auf aus nächtlichem Dunkel, ein deutsches Männergesicht sah sie liebend an.
»Nein, oh nein!« Hatte sie es laut gerufen? Die eigene Stimme erschreckte sie. Über sich selber entsetzt, versteckte sie den Kopf ins Kissen: War sie so treulos, so ehrvergessen, so bar aller Würde, daß sie jetzt schon, so bald schon, an den andern dachte? In tiefer Scham stöhnte sie und wehrte sich: Nein, das durfte nicht sein.
Gegen Abend, hatte Leutnant Bertholdi gesagt, würde er herüberkommen und Abschied nehmen. Den ganzen Tag hatte er an diesen Abschied gedacht.
Es war ein fröhliches Hochzeitsmahl, trotz des Ernstes der Zeit. Trotz Hedwig Bertholdi, die ihr Taschentuch, zu einem Knäulchen geballt, in den Händen hielt, und immer wieder daran herumdrückte und zerrte. Sie fühlte nichts mehr von dem Schmerz, ihren Jüngsten so weggeben zu müssen, sie fühlte keinen Schmerz darüber, daß ihr Ältester sie morgen auch verließ, sie fühlte nur noch die Unruhe einer qualvollen Ungewißheit. Wie etwas nebelgrau Wogendes, unbestimmt Verschleiertes lag es um sie und vor ihr. War da noch eine Zukunft oder gab es keine mehr? Sie fühlte sich sehr müde. So viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unsäglichen Hoffens! Wie mußte es denen erst zumute sein, bei denen es ganz und völlig zu Ende war?! Ihre Gedanken flatterten weg von diesem geschmückten Tisch, irrten in dem nebelgrauen Gewoge und flatterten dann doch wieder zu ihm her. Der Blick ihres Mannes, der auf ihr ruhte, ihr ab und zu heimlich zuwinkte, rief sie zurück.
Die andere Mutter war auch nicht sonderlich heiter. Frau von Loßberg mußte so viel an ihren toten Mann denken; er würde wohl glücklich gewesen sein, seine Tochter in solcher Umgebung zu wissen. Aber war Annemarie denen hier denn auch so willkommen? Sie glaubte es zu fühlen, daß bei den Eltern ein Widerstand war. Kein darauf deutendes Wort war gesprochen worden; Hedwig Bertholdi hatte zu der Jugendfreundin von ehemals überhaupt nicht viel sagen können, eine Herzlichkeit wollte nicht aufkommen. Ihr tat die Frau in der tiefen Trauer leid, aber man war sich ja fremd geworden, so fremd, als hätte man sich niemals gekannt.
Die Verhältnisse waren auch so ganz andere. Hier diese Villa mit allen Bequemlichkeiten: die Diele mit dem von oben fallenden Licht, der Wintergarten mit Palmen und blühenden Blumen, die Ölgemälde, die echten Teppiche, die gediegenen Möbel, all der Geschmack, den der Besitz gibt. Und kein Sich-winden und immerwährendes Rechnen, um einigermaßen standesgemäß zu erscheinen; die Schränke voll mit Kleidern und Wäsche und auf dem Tisch Silber und feines Porzellan, wie etwas Selbstverständliches jede Mahlzeit reichlich und gut. All das gab der Witwe des armen Majors etwas noch Gedrückteres.
Sie saß still und zurückhaltend an der mit Kristall und weißen Blüten in zartem Grün schön geschmückten Hochzeitstafel in ihrer schwarzen Seidenfahne. Der Tochter zu Ehren hatte sie heute den Familienschmuck der Loßbergs angelegt: eine feine, wie aus schwarzen Haaren kunstvoll geflochtene und gegliederte Eisenkette, an der ein großer Anhänger hing – Krone und Wappen –, wundervoll dem Goldschmuck nachgebildet, den die Urgroßmutter des Majors einst in den Freiheitskriegen dem Vaterland zum Opfer gebracht hatte. Der Hausherr stieß mehrmals mit ihr an: »Auf Ihre Söhne!« Sie dankte und trank einen ganz kleinen Schluck von dem Sekt, der in ihrem Glas alles Schäumende verloren hatte. Sie hatte ihn zu lange stehen lassen, sie war es nicht gewohnt, Sekt zu trinken; er schmeckte ihr auch nicht. Es war etwas Bitteres darin.
Um so besser schmeckte er den Kadetten. Herr Bertholdi machte sich ein Vergnügen daraus, den beiden jungen Loßbergs fleißig einzuschenken. Dann verneigten sie sich jedesmal verbindlich, unterm Stuhl die Hacken zusammenschlagend: »Danke gehorsamst!« Ganz schon Leutnant, und doch strahlte aus ihren runden Gesichtern noch die harmlose Glückseligkeit des Kindes. Was würden die Kameraden im Korps sagen – Sekt getrunken, echten französischen Sekt! Keck stand Ewald auf und hob sein Glas: »Auf das Wohl des Herrn Hauptmanns, unseres verehrten Gastfreundes und Schwiegervaters, hurra!« Und »Hurra, hurra!« krähte auch Egon mit seiner überschnappenden Knabenstimme.
Angstvoll sah die Majorin nach ihren beiden Jüngsten: Tranken sie auch nicht zuviel? Bertholdi beruhigte sie lachend: Und wenn auch, morgen konnten sie ja noch ausschlafen. Er hatte seinen Spaß an den Jungen, denen man es anmerkte, wie sie genossen. Er unterhielt sich mit ihnen, sie wurden nach und nach so lustig, daß er sagen mußte: »Na, Jungens, aber!« Er merkte nicht, wie eigentlich außer ihm und den Kadetten niemand sprach.
Das Brautpaar flüsterte leise miteinander; für sie beide war alles andere und waren alle anderen nicht da. Rudolfs Augen leuchteten: Gleich würde Annemarie vom Tisch aufstehen, den Brautstaat ablegen, sich zur Abfahrt fertig machen. Sie wollten heute abend nach Dresden reisen, dort die paar Tage des Urlaubs noch genießen.
Heinz Bertholdi lauerte nur auf diesen Augenblick: Dann konnte auch er gehen. Er war voller Ungeduld den ganzen Tag schon. Je weiter der Nachmittag vorrückte und sich dem Abend zuneigte, desto ungeduldiger wurde er: Stand man denn noch nicht auf? Der Bräutigam konnte nicht sehnsüchtiger sein. Endlich! –
Der junge Offizier schlich sich zum Hause hinaus. Merkwürdig, er hatte heute dasselbe Gefühl wie auf seiner ersten Schleichpatrouille: die gleiche heiße Aufgeregtheit, die im Blut prickelt, und doch war er kalt dabei, eiskalt, todesruhig. Hier wie dort ging's um sein Leben. Durfte er eine Hoffnung haben für die Zukunft? Erfahren mußte er das heut in dieser letzten Abschiedsstunde.
Nicht umsonst hatte er die ganze Nacht schlaflos gelegen, sich jede ihrer Mienen zurückgerufen, jedes Wort, das sie gesprochen, hin und her gewendet, überlegt und daran gedeutelt. Am einfachsten Wort. Sie hatte ihm keinen Blick geschenkt, der mehr gezeigt hätte als harmlose Freundlichkeit, sie hatte ihm durch nichts etwas verheißen, durch gar nichts. Und doch war es ihm so, als wäre er berechtigt, sie zu fragen.
Entschlossen bog er um die Ecke – rasch noch an ein paar Gartenzäunen vorbei – da lag das kleine Krügersche Haus im Rücken der elterlichen Villa. Oben bei Lili glänzte Licht. Unten war's noch dunkel, die Haustür nicht verschlossen, ungeduldig stieß er sie auf und tappte hastig hinein. Gerade trat die Krüger aus ihrer Küche – ein Aufschrei – das Tablett mit Geschirr, das sie trug, prasselte zu Boden.
»Oh, Frau Krüger, habe ich Sie erschreckt?« Bedauernd bückte er sich und half ihr bei dem bißchen Lichtgeflinzel, das die Küchenlampe hinaus in den dunklen Flur warf, die Scherben auflesen.
Die Frau zitterte. »Sie sind's – Sie sind's?!« Eine unsägliche Enttäuschung sprach aus ihrem langgezogenen Ton.
»Ich, ja. Wer dachten Sie denn, daß es wäre, Frau Krüger?«
Sie antwortete ihm nicht darauf. Schwerfällig sich aus ihrer kauernden Stellung aufrichtend, wankte sie mit ihren Scherben in die Küche zurück. Die Tür schlug sie hinter sich zu.
Komische Frau, diese alte Krüger! Warum war die nur so heftig erschrocken? Aber er dachte nicht weiter darüber nach. Eben hatte sich die Glastür, die die obere Wohnung abschloß, geöffnet, Lili, eine Kerze in der Hand haltend, beugte sich übers Geländer.
»Ich muß Ihnen leuchten. Mein Mädchen ist ausgegangen, das Licht auf der Treppe brennt noch nicht!« Sie rief es hell, eine Fröhlichkeit im Ton erheuchelnd, die ihr Gesicht nicht zeigte. Die Augen in dem blonden Kopf, der sich, vom Kerzenlicht umstrahlt wie in einer Glorie, niederneigte, blickten dunkel umrandet, unnatürlich groß.
Lili – seine Lili! Eine zärtliche Rührung faßte den Hinaufstürmenden, mit beiden Händen hätte er die Geliebte ergreifen mögen, aufheben, hochhalten, sie so tragen allezeit.
»Meine gnädige Frau!« Mit heißen zuckenden Lippen küßte er ihr die Hände. Sie entzog sie ihm.
Eine Verlegenheit wollte sie überkommen: Ob er es auch nicht falsch auslegte, daß sie jetzt, gerade jetzt, so allein in der Wohnung war? Ja, sie hatte die Magd fortgeschickt, mit Absicht, die lauschte an den Türen. Und heute, das fühlte sie, heute entging sie ihm nicht, heute wurde etwas gesprochen, was niemand anderes zu hören brauchte: was ganz allein blieb zwischen ihm und ihr. Sie überwand die Verlegenheit, mit ihren traurigen Augen sah sie ihn vertrauensvoll an: Nein, er würde nicht schlecht von ihr denken, nie.
»Wie rasch sind die Urlaubstage vergangen«, sagte sie, ein Lächeln erzwingend, obgleich ihr Herz so verzagt war, daß es weinte. Nun ging er, dieser gute, liebe Mensch! Dieser Mann, der ihr vor kurzem noch fremd gewesen war, und der ihr doch schon so vertraut war, als gehöre sie zu ihm. Hier war keine trennende Kluft – ein Volk, ein Vaterland, eine Heimat –, und doch, es durfte nicht sein. Sie nahm sich zusammen. »Ich danke Ihnen für all die Stunden, die Sie mir gewidmet haben. Ich bin so gern mit Ihnen spazierengegangen. Es hat mir wohlgetan. Ich hatte mich von allem zurückgezogen; zu sehr zurückgezogen. Sie haben mich wieder ein bißchen ins Leben zurückgeführt. Nun will ich mich auch nicht wieder so einspinnen.« Sie sah ihn scheu an, warum sagte er denn gar nichts? Er machte es ihr wirklich recht schwer. Sie quälte sich weiter: »Sie werden mir doch mal schreiben, nicht wahr? Ich würde mich sehr freuen. Wir haben uns wirklich so angefreundet in der kurzen Zeit, daß man doch auch ab und zu voneinander hören muß. Ich werde mir auch erlauben, Ihre Frau Mutter zu besuchen – als Nachbarin. Bis jetzt konnte ich mich ja noch zu gar nichts entschließen.« Ihre Hand, die lässig im Schoße hing, strich über das schwarze Kleid. »In solcher Trauer ist man so scheu. Nun wird's aber besser – Sie haben mir geholfen!« Sie lächelte ihn an, aber ohne seinen Blick, der ihren Blick suchte, zu erwidern. Innerlich zitterte sie: Würde er denn noch nicht sprechen, ihr helfen bei ihrer gequälten Unterhaltung? Er mußte doch einsehen, daß sie nicht anders konnte, nicht anders sein durfte. Oh, wäre er doch lieber gegangen ohne Abschied! Dann hätte sie weinen können jetzt, von niemandem gesehen. Diese Stunde war eine Qual.
»Ihr Bruder ist wohl sehr glücklich?« Das war eine ungeschickte Frage, aber sie wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. Es verwirrte sie völlig, daß er sie unverwandt ansah mit Augen, die so ganz anders waren als jene dunklen, die ihr einst abgrundtief erschienen. Diese hellen blauen Augen drückten ebensoviel Liebe, ebensoviel Zärtlichkeit aus – eine volle, treue Hingabe. »Sagen Sie doch ein Wort«, stieß sie hervor. »Warum sprechen Sie denn gar nicht?«
»Ich darf ja nicht.« Seine Stimme klang heiser vor Erregung. Nun faßte er nach ihrer Hand, sie wollte ihm dieselbe sanft entziehen, aber er hielt sie eisern fest. »Morgen muß ich fort – wer weiß, ob ich wiederkomme – gnädige Frau, darf ich hoffen« – er schluckte – »darf ich eine Hoffnung mit in den Krieg nehmen? Eine Hoffnung?«
»Eine Hoffnung?!« Sie wiederholte es nur mechanisch. Ach, sie wußte ja nur zu gut, welche Hoffnung er meinte. Aber konnte, durfte sie ihm Hoffnung machen? Da war ein Grab am Berghang, um das die Winde sausten und die Lawinen donnerten; der drinnen lag, der hörte nicht das Sausen und Donnern, aber er hörte, wie sie, seine Witwe, jetzt, hier, zu diesem andern Mann sprach. Ihr Herz schlug angstvoll, Röte der Scham stieg in ihr blasses Gesicht. Langsam schüttelte sie den Kopf: »Ich bin in so tiefer Trauer.« Bittend sah sie den Freund dabei an, ihr Ausdruck hatte etwas Rührendes. »Ich kann Ihnen keine Hoffnung mitgeben – nicht die Hoffnung, die Sie meinen.«
Er wollte auffahren, etwas sagen, etwas rufen, schreien. Sie sagte: »Still!«
Ihre weiche Stimme, die ein wenig gezittert hatte, wurde fest: »Ich müßte mich vor mir selber schämen, wenn ich so rasch vergessen könnte, was gewesen ist. Ich habe meinen armen Mann einmal sehr, sehr liebgehabt. Und jetzt« – sie machte die Hand, die er noch immer hielt, frei; gleichsam wie sich einhüllend, zog sie ihr schwarzes Kleid enger um sich – »jetzt denke ich darüber nach, wie traurig es ist, daß alles so gekommen ist. Und doch wie gut!« Sie versuchte ein Lächeln, offen sah sie den jungen Mann an: »Glauben Sie, daß ich auf die Dauer hätte in Italien leben können? Ich liebe jenes Land – aber jetzt? Nein, es wäre nie wieder gut geworden. Es ist besser so.«
Er wollte wieder nach ihrer Hand greifen, er faßte nach ihren beiden Händen: Da sagte sie es ja selber; es war gut, daß sie frei geworden war, Italien ging sie nichts mehr an, hier, hier war Deutschland und die Liebe eines deutschen Mannes. »Gnädige Frau – geliebte Frau!« Was wollte er ihr nicht alles sagen, sie anflehen, bestürmen, erobern wie eine besiegte Stadt! In leidenschaftlichem Ungestüm, in dem ganzen Rausch seiner Neigung wollte er sie an sich ziehen, ihr zurufen hundertmal, tausendmal: ›Vergiß, was war, genieße, was ist – ich liebe dich, ich liebe dich!‹ Aber er brachte nichts davon heraus. Wie in zürnender Abwehr traf ihn ihr Blick, sie wich zurück.
Als ob sie all seine Gedanken erriete, sagte sie: »Wenn Sie wirklich mein Freund sind, dürfen Sie nicht so zu mir sprechen. Ich will nichts hören. Ich will auch nicht zum zweitenmal all die Qual und Angst des Wartens durchmachen, die ich schon einmal durchgemacht habe – ich kann, ich kann es nicht. Leben Sie wohl, lieber Freund!«
Nun wollte sie ihm beide Hände reichen. Aber er bemerkte die Bewegung nicht, mit der sie sie ihm hinstreckte. Er bemerkte auch nicht, wie blaß ihr Gesicht war, welch ein banger, gequälter Ausdruck in ihren Augen. Er sah nur, daß sie zurückwich, merkte nur ihre Abwehr. Und das ernüchterte ihn. Nun war er wieder ganz bei sich. Er reckte sich auf, als müsse er sich gegen etwas wehren: Nur nicht zeigen, wie nahe es ihm ging! Und doch erschien ihm das Leben plötzlich ganz ohne Reiz und alles, was zu erkämpfen war, nicht mehr erkämpfenswert. Er hätte sich hinwerfen mögen wie ein ungebärdiger Knabe. Aber mit gemachter Höflichkeit verneigte er sich vor ihr: »Leben Sie wohl, gnädige Frau.«
Die Tränen schossen ihr in die Augen: Ach, wenn er wüßte, wie ihr zumute war. Nun ging er von ihr – so von ihr –, und sie hätte ihm doch die Arme um den Hals schlingen mögen, ihm ins Ohr flüstern: ›Oh du, du! Komm wieder, komm wieder!‹ Aber sie mußte ihn doch so gehen lassen; sie fühlte genau: ein Wort, ein Blick, ein Hauch nur – und es war geschehen. Er war frei, er brauchte nicht Rechenschaft abzulegen, aber sie?! Ihr Witwenkleid war noch neu, noch war nicht frisches Gras ersprossen auf ihres Mannes Grab. Sie war noch gebunden. Sie hatte Rechenschaft abzulegen dem, der für die Welt schon tot war, jedoch für sie noch lebendig. Nein, sie konnte nicht anders, so mußte der Abschied bleiben; er durfte nicht anders sein.
Aber das konnte sie nicht hindern, daß die Tränen, die in ihren Augen standen, überliefen. Er sah es nicht. »Kommen Sie wieder!« flüsterte sie. Er hörte es nicht.
Er hatte ihr die Hand geküßt, nun war er an der Tür, er hielt die Klinke schon in der Hand, heiß wallte es plötzlich in ihr auf. Eine jähe Frage: War jetzt das Entsagen wirklich am Platz? So dunkel der Abend, so schweigend die Welt, so einsam das Haus, und sie nur, sie beide ganz allein, und draußen nichts als Jammer, als Kampf – ihm nach, ihm nach, ihn zurückhalten! Wer wollte sie hindern daran, sich an ihn anzuklammern?! Ihre Jugend, ihr Blut bäumten sich. Den liebte sie, das wußte sie in diesem Augenblick ganz genau – was ging sie alles andere an?!
Aber sie neigte, stumm Abschied nehmend, den Kopf, folgte ihm noch auf den Flur, beugte sich übers Treppengeländer und winkte ihm nach.
Er sah sich nicht mehr um, sah nicht mehr hinauf zu ihr …
Wie ein Blinder hatte sich Heinz Bertholdi aus dem Hause getastet. Vor seinen Augen lag die dunkle Straße noch dunkler. Und seine Ohren waren taub; so taub waren sie nicht gewesen nach tagelangem Trommelfeuer. Seine Knie bebten, in seinen Zügen zuckte und zitterte es. Die Nerven spielten ihm wieder einmal einen Streich wie damals nach den schlimmsten Tagen an der Marne.
Ein heller Schrei ließ ihn schreckhaft zusammenfahren, andere Schreie folgten. Es waren Kinder, die so laut schrien. Vom Bahnhof, die Hauptstraße herunter, kam es gerannt: hurtige, hüpfende, trappelnde Füße. Eine Schar Jungen patschte mitten durch den tiefen Kot, die Pfützen spritzten, jeder wollte der erste sein. Sie kreischten, sie lachten, sie verkündeten jubelnd und freuten sich: »Morgen ist schulfrei, morgen ist schulfrei!«
Und da huben auch schon die Glocken an, tiefdröhnend mit festlichem Läuten. Türen klappten, Fenster öffneten sich: Läutete es dreimal? Die stille Straße war auf einmal laut, der verdunkelte Ort heller geworden. Das Läuten setzte ab, hub wieder an, setzte nochmals ab und läutete dann zum drittenmal.
Fahnen heraus! Cetinje, Cetinje! Die Hauptstadt von Montenegro war genommen. Wiederum eine Stadt.