Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das hätte Hedwig Bertholdi nicht zu hoffen gewagt, daß beide Söhne zusammen auf Urlaub kommen würden. Es war fast zuviel des Glücks nach langem Entbehren. Als Heinz ihr von Frankfurt am Main telegraphierte: ›Bin auf dem Weg zu Dir‹, jubelte sie laut; aber als nun auch von Rudolf ein Brief eintraf: ›Nach den letzten schweren Kämpfen bekommen wir Erholungsurlaub, vielleicht, daß ich zu gleicher Zeit mit diesem Briefe da bin‹, fing sie an zu weinen.
Mit der ungeduldigen Sehnsucht einer Braut rüstete sie für die Söhne. Ihre alten Zimmer sollten sie wiederhaben; es tat ihr leid, daß sie nicht von Grund auf alles darin neu und schöner herrichten lassen konnte, aber dazu war jetzt nicht die Zeit. Sie mußte sich begnügen, alles bürsten und waschen, die Wände abfegen, die Bücher ausstauben zu lassen. Es kam ihr so manches Erinnern dabei; sie hatte sich vordem nie entschließen können, in diesen Zimmern zu räumen. Sie hatte sie verschlossen gehalten wie ein Heiligtum. Nun lagen da die Schulbücher, die Aufsatzhefte, die ersten Liebesbriefe an irgendeinen Backfisch. So mitten heraus waren die Söhne fortgegangen, die Schubfächer waren nicht zugeschlossen, die Sachen nicht geordnet. Da noch die Reithandschuhe von Heinz, auf seinem Schreibtisch allerhand Photographien – er liebte es, sich Bilder schöner Frauen aufzustellen. Da die Schülermappe von Rudolf – noch steckten die Klassiker darin und die letzte schriftliche Arbeit.
Was sie vordem nicht gewagt hatte anzurühren – wie die Hinterlassenschaft teurer Verstorbener war es ihr vorgekommen –, das ordnete sie nun mit Lächeln. Ihre Söhne kamen ja zurück, heil und gesund, wenige Stunden vielleicht nur noch, und sie waren wieder hier in ihren alten Zimmern, die beiden Jungen, die das Haus mit Gepolter erfüllten, mit so viel fröhlichem Leben. Rasch, nur rasch! Was war denn mit dem Mädchen, der Emilie? Die kam ja gar nicht von der Stelle und machte alles verkehrt.
Emilie wischte sich heimliche Tränen ab. Die sonst so blanken Augen waren trüb. Frau Bertholdi wußte, das Mädchen hatte einen Liebsten draußen: War dem etwas zugestoßen?
Die junge hübsche Person konnte vor Tränen kaum sprechen, bei der Frage der Herrin strömten sie ihr unaufhaltsam übers Gesicht: »Nein, er ist gesund – aber da ist eine – eine in Belgien hinten – da, wo er so lange im Quartier gelegen hat – und die, die – ach, gnädige Frau!« Sie hielt sich das Staubtuch vors Gesicht und schluchzte krampfhaft. Es schüttelte ihren ganzen Körper.
Es bedurfte längeren Zuredens, um etwas aus ihr herauszubekommen. Sie wollte sich gern aussprechen, und doch war da wiederum etwas, das ihr den Atem verschlug. Endlich gestand sie: Ihr Bräutigam hatte sich mit der Belgierin eingelassen, nun erwartete die ein Kind von ihm; heute morgen hatte er's seiner Braut nach Hause geschrieben. »Er weiß ja nun auch nicht, was er machen soll, er ist doch 'n ehrlicher Mensch. Und ich – ich –?!« Emilie rang die Hände. »Was soll ich nun machen?«
Frau Bertholdi war bestürzt: Emilie war doch nicht etwa –?!
Emilie sprach weiter: »So'n fremdes schamloses Frauenzimmer, die mag ihm gut zugesetzt haben! Nein, ich weiß es wohl, er hat gar nicht dran gedacht, aber sie ist ihm nachgelaufen, an den Hals geworfen hat sie sich ihm, gnädige Frau oh, man weiß ja, wie die sind! Oh, hätt' ich doch nicht, hätt' ich doch nicht –!« Sie schlug sich vor die Stirn, immer mehr geriet sie außer sich. Und immer wiederholte sie: »Hätt' ich doch nicht, hätt' ich doch nicht!«
Immer ernsthafter sah die Herrin drein, etwas Befremdetes war in ihrem Ausdruck: Was würde sie hören müssen?
Da schrie Emilie es laut heraus, ihre tränengefüllten Augen flammten: »Hätt' ich doch nicht immer ›nein‹ gesagt – damals – nie wär' es so gekommen! Ich hab' nicht gewollt – ich hab' gedacht, ich darf es nicht tun. Aber man soll einem, der in den Krieg zieht, die letzte Bitte nicht abschlagen. Nun hat ihn die andere. – Oh Gott, was mach' ich nun, was mach' ich nun?!« Sich ihren armen Kopf mit beiden Händen haltend, lief sie aus dem Zimmer.
Bestürzt stand Hedwig: Die Emilie war so ein nettes, anständiges Mädchen, hatte immer auf sich gehalten – und nun? Sie schüttelte den Kopf. Man schlägt einem, der in den Krieg zieht, die letzte Bitte nicht ab – hatte die Krüger nicht einmal ganz ähnlich zu ihr gesprochen? Aber man kann doch nicht jedem Wunsch nachkommen.
Annemarie stürmte ins Zimmer, sie schwenkte ein Telegramm: »Hurra, wieder eins!« Es war von Rudolf. Sie standen beide, die heißen Wangen aneinandergelehnt, und lasen es. Und wie sie noch so dastanden, kam ein eilig-springender Schritt die Treppe herauf, die Tür wurde aufgerissen: »Mutter!« Mit einem überraschten Aufschrei fiel Hedwig Bertholdi ihrem Jüngsten in die Arme. –
Das entschädigte für viele traurige Tage, ja für die ganze Zeit des bangen Alleinseins. Die Mutter saß zwischen ihren beiden Söhnen am Tisch. Der Vater war auch gekommen. Wenn er sich auch nur für zwei Tage hatte freimachen können, nun waren sie doch alle wieder einmal vereint. Die Sektkelche stießen aneinander: »Euer Wohl!« sagte der Vater und sah seinen Söhnen mit Wohlgefallen in die gebräunten Gesichter.
Hedwig strahlte: Wie die Jungen aussahen! Aber das waren ja keine Jungen mehr, das waren Männer, breitschultrig bei aller Schlankheit, kräftig und sich ihrer Kraft bewußt. Sie konnte sich nicht sattsehen. Daß ihr Heinz ein hübscher Mensch war, hatte sie immer gewußt, aber daß auch Rudolf äußerlich sich so entwickeln würde, hätte sie nicht gedacht. Es waren mehr die inneren Vorzüge gewesen, die sie an ihm liebte; immer war er still gewesen, nachdenklich, verstand nicht viel aus sich zu machen – man ahnte in ihm den künftigen Gelehrten –, jetzt gab er Heinz nichts nach. Jetzt war er vielleicht sogar der Hübschere. Und so beredt. Während der Ältere mit einiger Zurückhaltung, mit einer gewissermaßen angeschulten Würde von seinen Kriegserlebnissen sprach, sie eigentlich kaum erwähnte – was war denn weiter dabei: Offizierspflicht –, erzählte der Jüngere mit sprudelnder Lebendigkeit von Märschen, von Strapazen, von Angriffen der Feinde und Gegenangriffen. Beim ›Toten Mann‹ war er mit dabeigewesen und seinerzeit auch an der Lorettohöhe. Allerlei Extrastückchen erzählte er, die sie sich geleistet hatten.
Die Mutter zitterte noch: »Aber Rudolf, so unüberlegt, so tollkühn!« Da lachte er ein so kräftiges, sorgloses Lachen, bei dem seine Augen glänzten und die weißen Zähne hinter dem blonden Flaum der Oberlippe blitzten. Er fuhr sich mit der breit gewordenen Hand durch das kurz geschorene Haar; früher war das in weichen Ringeln tief in die Stirn gefallen, hatte ihm ein träumerisches Aussehen gegeben. Jetzt war er kein verträumter Jüngling mehr, nein, ein ganz Fertiger und mit beiden Füßen in der Gegenwart Stehender.
Die Mutter sah ihn immer wieder an. Stieg nicht zwischen aller Freude doch eine leise Wehmut in ihr auf? War das denn noch ihr Rudolf, ihr Kleiner, ihr Jüngster? Sie brachte das Gespräch auf seine Bücher, auf seine Liebhabereien, Klavierspiel, Gedichte.
Er sah sie fremd an: War er das wirklich einmal gewesen, der sich für so etwas interessiert hatte? Unwesentliche Dinge! Seinetwegen konnte der Krieg noch länger dauern, ihm behagte es draußen, trotz der Strapazen und trotz all des Schrecklichen. Er konnte sich überhaupt gar nicht vorstellen, wie das später im Frieden werden sollte. Ihm würde es unter keinen Umständen einfallen, seine so jäh unterbrochenen Studien noch einmal aufzunehmen.
»Und ich habe immer gedacht, wir würden an dir einen Gelehrten in die Familie bekommen«, sagte die Mutter leise.
Der Sohn lachte: »Nein, Mutter, das kannst du nicht gut verlangen!«
»Aber was wirst du denn? Was soll denn werden?« Sollte auf einmal alles, alles anders sein? Nichts mehr bestehen bleiben von dem, was früher gewesen war?
Er lachte wieder. »Beunruhige dich nicht! Ich denke jetzt überhaupt nicht nach. Keiner von uns an der Front. Wir nehmen die Stunde so, wie sie ist, und fragen nicht viel nach der nächsten. Wenn wir das wollten, würden wir ja keinen Augenblick froh. Genießen, genießen, daß man noch lebt!« Er hob sein Glas und stieß es an das von Annemarie, die ihm gegenübersaß. Ihre Augen lachten ineinander: »Auf das Leben!«
Das Fräulein von Loßberg war immer hübsch, heute war sie schön. Wie seine Mutter den jungen Unteroffizier ansah, so sah auch sie ihn immerfort an. Der Champagner peitschte ihr das Blut durch die Adern; sie war dies Getränk nicht gewohnt, im Koblenzer Kasino hatte sie höchstens einmal von billigem Rheinschaumwein nippen dürfen. Mit Augen, die leuchtender waren als je zuvor, sah sie Rudolf Bertholdi an. Ihr Herz pochte; sie wußte selber nicht, warum sie so erregt war. Lange, lange hatte sie nicht empfunden, daß sie hübsch war. Heute wußte sie's. Die Augen der drei Männer sagten es ihr. Aber in Rudolfs Blicken war mehr als Bewunderung. Es stieg ihr zu Kopf und berauschte sie mehr als der Sekt: Triumphgefühl – er fand sie begehrenswert. Sie lachte, sie scherzte, sie glühte, sie war wie eine Rose, die plötzlich aufgesprungen ist zu voller Schönheit unter einem Sonnenkuß.
»Ist sie nicht reizend?« fragte Hedwig ganz beglückt ihren Mann, als sie von Tisch aufgestanden waren. Bertholdi nickte wohlgefällig; er aß gern gut und sah auch gern etwas Hübsches, er war frohgestimmt. Aber das Gesicht seiner Frau, das sie fragend zu ihm aufhob, rührte ihn auf einmal, er umfaßte es mit seiner großen Hand. »Ja, sehr hübsch. Aber du warst mindestens so hübsch. Bist noch immer hübsch, meine Hedwig!« Er sah sie liebevoll an und gab ihr einen Kuß.
Sie errötete und entzog sich ihm förmlich scheu: Das war sie ja gar nicht mehr gewohnt, daß er so zu ihr war.
Den Arm um ihre Schulter legend, zog er sie neben sich aufs Sofa. Auf diesem selben Sofa, wenn auch nicht im gleichen Raum, hatten sie oft dicht nebeneinander gesessen in den ersten Jahren ihrer Ehe. Warum war es nicht immer so geblieben? Der Mann sah die Frau an; lange genug war er jetzt fortgewesen, um zu fühlen, wie sehr er sie noch liebte. Es war viel mehr als eine freundliche Gewohnheit, die ihn an ihrer Seite hielt.
Sie saß ganz still. Mit träumerischen Blicken folgte sie den drei jungen Leuten, die aus dem Eßzimmer in den anstoßenden Wintergarten gingen. Da setzten sie sich an den kleinen Tisch unter der großen Palme. Die Brüder rauchten, auch Annemarie nötigten sie eine Zigarette auf. Was, sie hatte noch nie geraucht?
Nun qualmte sie keck. Den Kopf mit der braunen Haarfülle hintüber gelegt, versuchte sie gelehrig, Ringel zu blasen. Bei jedem mißglückten Versuch, bei jedem Gehüstel brachen die jungen Männer in Lachen aus. Sie lachten alle drei; ein Wort, ein Blick, ein Krausziehen von des Mädchens feiner Nase genügten zur Heiterkeit. Es war so wohlig, so warm unter den Palmen, der Duft von allerlei Blüten schwebte im Raum.
»Ist das famos hier«, sagte Heinz und stieß einen Seufzer des Behagens aus. »Man hat eigentlich gar nicht gewußt, wie schön es zu Hause ist!«
Ja, es war schön hier, aber jetzt noch viel schöner als früher! Mit einem heißen Blick umfing Rudolf die hellgekleidete Gestalt. War die wundervoll gewachsen, schlank und doch kräftig, üppig fast! Er fühlte sich mächtig gepackt; ganz plötzlich. Als er in den Krieg zog, war er noch zu jung gewesen – was hatte er da gewußt, was Liebe ist –, aber jetzt, jetzt?! Er atmete rasch: Das war Liebe auf den ersten Blick!
Mit einer Hast, die Zeit auszunutzen, keine Minute zu versäumen, die kostbar war, widmete er sich ganz dem schönen Mädchen. Und Annemarie ließ ihre Blicke spielen, lachte, errötete, senkte die Wimpern und sah ihn dann wieder voll an mit großen zärtlichen Augen. Sie waren beide plötzlich so erfüllt voneinander wie der Sommertag von der Sonne. Was ging sie noch Krieg an und schwarzes Menschenleid? Sie fühlten nur Freude, die Freude, jung zu sein und einander zu gefallen.
Der Ältere saß gelangweilt dabei, er kam sich überflüssig vor. Er stand auf; sie hielten ihn nicht zurück. Rauchend stand er ein paar Augenblicke am Fenster. Drinnen im Eßzimmer schienen die Eltern ein wenig zu ruhen, die Mutter in der einen Sofaecke, der Vater in der anderen, sie hatten beide die Augen geschlossen. Draußen lag der Garten im letzten Schein des Wintertages, wunderschön sah die große Linde aus und die Tannen mit dem flüchtigen Puder des Schnees. Der Kopf war ihm heiß. Der an viel frische Luft Gewöhnte fühlte das Bedürfnis nach ein paar freien Atemzügen. Leise schloß er die Glastür auf, die vom Wintergarten ins Freie führte.
Es fror leicht, die Wege waren trocken trotz des Schnees; der war weggestäubt und nur im Geäst und Nadelwerk der Bäume hängen geblieben. Im Westen war die Wintersonne bereits gesunken, aber sie hatte einen Glorienschein hinterlassen. Vom roten Goldgrund hoben sich, unendlich fein gepinselt, in silbernem Grau Äste und Ästchen, all das Filigranwerk ferner Gartenbäume ab, zart hingehaucht wie duftiges Gegitter eines Schleiers vor dem errötenden Angesicht des Himmels. Nur das Allernächste war wirklich. Da standen die Bäume groß und massig; aber auch sie schienen eingesponnen in silberigen Schimmer, versunken in traumseliges Schweigen.
Heinz Bertholdi ging im Garten umher. Es überkam ihn wohlig: zu Haus, zu Haus! Und doch konnte er es noch nicht glauben, der Unterschied war zu groß, zu plötzlich nach all dem Blut und Grauen; viel mehr Blut und Grauen, als er je geschrieben hatte. Dieser Friede! Er hob die Augen: Da war auch der Abendstern. Leise fing er an zu summen: »O du, mein holder Abendstern!« Wundervoll groß und klar stand der, fern dem feurigen Goldgrund in einem sanften Blaugrau. Und da tauchte auch der Mond auf, eine schmale, feine Sichel, aber scharf umrissen in kühler Unnahbarkeit hinter dem alten Birnbaum der Witwe Krüger. Alle Gestirne begrüßten ihn daheim. Der junge Mann lächelte: Und wer war denn das? Eine neue Erscheinung drüben im Nachbargarten!
Im Krügerschen Garten ging Frau Rossi. Sie mochte nicht draußen spazieren, die Straßen schienen ihr so öde, und jeder Blick, der ihre Gestalt in der Witwentrauer streifte, dünkte sie neugierig. Sie ging oft bei gutem Wetter hier auf und ab, hier störte sie niemand. Den Kopf gesenkt, wandelte sie langsam. Sie hatte einen dunklen Schleier ums Haar geschlungen, wie mattes Perlmutter schimmerte darunter ihr Gesicht. Zärtlich hielt sie das große weiße Kaninchen an ihrer Brust. Dessen rote Augen guckten verwundert: Das war ihm noch nie geschehen, spazierengetragen zu werden.
Der junge Mann grüßte über den Zaun. Er beabsichtigte nicht, keck zu sein, er wußte selber nicht, was ihn dazu trieb, ›Guten Abend‹! zu sagen. Diese sacht wandelnde Gestalt war ja keine Fremde, das war die Traumfrau im fließenden schwarzen Gewand, die leise kommt und Vergessen streut. Er hätte sprechen mögen: »Ich grüße dich! Ich heiße dich willkommen! Streue Mohn auf mein Haupt, daß ich das Grauen vergesse, das mir der harte Tag gebracht hat!« Aber er besann sich, fuhr sich über die heiße Stirn: Das war ja alles Unsinn, er hatte zu schnell und zuviel getrunken. Er stand plötzlich verlegen. Die Schwarzgekleidete hatte ein Paar große Augen auf ihn gerichtet. Er sah Erschrecken in ihnen und ein trauriges Fragen.
Lili hatte nicht bemerkt, daß drüben im Nachbargarten jemand war. Aus einem tiefen trüben Nachsinnen hatte sie der Gruß jäh aufgestört. Sie hatte an ihren Mann gedacht und darüber, wie es wohl geworden wäre zwischen ihm und ihr. Ob sie ihm an die Brust gestürzt wäre mit einem Jubelschrei, alles Trennende vergessend? Ach, jetzt konnte sie an ihn denken ganz ohne Vorwurf, in einer Liebe, die nichts mehr störte, in einer Liebe, die so seltsam geworden war, daß sie ihm sein Grab an der Halde des Berges gönnte. Ihm war so wohl, er ahnte nichts mehr vom Wüten gegeneinander – wie vielen Enttäuschungen war er entronnen! Wenn ihr doch auch so wohl wäre! Eine große Todessehnsucht erhob sich in der jungen Frau – wofür sollte sie denn noch leben? – Keinen Mann, kein Kind. Auf was wartete sie noch?!
Der junge Offizier machte eine Verbeugung, nannte seinen Namen.
Eine leise Freundlichkeit huschte für einen Augenblick über das traurige Frauengesicht: »Ach so, Leutnant Bertholdi, ich habe es gehört, Sie sind gestern gekommen!« Und sie reichte dem jungen Mann mit der Gebärde der großen Dame die Hand über den Zaun. Sie nahm sich zusammen, sie wollte ja niemandes Mitleid, sonderlich nicht von einem, der ihres armen Mannes Feind gewesen war. »Wir sind uns früher schon begegnet«, sagte sie kühl und verbindlich, »Lili von Voigt.«
»Ja, ja natürlich«, sagte er hastig, die Hacken zusammenschlagend. Wie unschicklich, sie nicht gleich zu erkennen! Er lächelte: »Sie waren damals die von fern Angeschwärmte der ganzen Jugend hier – und dann heirateten Sie den Leutnant Rossi.«
»Mein Mann ist tot.«
Er starrte sie an. »Gefallen?«
Sie nickte, die Brauen zusammenziehend. Er wußte nichts anderes zu tun, als sich tief vor ihr zu verneigen. Sie standen ein paar Augenblicke ganz stumm. Was sollte er sagen, sein höfliches Beileid aussprechen? Das brachte er nicht über die Lippen; es erschien ihm heute alles so anders, so merkwürdig gehoben, der Alltäglichkeit mit ihren gewohnten Formen ganz entrückt. Diese Frau war nicht wie eine andere Frau, diese Frau war gleich einer Erscheinung. Doch ärgerte er sich über sich selber: War er denn so ungewandt? Er nahm sich zusammen, er setzte zu einer Unterhaltung an. Das weiße Kaninchen kam ihm zu Hilfe. Es sprang ihr vom Arm, mit einem Satz war es weg und hopste zwischen den Kohlstrünken. »Frau Krügers Kaninchen! Schneeweißchen, hier!«
Aber wie ein Hund gehorchte das Tierchen nicht, es freute sich seiner nicht gewohnten Freiheit. Jetzt setzte es sich hin und machte Männchen wie ein Hase. Sein rosiges Näschen schnupperte. Jetzt hopste es wieder rasch davon, sich beim Sprunge förmlich überschlagend und mit den Läufen aneinanderklopfend.
»Schneeweißchen, Schneeweißchen!« Aber je mehr sie es jagte, desto geschwinder wurde es.
Der junge Mann stützte die Hand auf den Zaun. Gewandt schwang er sich hinüber. »Gestatten gnädige Frau, daß ich helfe!«
Nun jagten sie zu zweien. Es war nicht so leicht, das Tier einzufangen; oft legte es sich hin, duckte den Kopf zu Boden, aber kaum streckte sich eine Hand nach ihm aus, war es auch schon wieder weg.
Sie stolperten zwischen Mutter Krügers Kohlstrünken. Der junge Mann lachte: Das war ja urkomisch. Jetzt lachte auch die Frau in dem schwarzen Kleid. Sie fühlte auf einmal wieder ihre Jugend. Der Schleier war ihr vom Kopf geflogen, ihr Haar wehte, der Atem ging ihr rasch, sie wurde heiß und rot. Alles andere war für den Augenblick vergessen.
»Aufgepaßt«, schrie er, »ich treibe es Ihnen zu!« Lachend rief sie: »Au, wieder entwischt! Halten Sie's, halten Sie's!«
Es war wie ein Spiel. Endlich hatten sie den Ausreißer; das verängstigte Geschöpf zitterte. Lili nahm es wieder an ihre Brust, sie streichelte es, ihre Stimme klang liebkosend: »O du armes Tierchen! Aber warum läufst du auch fort, warum willst du nicht bei mir bleiben?«
»Ja, das weiß ich auch nicht!« Der junge Offizier betrachtete sie mit einem bewundernden Blick: Wie die paar Minuten sie verändert hatten! Nun war sie wieder jung wie ein Mädchen und doch frauenhaft weich und zärtlich und wunderschön. Er streichelte das Tier auch.
»Fühlen Sie nur, wie seine Flanken zittern. Hier – wie sein Herzchen klopft!« Sie führte seine Hand.
Auch sein Herz klopfte. –
Als Heinz Bertholdi diesen Abend im Bette war, lag er noch lange mit offenen Augen. Jetzt hätte er es nun einmal haben können, so recht ruhig auszuschlafen: kein Geschützdonner, kein Trappen von nägelbeschlagenen Soldatenstiefeln, kein Huschen von langgeschwänzten Ratten. Kein Befehl konnte ihn aufwecken und kein Gefühl der Verantwortlichkeit, und doch kam der Schlaf nicht. Diese Frau gefiel ihm jetzt tausendmal besser denn als Mädchen. Da war Lili von Voigt ihm öfters begegnet, als er noch mit den Büchern unterm Arm in die Prima ging. Sie hatten dann immer hastig die Mützen von den Köpfen gerissen, er und die anderen Primaner: ›die schöne Lili!‹, aber die Schwärmerei der übrigen hatte er nicht geteilt; sie hatte etwas zu Unnahbares gehabt. Jetzt hatte ihre Schönheit etwas Rührendes. Frau Leutnant Rossi, Witwe – schon eine Witwe – arme junge Frau! Ihr Mann lag draußen erstarrt im kalten Tod. Und sie mußte nun selber erstarren wie im Winterschnee in ihrer Einsamkeit.
Als er endlich schlief, sah er im Traum die junge Witwe, und Hunderte und Aberhunderte von Witwen gingen hinter ihr her. Ein langer, langer Zug. Er wollte sie zählen, er konnte es nicht, es waren ihrer zu viele. Ihre schwarzen Kleider rochen nach Moder, ihre schwarzen Schleier wehten wie Trauerflaggen. Junge Gesichter, schöne Frauen – sie sahen alle aus wie Lili von Voigt. Er wollte sich abwenden und konnte es nicht, er mußte zu ihnen hinsehen wider seinen Willen. Und er mußte sie hören. –
Sie klagten im Chor: »Einsam, einsam, wir sind so einsam, und wir sind noch jung. Unsere Arme sind warm, unsere Herzen sind heiß, wir gehen in Schwarz und trügen doch lieber Rosenrot. Fluch über den Krieg! Er hat uns zu Witwen gemacht. Räche uns, räche uns, du junger Krieger!«