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8

Man sah in den Straßen jetzt viele Urlauber, draußen im Feld war augenblicklich ruhigere Zeit. Es tat ihnen not, wieder einmal in der Heimat zu sein, sonderlich denen, die im Westen die deutsche Linie gehalten hatten gegen den furchtbaren Ansturm.

»Ob mein Mann auch zu Hause kommt?« sagte Minka Dombrowski zu Gertrud Hieselhahn. Diese zuckte die Achseln. Es lag Sorge in ihrem Blick: Wenn der Mann dahinterkäme! Hatte ihr die Dombrowski nicht oft genug erzählt, wie eifersüchtig er war – und hatte er denn nicht auch alle Ursache dazu? Seit jenem Sonntag, an dem die Frau weggegangen war im weißen Kleid und erst am andern Morgen wiederkam, ganz zerfledert, und sich aufs Bett geworfen hatte und ausgeschlafen bis in den hellichten Mittag, erzählte sie wieder und wieder von ihrem Barbier, der in Berlin ein schönes Geschäft hatte. Sie schwatzte immerfort davon. Kam der Mensch denn nicht bald wieder ins Feld? Gertrud hoffte darauf, aber die Dombrowski erzählte lachend: Ihr Berliner verstand's. Wenn der auch 'rauskam, der kam doch bald wieder. Der kriegte ja wieder seinen Rheumatismus.

Gertrud biß sich auf die Lippen, sie mußte stille sein. Es wäre ihr lieb gewesen, hier herauszukommen, aber sie hatte nicht Geld genug, es war alles schon so teuer, und es wurde teurer mit jedem Tag. Diese Wohnung hier in dem entlegenen Anwesen war wenigstens billig. Und die Dombrowski gutmütig, die würde sie nicht drängen, wenn sie einmal die Miete nicht bezahlen könnte. Aber ihr war nicht wohl zumut.

Die Dombrowski, die früher Fleißige, vernachlässigte jetzt ihre Wasch- und Reinmachstellen. Ein paarmal schon hatte die Frau General von Voigt nach ihr geschickt, und die Frau Leutnant Rossi hatte eine Karte geschrieben; sie hatten vergebens gewartet. »Sie müssen doch wenigstens absagen«, sagte Gertrud.

»I wo!« Minka lachte. »Soll'n se sich ihre Hemden allein waschen und ihre Fenster selber putzen, man is doch nich bloß 'n Arbeitstier. Mein Mann is im Feld, der tut genug, ich wer' mich doch nich auch noch zuschanden machen. Abschuften um so 'n paar Groschen.« Als sie das bestürzte Gesicht Gertruds sah, lenkte sie freilich ein: »Na, Sie müssen das nich so nehmen, Fräuleinchen. Ich geh ja schon!«

Meist blieb die Dombrowski zu Hause, schlumpte in ihrer kleinen Wirtschaft herum und fuhr dann oft nach Berlin. An der noch immer offen stehenden Tür des leeren Schuppens hing noch immer der zerrissene Männerrock, und der Pumpe war noch immer der Hut ohne Boden aufgestülpt. Merkwürdig war's, daß die Kinder nicht noch ungezogener wurden.

Es war Frau von Voigt gewesen, die einen allgemeinen Zusammenschluß von den Damen der Gemeinde ins Leben gerufen hatte. »Unsere Männer sind im Feld, unsere Söhne auch, wir haben Zeit genug. Hier sind soviel Frauen und erwachsene Töchter, alle können nicht Verwundete pflegen, es ist mindestens so wichtig, daß wir sorgen, daß den Kindern der Mangel an männlicher Zucht nicht zu fühlbar wird. Was droht sonst den Jungen? Die Besserungsanstalt. Und den Mädchen –?«

Es war auffallend, wie wohl den kleinen Dombrowskis das strenge Auge tat, das über ihnen wachte. Vor der großen Dame, die so streng guckte und die auch neulich in die Schule zur Lehrerin gekommen war, hatten die Kinder Respekt. Den Erich hatte sie schon einmal empfindlich am Ohr gezogen, als sie ihn dabei traf, wie er aus dem Obstkorb, den der Gemüsehändler an der Bahn vor seiner Tür stehen hatte, einen Apfel nehmen wollte. »Hast du das schon öfter getan?« Ihre Augen bohrten sich bis auf den Grund seiner Seele. »Was würde dein Vater sagen, der draußen im Krieg ist, wenn er nach Hause kommt und das hört!«

Dem Jungen schossen die Tränen in die Augen: Ja, den Vater, den hatte er lieb, und den Apfel – na, er hatte doch Hunger.

»Da hast du den Apfel, ich kaufe ihn dir. Aber tu so was nie wieder! Ein Junge, der seinen Vater im Krieg hat, der muß auch kämpfen – gegen sich selber.«

Was das hieß, gegen sich selber kämpfen, verstand Erich Dombrowski nicht. Aber daß die strenge Dame doch auch gut war, verstand er. Als ihm seine Schwester Minna vorschlug, an Dietrichs Zigarrenladen das Schaufenster mit Kot zu beschmieren, den sie von der Straße aufgerafft hatte, schlug er ihn ihr aus der Hand: »Was würde Vater sagen, der draußen im Krieg ist?« Und überzeugt setzte er hinzu: »Der weint dann!«

»Och, Vater weint ja jar nich«, sagte Minna.

»Doch weint er!« Erich zerrte die Schwester weg und stieß sie in den Rücken zum Fortgehen.

Gertrud lachte: Wenn sich doch auch jemand so um ihr Kleines kümmern möchte. Der Junge wurde nun schon munter, wollte nicht mehr den ganzen Tag im Wagen liegen und schlafen. Jede freie Minute nahm sie ihn heraus und spielte mit ihm, sie ließ ihn schon stehen. Er setzte seine Füßchen schon ganz richtig, aber mit dem Laufen wurde es noch nichts, er fiel um. Zumeist kroch er. Doch der Boden war kalt, kein Teppich bedeckte ihn, keine Strohmatte, zwischen den schlechtgefügten Dielen wuchs der Schwamm, es war feucht in dem Häuschen, das ohne jeden Schutz allen Winden und Güssen preisgegeben stand. Gerade an die Außenmauer ihrer Stube schlug immer der Regen an, und wenn es draußen fror, dann glitzerte innen die dünne Wand, von Eiskristallen bedeckt. Aber alles wäre noch nicht so schlimm gewesen, hätte sie nur mehr Zeit für das Kind gehabt. Die lange Fahrt nach Berlin, der weite Weg dort zur Arbeitsstelle! Aber sie fand nichts in der Nähe.

Heute wollte es sich ihrer wie Verzweiflung bemächtigen, als sie erst am späten Abend das Kind auf den Arm nehmen konnte und mit ihm in der Stube auf und ab wandern. Sie war todmüde: früh aufgestanden, in die Stadt gefahren, lange gearbeitet, kein rechtes Mittagessen, nur ihre mitgenommenen Brote und dazu ein bißchen Kaffee – sie hätte sich gern schlafen gelegt, aber der Kleine wollte jetzt unterhalten sein. Sein Gesichtchen war verschwollen, er mußte lange geweint haben. Hatte die Dombrowski sich denn gar nicht seiner erbarmt?

Gertrud machte die Stubentür auf und rief in den dunklen Flur. Vielleicht hatte Minka noch ein wenig Feuer. Es war kalt hier im Zimmer, im flackernden Schein der dünnen Kerze glitzerte die Wand mit den Eiskristallen. Ihr Ruf verhallte ungehört, der kalte Ziegelflur gähnte sie an, stumm und dunkel wie eine Gruft; hastig schlug sie die Tür wieder zu.

Nebenan in der Stube, wo die Kinder jetzt schliefen – die Dombrowski hatte sie da heruntergetan, weil's unten wärmer sei –, rührte sich etwas. Es pochte leise gegen die trennende Wand. Nun wisperte es: »Was 's denn los?«

»Ist Mutter nicht da?«

»Nee.«

»Ja, Mutter is doch da«, piepte Minna.

Was der Junge nun noch durch die Wand flüsterte, verstand Gertrud nicht. Sie ahnte es – da war wohl Besuch oben? Oh, diese Frau, was sollte das werden? Jetzt hatte sie gar schon jemanden oben. Am liebsten hätte Gertrud die Tür wieder aufgerissen, wäre die Treppe, die steil wie eine Leiter zu der Mansarde hinaufführte, emporgeklettert und hätte mit der Faust angepocht: »Schämen Sie sich!« Es verschlug ihr den Atem. Aber dann besann sie sich: Was ging es sie an, was jene tat? Hatte sie denn so großes Recht, die Tugendsame zu spielen?

Zusammenschaudernd schob Gertrud den Riegel vor ihre Tür; es war ihr ein unheimliches Gefühl: ein fremder Mann im einsamen Haus. Ach, wenn doch der Dombrowski käme! Dombrowski –?! Es stieg ihr plötzlich heiß zu Kopf. Nein, der lieber nicht – wenn doch der Friede käme, endlich der Friede! Der mußte vieles wiederbringen. Ihr brachte er freilich nicht viel. Nicht den Geliebten zurück, den ihr die Sorgen jeglichen Tages schon in die Ferne gerückt, der ihr aber heute wieder so nahe war, merkwürdig nahe. Der Mann, den sie oben bei Minka wußte, machte sie unruhig. Allerhand Gedanken kamen ihr, heimliche Erinnerungen und auch Vorwürfe, die sie sich selber machte; aber die Erinnerungen waren doch stärker.

Bebend vor Kälte und im Schauer der Erinnerungen kroch Gertrud in ihr eiskaltes Bett. Sie nahm ihren Kleinen neben sich und zog die Decke hoch herauf; mochte geschehen oben, was da wollte, sie wollte nichts hören und sehen. Aber das eine wußte sie: Hier mußte sie fort. Aber wohin –?!

Am nächsten Tage war Minka Dombrowski etwas scheu. Ihre schwarzen Augen blickten zur Seite, als Gertrud fragte: »Haben Sie mich gar nicht rufen hören gestern abend?«

Sie hätte Zahnschmerzen gehabt, den Kopf sich dick zugebunden. Dabei ließ sie in einem verlegenen Lachen ihre kerngesunden starken Zahnreihen sehen.

Gertrud sagte kein Wort mehr darüber. Der Kopf war ihr benommen, sie hatte wenig geschlafen. Spät in der Nacht hatte sie Tritte gehört, die Tritte des Mannes, der sich jetzt entfernte, unter ihre Türschwelle war Lichtschein geschlüpft. Oh Gott, Herr Dombrowski, Herr Dombrowski!

Den ganzen Tag wurde sie die traurigen Gedanken an den betrogenen Mann nicht los. Als sie am Abend von der Arbeitsstube durch die naßkalte Winternacht zur Bahn ging, um nach Hause zu fahren, dünkte ihr selbst Berlin traurig. So hatte sie es noch nie gesehen. Lag es nur an ihrer eigenen Stimmung, oder war es wirklich so trübselig leer, wie sie es heute empfand? Es gingen ja noch Menschen, viele Menschen sogar, aber sie gingen in stummem Eilen. Nichts mehr von dem behaglichen Schlendern, vom Herumstehen an den Ecken und vor den strahlenden Schaufenstern, nichts von all dem Getriebe, das in einem immerwährenden Summsen über den Straßen schwebt. Und der Nachthimmel, der sich über die Riesenstadt wie ein dunkles Tuch breitet, war nicht angeschimmert vom Glanz strahlender Beleuchtung. Die großen Geschäftshäuser, die sonst die Buchstaben ihrer Firmen in immer wechselnden Lichtern aufleuchten ließen wie aneinandergereihte goldene, silberne, bunte Sterne, hatten ihre Reklamen eingestellt.

Ein dunkles Gefühl, dessen Ursprung sie sich nicht klarmachte, kroch Gertrud an. Würde die Zeit noch härter werden? Wie würde es ihr dann ergehen, ihr, der armen Arbeiterin, der ledigen Mutter mit dem vaterlosen Kind?! Ihr wurde so bange, daß sie sich am liebsten vor den Zug geworfen hätte, statt in ihn einzusteigen. Wo sollte sie dann hin, zu wem flüchten? Jeder hat doch eine Zuflucht auf der Welt, sie hatte keine, sie war ganz allein auf sich gestellt. Und war müde und hungrig. Einen Augenblick schoß es ihr durch den Kopf: seine Mutter! Wenn sie zu der ginge, die würde ihr die Tür jetzt vielleicht nicht verschließen. Aber dann sah sie die harten Augen der Frau vor sich, und der alte Groll bäumte sich auf in ihr: Wenn die nicht gewesen wäre! Nie und nimmer würde sie zu der gehen, nie. Unter die Räder, unter die Räder, dann war alle Not zu Ende!

Die Stirn gegen das angelaufene Fenster des Abteils gedrückt, starrte Gertrud hinaus in die Finsternis, die sie durchrasselten. Ihr graute vor dem Heimweg über das winddurchpustete Feld, ihr graute vor ihrer kalten Stube, ihr graute vor dem Leben überhaupt. Mit einem tiefen Seufzer hob sie die Stirn vom Fenster und lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen zurück an die Holzwand des Sitzes.

»Ist Ihnen nicht wohl?« Eine Hand berührte leicht ihren Arm. Erschrocken machte sie die Augen auf. Sie hatte es gar nicht bemerkt, daß im letzten Augenblick der Abfahrt noch jemand die Wagentür aufgerissen hatte und eilig eingestiegen war.

Die Dame in dem kostbaren Pelzmantel paßte gar nicht in die dritte Klasse, die tat aber ganz so, als führe sie immer hier. Mit einer Frau, die, einen Henkelkorb auf dem Schoß, neben ihr gezwängt saß, einigte sie sich freundschaftlich. Einem kleinen Jungen gegenüber, der sie mit den baumelnden Füßen stieß, sagte sie: »Laß die Zappelei, mein Jungchen«, sah ihn aber dabei freundlich an.

Frau von Voigt fiel das blasse verstörte Gesicht auf, das ihr gegenüber mit geschlossenen Augen gegen die harte Wand lehnte. Wie viele solcher Gesichter sah man jetzt! Es war nicht Neugier in der Stimme, die Gertrud Hieselhahn fragte. Frau von Voigt fühlte es: Ihrer Seele war im Krieg das Mitleid gewachsen wie einem Vogel die Flügel, die nicht mehr gestutzt werden; Stand und Erziehung hatten sie eingezwängt gehalten, jetzt flatterten ihre Gefühle freier.

Gertrud richtete sich auf und rückte die Pelzkappe zurecht, sie fühlte die klaren Augen forschend auf sich ruhen. Sie brachte es aber nicht fertig, abweisend zu sein, sie sagte: »Danke sehr, mir ist ganz wohl, ich war nur müde.«

Ein sympathisches Gesicht! Frau von Voigt sah die ganz zerstochenen Finger, die keine Handschuhe trugen. Ein Gesicht mit einem feinen Ausdruck, nicht das einer ganz gewöhnlichen Arbeiterin. »Sie sind wohl in Berlin beschäftigt? Wohnen Sie auch draußen?«

Gertrud lächelte dankbar – wie lange hatte sie keiner teilnehmend gefragt!

»Ich nähe Tornister«, antwortete sie leise; sie neigte sich zu der ihr gegenüber Sitzenden, die anderen brauchten ja nicht zu hören, was sie sprach.

Frau von Voigt sah ganz aus der Nähe in ein Paar Augen, die schon so viel geweint hatten, daß der Glanz der Jugend weggeweint war. »Verdienen Sie denn gut?«

»Vier Mark fünfzig, wenn ich den ganzen Tag arbeite. Früher nähte ich auf Militärmäntel, das war besser. Aber ich fürchte, es hat auch bald ein Ende mit den Tornistern; das Leder fehlt. Und was ich dann mache?!« Ein düsterer, in sich gekehrter Ausdruck kam in die braunen Augen. »Straßenkehren – wer weiß, das kommt auch noch!« Es fuhr ihr bitter heraus, es war, als ob die Blicke der Dame ihr alles herauszogen. »Ich könnte Kontorarbeit machen, hab's gelernt. Aber mich nimmt ja keiner!«

Klang das nicht wie ein Aufschrei tiefinnerer Not? Frau von Voigt legte ihre Hand begütigend auf die zerstochenen Finger. Die Mitfahrenden hatten schon hingehorcht, so flüsterte sie: »Lassen Sie es jetzt gut sein. Wir sprechen ein andermal darüber. Wollen Sie nicht zu mir kommen?« Sie nannte ihren Namen und ihre Adresse.

Gertrud fuhr zusammen: daß sie die nicht wiedererkannt hatte! Das war ja der Dombrowski ihre Exzellenz. Scheu stammelte sie: »Danke!« Und dann schwieg sie.

Die Dame hatte ihr noch zugenickt: »Also auf Wiedersehen!« Gertrud empfand die Freundlichkeit, aber nein, hingehen würde sie doch nicht. Was wußte eine so vornehme Dame von ihrer Not?!

Als sie an dem Zigarrenlädchen von Dietrich vorüberkam, fiel es ihr plötzlich auf die Seele, wie lange sie Margarete nicht gesehen hatte. Über der eigenen inneren und äußeren Not hatte sie die ganz vergessen. Sie guckte einen Augenblick ins Schaufenster. Frau Dietrich stand gerade in dem schwachbeleuchteten Lädchen hinterm Ladentisch. Augenblicklich war kein Feldgrauer drinnen, der sich Zigarren kaufte. Gertrud trat rasch ein und fragte nach Gretchen.

»Ach Gott, Fräulein Hieselhahn!« Das kleine Gesicht der Frau erschien heute noch kleiner. »Gretchen ist nicht da.«

»Hat sie noch Dienst?«

»Dienst? Sie ist doch gar nicht mehr auf dem Amt. Wissen Sie das denn nicht?« Die Mutter war sehr erstaunt.

»Ich habe sie lange nicht gesehen.«

»Und da sagt sie doch immer, sie ginge zu Ihnen. Gott nee, Fräulein Hieselhahn!« Die Frau fing plötzlich an zu weinen: »Ich weiß gar nicht, was das mit Gretchen ist. Sie ist zu nervös. Bald sagt sie so, bald sagt sie so. Sie war 'ne Weile beurlaubt, jetzt haben sie sie aber ganz entlassen. Der Dienst ist auch zu schwer. ›Mutter‹, sagt sie, ›du glaubst gar nicht, was alles zusammentelephoniert wird. Und dabei hat man doch auch seine eigenen Gedanken.‹ Ich bin froh, daß sie den Beruf aufgegeben hat. So schwer es auch für mich ist; ich muß nun für alles alleine aufkommen.«

»Sie wird sich ja bald verheiraten«, tröstete Gertrud.

»Meinen Sie?« Die verängstigten Augen der Mutter wurden noch verängstigter.

»Was hört sie denn von ihrem Bräutigam? Geht es ihm gut? Kommt er nicht bald her?«

»Fräulein Hieselhahn«, die Frau trat ganz dicht an sie heran und flüsterte: »Das ist es ja gerade! Bald sagt sie: ›Er kommt übermorgen‹ und lacht und freut sich wie toll – bald sagt sie: ›Er ist verwundet‹ und hat sich wer weiß wie. Und dann sagt sie wieder: ›Er kommt nie!‹ und weint sich halbtot. Fräulein, ich sage Ihnen, man kann verrückt drüber werden. Das war ja noch nicht mal so schlimm, als mein armer Mann damals so lange krank lag an Wassersucht und dann starb, als wie ich es jetzt mit Gretchen habe. Denken Sie bloß, fällt sie doch neulich einem Feldgrauen um den Hals, der hier im Laden steht und sich Zigarren kauft. Sie hat einen Aufschrei dabei getan, der gellt mir noch in den Ohren. Der Mann hat sich eins gelacht: ›Man nich so stürmisch‹ – 's war ein verheirateter Mann, gar nich mehr jung. Sie hat ihn nur von hinten gesehen, die Feldgrauen sehen sich ja alle gleich. Aber dann hat sie sich eingeschlossen. Vergebens habe ich an der Tür gebettelt: ›Mach doch mal auf!‹ Ich hatte richtige Angst. Und dabei muß man doch hier im Laden stehn und freundlich sein und kann noch nicht mal sagen, warum man falsch zusammenrechnet oder nicht richtig 'rausgibt. Die Angst sitzt mir noch in den Knochen, ich werd' sie gar nicht mehr los. Wenn bloß der Krieg bald ein Ende hätte!«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Gertrud beklommen.

»Ach, bleiben Sie doch 'n bißchen«, bat die Frau, »sie wird ja vielleicht gleich kommen.«

»Wo ist sie denn hin?«

»Das weiß ich nicht, fragen darf ich ja nicht, dann wird sie böse. Ich muß sie ganz gewähren lassen. Aber so schlimm wie jetzt war's noch nie: immer an ihn schreiben, nichts als an ihn schreiben und Paketchen schicken. Sie glauben gar nicht, was sie alles schickt: Kuchen, Schokolade, Pralinees, Choleratropfen, Pfefferminz, Wurst, Strümpfe. Sie spart sich's vom Munde ab, wir haben's ja auch nicht dazu.« Die Frau rang die Hände: »Fräulein, ich weiß nicht, mir ist es so bange!«

Bange war es auch Gertrud Hieselhahn. Wenn man Gretchen doch nur beeinflussen könnte, daß sie ruhiger würde! Noch dachte Gertrud darüber nach, als sie sich plötzlich von zwei Armen stürmisch umschlungen fühlte, ihr Schritt wurde gehemmt. »Trude!«

Da war ja Gretchen! Heiße Küsse brannten auf Gertruds Mund.

»Fein, daß ich dich treffe! Ich bin so glücklich, so glücklich. Trudchen, nun kommt er bald, nun machen wir Hochzeit! Heut war ich bei Hertzog, hab' mir weiße Seide zum Kleid gekauft. Schön bin ich ja nicht, das weiß ich, aber dann werde ich schön sein. Trudchen, Trudchen!« Immer wieder umarmte sie die Freundin; ihre Augen glitzerten im Halbdunkel der trüben Straßenbeleuchtung.

»Hat er denn geschrieben, wann er kommt?«

»Noch nicht genau. Aber weißt du –« Margarete Dietrich hängte sich schwer an den Arm der andern und ging mit ihr weiter –, »heute nach Tisch hatte ich mich 'n bißchen hingelegt, ich war eingenickt, da trat er ins Zimmer. Er kam zu mir ans Bett. Er beugte sich über mich und gab mir 'n Kuß – oh, Gertrud!« Sie holte tief Luft, ihre Arme zitterten, es lief ein Schauer über ihre ganze Gestalt. »Und er sagte: ›Halt dich bereit – ich komme!‹ Da bin ich gleich aufgestanden, hab' mich fertig gemacht und bin nach Berlin zu Hertzog gefahren. Einen Myrtenkranz habe ich mir auch gleich besorgt. Willst du mal sehen, Trudchen?«

Sie wollte eine Rolle und ein Kästchen, das sie trug, aufmachen.

»Nein, nein, jetzt nicht!« Gertrud wehrte hastig ab, das Mädchen war ihr unheimlich. »Geh nach Haus, Gretchen, deine Mutter ängstigt sich um dich.«

Die Dietrich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Laß sie warten! Ich hab' ja auch warten müssen. Du –« sie drängte sich dicht an die andere –, »willst du dir nicht doch den Kranz ansehen und das Kleid? Sie sind so schön. Komm, da unter die Laterne!«

Gertrud riß sich los. »Geh nach Haus, ich muß auch nach Haus!«

Sie rannte davon, sie hörte nicht mehr, was die andere hinter ihr drein schrie. Von unbestimmtem Grauen durchrieselt, lief sie schnell. Oh Gott, der Krieg, der Krieg – die war ja ganz verstört! Scheu sah sie sich um: Hörte denn nicht auch sie heute abend überall Geflüster? Unterdrücktes Lachen, ein Geräusch wie von Küssen?

In der Dunkelheit schlichen die Pärchen. Sie hatten der frostigen Luft nicht acht und nicht des Schmutzes der Straße. Die Kriegsbräute hingen ihren Soldaten am Halse. Seit Anfang des Winters war Militär her verlegt, die Einsamkeit des Vororts war wie gemacht zu Liebeshändeln. Wer ging denn hier sonst noch über die abendlich verödete Straße?! Niemand störte den Soldaten und sein Mädchen. Manch einer, der zu Hause schon eine Braut sitzen hatte, fing jetzt noch einmal aufs neue an.

Der Krieg drängt zum Leben. Je grausiger draußen das Grausen, desto zärtlicher drinnen die Zärtlichkeit. Und man mußte die Zeit, die noch blieb, ausnutzen.

In den dunklen Alleen standen sie; wenn die Bäume auch jetzt entlaubt waren, die breiten Stämme gaben doch Schutz. In die Türnischen der Villen drückten sie sich, hinter den Gittern der Gärten verbargen sie sich. Es war kalt, und doch ging es wie ein Odem der Erhitzung durch die Winternacht, ein Wind der Aufregung peitschte die kahlen Äste und die Seelen der Menschen.

Gertrud war jetzt draußen auf der Chaussee, von den Feldern wehte es, schnob sie an, als sei sie nackt und bloß, und zerrte an ihrem Leibe.

Von der Dombrowski war nichts zu sehen, der einsame Flur des Hauses gähnte dunkel. Als Gertrud ihre Stube aufschloß, empfing sie das Weinen ihres verlassenen Kindes.


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