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Wenn jetzt Frau von Voigt spazierenging, sah sie, wie überall, an Stelle der weiten, gras- und gestrüppbewachsenen Flächen, die den Vorort umgaben, das Ödland sich anschickte, Acker zu werden. Da hatten überall Häuser hinkommen sollen, freundliche Villen in Gärten gebettet, aber der Krieg hatte Halt geboten. Alle Bautätigkeit ruhte. Sie, die da bauen sollten, lagen im Graben oder richteten die Geschütze gegen den Feind, oder fuhren Munition, oder waren bei den Armierungstruppen, betonierten die Unterstände und richteten Stacheldrahtverhaue auf. Jetzt waren die Frauen am Werk. Es war fast keine hier, die nicht ein Stückchen Land gepachtet hatte. Wenig war's, aber es würde genügen, Kartoffeln zu ernten, ein bißchen Kohl, ein paar Rüben, das Notdürftigste, was man zum Leben braucht. Die Karten allein taten's nicht, es war klüger, man baute sich selber etwas an. Wenn man nur Kartoffeln hatte. Auch ohne Fett ersetzten die Fleisch und Brot.
Wie sollte es werden?! Mit einem gewissen Bangen sah Frau von Voigt in die Zukunft. Das, was ihr Mann schrieb von militärischer Überlegenheit, von den Erfolgen zu Wasser und zu Land, von den Heimsuchungen Englands durch die Luftschiffe, von dem guten Geist in der Marine und an der Front, von den kühnen Aufklärungsflügen der Flieger, das las sich wunderschön, sie las es mit einem Aufatmen. Aber wie sah es hier im Lande aus? Würde hier auch alles so gutgehen?
Wie sich die verhärmten, abgemüdeten Frauen mühten! Jahrelang war das Land verunkrautet, von Heidegrün überwuchert; ein Pflug hätte leichter sich Bahn geschafft, aber sie gruben's um mit dem Spaten, legten ihre dürftige Saat und wanderten jede Freistunde heraus. Und es war eine stete Besorgnis: Ging es schon auf? Hackten auch die Krähen nicht alles weg?
»Sieh mal, Lili«, sagte Frau von Voigt zu ihrer Tochter, »da buddelt wahrhaftig auch unser Nachbar, der alte Geheimrat!«
Die Mutter holte jetzt zuweilen die Tochter zum Spazierengehen ab. Es hatte Lili erst Überwindung gekostet – ach, sollte sie die gleichen Wege gehen, ohne ihn! aber die Mutter hatte so herzlich gebeten: »Es würde dir doch guttun, dir und mir, in der Natur ist Friede«, daß sie nicht ›nein‹ sagen mochte. Nun kamen sie an einem Stück Land vorbei, das ein paar Pfähle und dünn gespannter Draht abgrenzten. Der alte Herr, der darauf schaffte, bemerkte es gar nicht, daß die Damen stehenblieben. Erst als sie ihn laut grüßten, wurde er aufmerksam.
Der Geheime Rechnungsrat war in Hemdsärmeln, den Rock hatte er ausgezogen und auf eine Stange gehängt, sein greises Haar flatterte im luftigen Wehwind. Verlegen wollte er in den Rock schlüpfen, aber die Generalin hielt ihn davon ab: Das wäre ja noch schöner, wenn er sich jetzt genieren wollte. »Alle Achtung, Herr Geheimrat, daß Sie so schaffen! Was pflanzen Sie?«
»Kohl, Kohl, Exzellenz. Und Kohlrüben, Spinat, Erbsen, Bohnen; allerlei. Was soll man denn essen? Die Kartoffeln habe ich drin – Gott sei Dank, daß wir so'n günstiges Frühjahr haben! Wenn meine Jungens mal auf Urlaub kommen sollten, kann ich ihnen doch wenigstens was vorsetzen. Meine Frau sagt: ›Auf dem Markt ist's nicht mehr zu bezahlen!‹ Unsereiner, der mit seiner Pension auszukommen hat, muß sich eben anderweitig Rat schaffen. Übrigens bekommt mir die Landwirtschaft ausgezeichnet.« Der alte Herr mit dem weißen Haar hatte Farben wie ein junges Mädchen. Er lachte: »Das hätte mir früher einer sagen sollen, als ich noch auf meinem Drehstuhl im Ministerium saß, daß ich hier einmal Mist spreiten würde! Aber Exzellenz, es geht; es geht alles jetzt. Ich habe mir auch ein paar Gartenbücher angeschafft, an ihrer Hand behandle ich diese sandige Scholle. Sehen Sie mal, Exzellenz!« Er zeigte stolz auf die schon aufgegangenen Erbsen; die stützenden Strauchreihen standen bereits. »Und wenn erst die Bohnen aufgehen! Es ist wirklich interessant, dies Keimen und Werden zu beobachten. Ich hätte es früher nicht für möglich gehalten, daß einen das innerlich so beschäftigen kann. Es zieht glücklich von trüben Gedanken ab.«
Er bückte sich und pflückte ein paar bescheidene Blümchen, die zwischen den Pfählen wuchsen. Galant überreichte er sie Lili. »Wenn meine Schwiegertochter es doch auch so tapfer trüge wie Sie, gnädige Frau!« Er wollte Lili die Hand küssen.
Lili errötete tief: Ach, wenn der alte Mann wüßte! Er würde sie nicht mehr bewundern. Nur weil ihr eine neue Hoffnung aufgegangen war, trug sie ihr Geschick jetzt gefaßter. »Trägt Ihre Schwiegertochter es so schwer?« fragte sie leise.
»Sie ist noch immer ganz verzweifelt, so wie am ersten Tag, als unser Ältester mit der ›Prinz Adalbert‹ unterging. Sie ist sofort von Kiel zu uns hergefahren, sie brachte uns die Nachricht; wir hatten ja keine Ahnung, wir glaubten ihn gerade auf einem Kommando an Land. Was haben wir ihr alles zum Trost gesagt! Sie hat doch den Kleinen. Er ist sechs Monat – ein prächtiges Kind!« Der alte Herr seufzte tief, über sein von der vielen Luft frisch gewordenes Gesicht legte es sich wie ein bleicher Anhauch. »Ich fürchte, sie bringt meine arme Frau noch ganz mit herunter; die war ja merkwürdig tapfer. Unser Ältester war ihr Stolz; sie war noch so jung, als er geboren wurde, sie ist Kind mit diesem Kinde gewesen. Er war ihr nicht nur Sohn – der beste Freund. Er besprach alles mit seiner Mutter. Und sie mit ihm – mehr als mit mir.« Ein liebenswürdig-bescheidenes Lächeln verschönte das alte Beamtengesicht. »Er war ja auch ein ganz besonders hervorragender Mensch.«
»Geht es Ihren beiden anderen Söhnen noch gut?« fragte die Generalin.
»Ja, Gott sei Dank! Der zweite, der Artillerist, ist freilich an der russischen Südwestfront, da geht nun auch eine Offensive los; aber die Russen sind ja nicht so schlimm. Unser dritter, der Kleine, der Infanterist, hat's ganz still bis jetzt an der Somme; wir können darüber wohl ruhig sein.«
»Gott gebe es!« Die Generalin drückte ihm die Hand.
»Was war der Älteste?« fragte Lili, als sie weitergingen. »War das so ein besonders hervorragender Mensch?«
Frau von Voigt lächelte leicht. »Ich habe ihn nie dafür gehalten. Er war Marineingenieur, hat ganz besonders früh und immer glatt seine Examina bestanden, das war natürlich für die Eltern sehr viel. Sie haben sich quälen müssen, drei Söhne studieren zu lassen. Ich glaube, die gute Frau hat sich manchmal nicht sattgegessen. Die Dienstmädchen hielten immer nicht aus bei ihr. Ein Vergnügen haben sie sich jedenfalls niemals gegönnt, kein Theater, kein Konzert, keine Reise. Alles nur für die Söhne. Wenn die beiden ihnen nur erhalten bleiben!«
Lili machte ein ernstes Gesicht. Ihre Gedanken flogen zu Bertholdis: Da waren ja auch zwei Söhne im Feld. Gestern hatte sie die junge Frau gesprochen, die hatte schon ziemlich lange keine Nachricht von ihrem Mann vor Verdun, und er hatte bisher doch so regelmäßig geschrieben. »'s ist Sperre«, sagte Annemarie, »Rudolf hat mich schon darauf vorbereitet.« Aber man merkte auf dem hübschen frischen Gesicht doch eine gewisse Gespanntheit. Und der andere? Oh lieber Gott! Lili schloß die Augen, wenn sie an Heinz dachte: Der flog bei Bapaume! Was konnte sie dafür, daß ihre Gedanken immer mit ihm flogen?! Wie im Traum ging sie neben der Mutter her, es war ihr jetzt manchmal so, als wäre sie wieder das junge Mädchen, das mit der Mutter seinen Spaziergang machte. So brav. Und doch innerlich wie anders! In ihren Gedanken ein leidenschaftliches Begehren, eine himmelstürmende Sehnsucht. Wenn das jemand wüßte!
Sie schrak zusammen. Ein Karren stand quer über dem Feldweg, das ›I-a‹ eines Esels schrie sie an. Es war ein kleines struppiges Tier mit einem Fell in allen Schattierungen von Grau und Braun, und so ruppig, als hätte ein Wolf sich darüber hergemacht und darin gerauft. Aber das Tier hatte ein Gesicht, als ob es sprechen könnte, seltsam ernsthafte treue Augen. Lili fuhr im Vorübergehen mit streichelnder Hand über das verschabte Fell.
Da sagte der Ackerbürger, der Mist vom Karren ablud: »Der hat ooch schon wat mitjemacht, meine Damens! Wat jlooben Se woll, der hat Munition jetragen, hoch uf de Berge. Wat hier Sand is, is da allens Berge. Der kommt aus Tirol.« Das sagte er nicht ohne Stolz, und der Blick, den er dabei von der Seite seinem Esel gab, war freundlich.
Es durchzuckte Lili! Sie wäre am liebsten weitergegangen: von Tirol, wer sprach hier von Tirol?! Sie wollte nicht erinnert sein. Da war ja ein Grab – nun mußte sie gleich wieder daran denken, es tat ihr weh. Und doch fragte sie: »Wie kommt das Tier denn bis hierher?«
Der Mann schnüffelte, er fuhr sich mit der Hand unter der Nase her: »Ja, wissen Se, ich bin ja man bloß 'n kleiner Mann, soviel Jeld hat unsereins nich flüssig, um sich gleich wieder 'n Pferd zu kaufen. Meine Ida haben se mir dazumal abjenommen – viel taugte sie ja nich mehr, sie war schon alt, aber mir war se noch viel wert. Da hat mir mein Sohn geschrieben: ›Vater, weißte‹ – der war nämlich bei den Österreichern, da im Gebirge, in Tirol – ›hier sind viele Esel. Wenn ich einen kaufen kann, kriegste mal einen mit 'n Transport.‹ Ja, 'n juter Sohn – Unteroffizier – mein Fritze, oh ja. Nu is er nich mehr.« Er fuhr wieder unter der Nase her und schnüffelte. Seine kleinen, vom Staub des Ackers geröteten Augen blickten starr geradeaus, er sah den Damen nicht ins Gesicht.
Auch sie blickten geradeaus, sie wagten den Mann nicht anzusehen – was hätten sie ihm auch sagen sollen? Wieder so ein Vater, der, alt und müde, übrigblieb, während der lebensfrohe Sohn vorausgegangen war!
Lili strich wie versunken dem kleinen Esel immer auf und ab das struppige Fell. Er schien an streichelnde Hände gewöhnt, ließ es sich mit Wohlbehagen gefallen und sah sie dabei klug an.
»Dummer Esel«, sagte der Mann, dem es ein Bedürfnis schien, von dem zu reden, was seinem Herzen jetzt noch das Liebste war, »ne, det stimmt nich. Wat, Fritze?« Er patschte dem Tier auf den Rücken. »Erst Munition jetragen hoch uf de Berge – was der wohl ausjehalten hat, 'n tapferes Tier –, und nu hier Mist fahren! 's is akkurat wie bei de Menschen, früher vornehm und jetzt – ei weh! Aber jut hat er's doch. Er heißt ooch Fritze, zum Andenken. Zu Hause bei uns darf er in de Stube kommen. Dann guckt er uff'n Tisch, ob da noch Kaffee steht; den trinkt er. Nu los, Fritze, los!« Er schnalzte mit der Zunge, das Eselchen ruckte an. Flüchtig an die Mütze fassend, zog der Mann mit seinem Gefährt weiter.
Sie trieben jetzt alle Landwirtschaft. Freilich eine recht bettelhafte, so eine Art von kleinstem Kleinbetrieb. Frau von Voigt, der Tochter aus einem großen Grundbesitz, entlockte es ein mitleidiges Lächeln. Aber es hatte doch zugleich etwas Rührendes, zu sehen, wie alle sich mühten. Die städtische Tracht paßte nicht recht zu der Beschäftigung, es jauchten welche in Faltenrock und weißer Bluse; andere waren beim Umgraben in braunen Halbschuhen mit hohen Absätzen. Es war für alle Bestellung reichlich spät.
Um Berlin waren sie schon ein langgewohnter Anblick, die mit mehr oder weniger Ansprüchen gebauten Lauben, um die im Sommer rote Feuerbohnen klettern, der Salat grünt und im Herbst Sonnenblumen, hoch wie Bäume, ragen und große Kürbisse reifen. Hier aber war's der Beobachtenden, als hätte die Not mit dem Finger aufs Ödland gewiesen, auf das Land, auf dem noch das Kraut der Heide um sich fraß und die Wurzeln vermorschter Kiefern den Sandboden durchsetzten. Hier mußte erst völlig urbar gemacht werden wie in Urwald und Prärie. Langsam kroch schwelender Rauch heran und brachte üblen Dunst mit; es stank nach Unkraut. Da brannten welche das Gestrüpp ab. Und überall Drähte im Viereck und in die Länge gespannt, oder auch nur abgebrochene Kiefernknüppel, so wie man sie im Wald auflas, mit vermorschter Borke und dürrem Gezweig, als Grenzzaun um das kostbare Gut gesteckt.
Hermine von Voigt war es anders gewohnt: Wo waren die üppigen Saaten Feld bei Feld, wo die tadellos bestellten Ackerbreiten ihrer Jugend? Fern nur, ganz fern ging ein richtiger Bauer hinterm Pflug her, seine Gestalt und das Pferd, getragen von einer Ackerwelle, hoben sich groß ab gegen die Helle des Horizontes. Hier aber versuchten sie so herum, der eine baute dies, der andere das; dieser nur Kartoffeln, jener nur Gemüse. Hier wieder einer von allem ein bißchen. Der eine fing's so an, der andere so; es lag etwas Ungeordnetes in dieser Art, etwas Unbehilfliches in diesen Versuchen. Und überall war etwas wie Hast dabei – oder spürte nur sie die? Es wurde Frau von Voigt bange. Wenn es den Leuten nun nicht glückte? Das Saatgut war teuer und nicht allzu reichlich. Was dann, wenn aus den Kartoffeln nichts wurde? Der Boden war schlecht; die Kartoffel, freilich anspruchslos, will doch die rechte Pflege haben, und vor allem Sonne zur rechten Zeit und auch Regen zur rechten Zeit. Möchte der Himmel nicht zuviel von beidem spenden und nicht zuwenig!
Die Preise wurden immer unerschwinglicher. Wenn die Frauen jetzt auf den Markt gingen, machten sie enttäuschte Gesichter. Spargel – was sollte man wohl mit Spargel? Den gab's; aber der machte nicht satt. Morcheln? An den schwarzen Dingern konnte man sich noch vergiften. Fleisch wollte man haben, Fische, Eier! An Butter dachte man schon gar nicht mehr, aber an Margarine. An die jungen Mohrrüben, die sonst um diese Zeit aus Frankreich kamen. An den ersten Salat; der war wenigstens voriges Jahr noch billig zu haben gewesen, und auch Radieschen und Spinat und Rhabarber, den die Kinder gern essen.
Die Händler forderten jetzt unverschämt. »Was kostet der Salat?« Der Preis war hoch. »Und das Pfund Spinat?« Der Preis war noch höher.
Niedergeschlagen ging manches Weib, es traute sich gar nicht mehr beim nächsten Stand zu fragen. Aber eine andere war nicht so zag: »Sie wollen wohl ooch reich werden wie'n Kriegslieferant und ooch so fix, was, Sie? Fuffzig Fennige für so'n Salatkopp? Sie sind wohl verrückt?« Da wurde die bäuerliche Händlerin frech wie noch nie: Ihr Mann stand auch im Feld, sie allein hatte die Mühe und Kosten, was wußten die Städter, was der Bauer für Plage hat. Wenn der Tag graut, schon raus, ganz gleich, ob die Sonne brennt oder der Regen klatscht – und graben, pflanzen, sich tausendmal bücken. »Und dann kommt 'n Unwetter und alles is futsch. Lieber eß ich mein Zeugs da alleene, eh' ich's billiger gebe, oder laß es verfaulen. 's is Krieg!«
Da warfen sie ihr die Körbe um.
Die Dombrowski hätte es besser haben können als viele der Frauen, Dombrowski hatte vor dem Krieg schon sein Stück Land fleißig durchgearbeitet, es war gut in Kultur, im vergangenen Jahr hatte sie reichlich Kartoffeln darauf geerntet und Kohl wie Riesenköpfe; aber sie hatte ganz die Lust daran verloren. Sie ging wohl einmal mit den Gerätschaften hin; kaum hatte sie jedoch angefangen zu arbeiten, so warf sie auch die Hacke weg und rannte wieder nach Hause. Es war graulich draußen so allein; hinter jeden Busch guckte sie scheu. Sie, die sich nie gefürchtet hatte, fürchtete sich jetzt.
Sie bat Gertrud flehentlich, unten bei ihr in der Stube schlafen zu dürfen; die Kinder schienen ihr nicht Schutz genug. Gertrud willigte ungern ein: Nun hatte sie nicht einmal mehr die paar Stunden der Nacht für sich, aber durfte sie ›nein‹ sagen? Der alte Liebhaber kam nun nicht mehr, und Minka schien sich auch nach keinem weiter umzusehen. Sie hatte es Gertrud erzählt: Im Hemd, im bloßen Hemd war der geflohen. Der alte Anzug, der schon so lange an der Scheunentür gebaumelt, und der durchlöcherte, aufgeweichte Hut, den Erich der Pumpe aufgestülpt hatte, waren seitdem verschwunden. »Die hat er sich angezogen, haha – das muß ausgesehen haben, hahahaha!« Aber es war mehr die Angst als das Lachen, was die Frau dabei schüttelte. Sie war eine unruhige Schlafgenossin.
Sie hatte ihr Bett heruntergeschafft, dicht neben das von Gertrud hatte sie's gerückt, oft faßte ihre Hand herüber nach der Gertruds: »Fräulein, sind Sie auch da?«
In dieser Nacht fuhr Minka Dombrowski auf. Der Mond schien hell ins Zimmer. Gertrud, die sehr ermüdet war, schlief fest; da wurde sie wachgerüttelt: »Fräulein, hören Sie nichts? Draußen is jemand. Es tappt am Haus lang!«
Die Dombrowski saß aufrecht im Bett, der Mond beschien ihr angstverzerrtes Gesicht, es sah geisterbleich aus. Gertrud bekam einen Schrecken: Sollte Dombrowski wiederkommen? Sie lauschte, aber es waren keine Schritte zu hören. »Da ist niemand«, sagte sie beruhigend.
»Doch, doch!« Die Frau ließ sich nicht überzeugen, obgleich Gertrud ans Fenster ging und hinauslauschte. Derweilen kroch sie ganz unter die Decke, zog sich die bis über den Kopf.
»Das ist nur der Nachtwind.« Es rauschte draußen, es huschelte ums Haus. »So macht's immer, wenn es windig ist.«
»Nein, Fräulein, ach nein!« Die Frau weinte fast. »Wenn Sie wüßten, was ich weiß – der kommt gewiß wieder. Ich hab' so schrecklich geträumt.« Sie stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus und klammerte sich an Gertrud. »Hören Sie, da ruft er schon!«
Ein Kauz klagte langgezogen, er mußte dicht beim Hause sitzen, vielleicht gar am Fenster hinter den ausgebrochenen Mauersteinen. Es klang so nah, als ob er in der Stube schrie.
Nun fing es auch Gertrud an zu überschauern. Da konnte es einem ja wirklich graulich werden: der schauerlich klagende Käuzchenruf, die zitternde Frau! Aber sie nahm sich zusammen. »Lassen Sie mich doch los!« Sie versuchte sich freizumachen. »Ich werd' einmal zum Fenster raus in die Hände klatschen, daß er fortfliegt.«
Aber die Dombrowski gab sie nicht frei: »Nein, nein – er kommt, er kommt rein. Ach, ich hab' so 'ne Angst. Er holt mich, er holt mich!« Sie wimmerte und steckte den Kopf ins Kissen.
Das waren Nächte, die nicht dazu taugten, den Menschen frisch zu machen und fähig zur Arbeit. Es war Gertrud ganz recht, daß die Dombrowski nun davon sprach, mehr hinein in den Ort zu ziehen. Sie fühlte, wie die Unruhe und Unrast der Frau sie selber mit ansteckte. Es würde sich ja auch schon für sie dort eine Stube finden; so billig wie hier würde sie freilich wohl nie mehr wohnen. Das machte ihr Sorge; aber so war es eben hier nicht mehr auszuhalten. Ihr Land hatte die Dombrowski längst abgegeben, einen Pächter hatte sie sofort dafür gefunden; am liebsten wäre sie auch noch am gleichen Tage aus dem Hause fortgegangen; mit Mühe nur hielt Gertrud die Unbesonnene zurück, auch das loszuschlagen um jeden Preis. Fort wollte die Dombrowski, fort, hier war's ihr verleidet.
Es war ihr alles verleidet. Ihre Putz- und Waschstellen hatte sie aufgegeben, bei der Generalin, bei Frau Rossi, bei der Frau Geheimen Rechnungsrat, alles Stellen, auf die sie früher stolz gewesen war. Wozu arbeiten? Sie hatte einen Widerwillen dagegen. Die früher einst so Lebhafte war langsam, die Lustige einsilbig geworden. Anderen fiel das weniger auf als Gertrud; sie wußte auch, woher das kam: Der tat vieles leid. Herr Dombrowski hatte noch nicht geschrieben – würde er überhaupt jemals wieder schreiben?
Die Kinder fragten nach ihrem Vater. Erich kam trotzig-verbissen heim aus der Schule: Von seinem Nebenmann war der Vater gekommen, der Junge hatte so viel erzählt. Dem sein Vater hatte tausend Franzosen totgeschossen und tausend Engländer; und ein lieber Vater war der, er hatte seinen Emil hochgehoben und geküßt, und was mitgebracht hatte der ihm auch. Warum kam denn sein, dem Erich sein Vater, nicht?! Auch Minna wußte zu erzählen, daß von andern Kindern der Vater da war.
Die kleinen Dombrowskis waren voller Ungeduld. Täglich trieben sie sich am Bahnhof herum, da sahen sie viele Züge aus- und einlaufen, Menschen aus- und einsteigen und wunderten sich: Ihr Vater war noch immer nicht darunter.
Die Mutter mochte es nicht hören, wenn sie fragten. »Laßt doch das ewige Gefrage«, sagte sie unwirsch. Da schlug der Junge nach ihr: »Du! Du magst Vatern nich, du willst nich, daß er kommt. Ich mag dir ooch nich.«
Die Frau weinte: Der Bengel war zu ungezogen.
»Schreiben Sie doch mal an Herrn Dombrowski«, redete Gertrud zu. »Es kann alles noch wieder in Ordnung kommen. Schreiben Sie ihm, wie leid es Ihnen tut.« Das brachte die Dombrowski aber nicht fertig: Es war ja doch alles umsonst.
So verließen sie denn am ersten Juli das Haus. Frau Dombrowski hatte es sehr billig vermietet, sie konnte ja nicht viel für die alte baufällige Bude verlangen. Der Mann, der ihr Land gepachtet hatte, hatte nun auch das Haus genommen. Er arbeitete in der Fabrik, die weiter draußen am Kanal lag; da hatten sie vordem Seide gewebt, jetzt machten sie Munition.
Es war ein Abschied, den Minka Dombrowski herbeigesehnt hatte und der ihr nun doch nicht leichtfiel. Die Kinder freuten sich, denen gefiel es besser drin im Ort; da hatten sie mehr Abwechslung. Sie rannten vergnügt schreiend hinter dem Wagen her, der die wenigen Möbel und all das Gerümpel, das sich angesammelt hatte, hineinrumpelte. Aber die Frau sah sich oft um: Es hatte doch auch gute Zeiten hier draußen gegeben. Wenn sie's recht bedachte, der Stanislaus war immer nett zu ihr gewesen – sehr gute Zeiten waren es gewesen! Und sie sah sich um, solange sie noch das kleine Gehöft sehen konnte, das wie ein großer Maulwurfshügel aus dem Grün der Felder tauchte.
Gertrud, die so lange schon mit dem Gedanken umgegangen war, die entlegene Wohnung aufzugeben, fühlte, nun es soweit war, doch auch Bedauern. Sie hatte eine billige Stube gefunden, ganz am entgegengesetzten Ende des Ortes, aber wieder ein wenig weit draußen, denn mittendrin war alles zu teuer. Die alte Frau Richter, bei der sie gemietet hatte, war billig mit der Wohnung, weil sie nicht gern allein bleiben wollte. Man hatte ihr jetzt auch den letzten Sohn eingezogen, auf den sie geglaubt hatte, sicher rechnen zu können, war er doch von Kindheit auf schwächlich und hatte zudem einen kleinen ›Verdruß‹. Aber er war genommen worden zum Train. Der Mann war zwar noch da, aber der galt für nichts; er war schlagrührig und ein gelinder Simpel. Die Richter versprach Gertrud, für den Kleinen zu sorgen, wenn sie zur Arbeit weg war, und so hatte sie zugegriffen.
So hörte sie denn des Nachts nicht mehr das unruhige Sichwerfen der Dombrowski, nicht deren angstvolle Schreie im Schlaf und wurde nicht aufgeweckt durch die nach ihr tastende Hand. Dafür grummelte jetzt nebenan die lallende Stimme des Simpels, der seine Frau alle halbe Stunde fragte, wieviel Uhr es sei und ob der Krieg bald aus wäre.
Vater Richter hatte nur mehr ein einziges Interesse: das Essen. Und das war jetzt knapp; er konnte nicht mehr soundsovielmal herum ums Brot kriegen. So greinte er denn wie ein unverständiges Kind: »'ne Stulle, Mutter, 'ne Stulle! Gib mer doch 'ne Stulle – Hunger, hab' Hunger!« Es hörte sich schrecklich an.
Der Abschied Gertruds von der Dombrowski war herzlich gewesen, herzlicher, als sie es je für möglich gehalten hätte. Wie oft war sie böse auf das leichtsinnige Weib gewesen! Nun das mit seinen hübschen dunklen Augen vor ihr stand, in denen es heute feucht spiegelte, das runde Gesicht sie gutmütig anlächelte, war es ihr, als hätte sie etwas verfehlt. Hätte sie nicht die Dombrowski bereden können, draußen auf ihrem Land zu bleiben, und hätte sie nicht bei ihr aushalten müssen in Geduld und Verzeihen? Die Frau war ja nicht allein schuld: Der Krieg war schuld. Und ein wütender Haß stieg auf in Gertrud gegen diesen Krieg, der alles vernichtete; auf Menschen und Hoffnungen trat, als wären es Staubkörnchen, die man nicht achtet unterm Fuß. Tag und Nacht fuhren die Züge oben auf dem Bahndamm, zu dem sie vom Fenster ihrer Wohnung aufschaute, vorbei, und trugen neuen Fraß hinaus für das Ungeheuer, den Krieg.
Das Häuschen der Richters lag neben der Bahnunterführung, tiefer an der Landstraße; es war das letzte der Häuser, die hier schon weit auseinanderrückten. Auch hier waren Felder, aber nicht schon längst angebaute wie drüben auf der anderen Seite des Ortes, hier fing man jetzt erst an, welche herzustellen. Mitten in der noch verunkrauteten Heide lag der neue Kirchhof. Zwei Musiken gab es hier immer zu hören: das Schnauben, das Rasseln, das Stampfen der Eisenbahnzüge und die Trauerklänge, die langsam anrückende Leichenzüge begleiteten. Gertrud gewöhnte sich besser an die Trauermusik als an die andere. Früher hatte sie in der Nähe des alten Kirchhofs gewohnt; nun war es ihr oft, als sei sie inzwischen weit weg gewesen an einem ganz anderen Ort, sei jetzt aber wieder in die Heimat zurückgekommen. Nur das eine störte sie an der neuen Wohnung: Das Krügersche Haus lag jetzt nicht mehr ganz so fern; der nächste Weg zum Bahnhof führte an ihm vorbei, sie aber machte lieber einen Umweg. Sie mochte die Frau nicht sehen, jetzt noch weniger als damals. Das Wohnen in der alten vertrauten Gegend weckte die Erinnerungen stärker auf. Liebe Erinnerungen an ihn, mit dem sie hier abends am Bahndamm entlanggeschlendert war – dort bei der Unterführung im Dunkeln hatte sie sich zum erstenmal von ihm küssen lassen –, böse Erinnerungen an seine Mutter, deren Herz so verhärtet und vertrocknet war wie die Heide, an der die Leute sich müde gruben. Nie hatte sie die Frau so gehaßt wie jetzt. Aber für ihn hatte sie keinen Zorn mehr und kein Gekränktsein. Wenn sie ihn doch wenigstens hier auf dem Kirchhof hätte!
Mancher Soldat wurde vorbeigeführt zur letzten Ruhe. Dann stand sie mit brennenden Augen und sah dem Zuge nach. Sonntags war es ihre einzige Erholung, auf den Kirchhof zu gehen, dann schmückte sie die Gräber der Soldaten; mitten im Kirchhof war noch ein Kirchhof angelegt, bloß für die. Sie sammelte von den kleinen gelben Immortellen und den bräunlichen Katzenpfötchen, den einzigen Blumen, die zu finden waren. Sie verstand es, sehr schöne Kränze daraus zu binden; das hatte sie abgeguckt damals, als sie noch in der Kranzbinderei bei dem Gärtner wohnte. Damals, in jener glücklichen Zeit! Gustav hatte einmal gesagt: ›Den Brautkranz mußt du dir selber binden, keiner kann's so schön wie du‹ – ja, wenn seine Mutter nicht gewesen wäre! Dann hätte sie ihren Myrtentopf nicht zum Fenster hinauszuwerfen brauchen, daß er unten zerschellte. Wenn sie den fremden Soldaten um ihre Kreuzchen aus Birkenstamm solch einen Immortellenkranz hängte – Blütchen an Blütchen dicht aneinandergefügt, den Kranz rund gewunden wie eine goldene Rolle –, war es ihr, als hängte sie ihn um sein Kreuz. Dann hielt sie die kleine Hand ihres Knaben, der nun schon neben ihr herwackeln konnte, fest in der ihren und sagte ihm vor: »Pa-pa, Pa-pa!«
Wenn nur nicht die Angst gewesen wäre, die Angst ums tägliche Brot. Wer irgend konnte, schaffte sich etwas ein. Die von der Hand in den Mund lebten, die konnten das freilich nicht, aber es gab viele wohlhabende Leute. Die Schaufenster der Läden, die am Morgen noch überfüllt schienen von allerlei Büchsen – Fisch, Fleisch, Gemüse, Konserven, Honig, Schokolade, Puddingpulver, Sahne in Flaschen, kondensierte Milch –, waren am Abend leer wie ausgekratzt. Eine Hausfrau sagte es der andern: »Wissen Sie schon? Heut gibt's Aal in Gelee – Makrelen in Butter – Heringe in Tomaten – Fischklöße!« Alles Auslandsware; Holland, Schweden, Dänemark wurden reich daran. Und an Gulasch. Gulasch! Da rannte jeder, der's bezahlen konnte. Nie waren Käuferinnen so liebenswürdig gegen Verkäuferinnen wie jetzt; man bettelte förmlich um die Waren, die man doch so hoch bezahlte.
Was aber dann, wenn die Knappheit noch schlimmer wurde? Dann war für die, die das Geld nicht so flüssig hatten, nichts da. Das hieß der Mißgunst und der Unzufriedenheit Sporen geben. Es gab schon jetzt hungrige Augen genug und begehrliche Hände.
Mit einem Bangen, das ihre Seele bis jetzt nicht gekannt hatte, sah Hermine von Voigt in die Zukunft. Sie hatte es immer vermieden, sich an die Spitze von Vereinen zu stellen, es waren genug andere da, die das lieber taten als sie. Aber nun kam ihr doch der Gedanke: auch du mußt ans Werk, du darfst dich nicht länger zurückhalten. Wenn doch die Gemeindeverwaltung so ähnlich wie der Magistrat im großen Berlin hier einen Lebensmittelverkauf mit einer gerechten Verteilung einrichten würde. Es waren noch Frauen der höheren Stände genug da, die nicht in Lazaretten pflegten oder bei anderen Wohlfahrtseinrichtungen sich betätigten, auch im eigenen Haushalt nicht selber zu arbeiten brauchten, und denen es nichts schaden würde, wenn sie merkten, wie es tut, Stunde um Stunde hinterm Ladentisch stehen. Sie würden es auch gern tun; noch war nicht alle Begeisterung erloschen, und der Wunsch, zu helfen, zu dienen, noch nicht ganz untergegangen in der Hetzjagd, sich selber zu versorgen.
Es war eine schlaflose Nacht, in der die Generalin auf diesen Gedanken kam. Ach, sie hatte jetzt oft schlaflose Nächte! Die Kriegserklärung Italiens an Deutschland, die noch ausstand, war ja nur eine Frage von Tagen mehr, eine Formsache, man führte ja längst miteinander Krieg – aber wie würde es mit Rumänien werden? Im Osten tobten heftige Kämpfe, im Westen donnerte es noch um Verdun, und schon begann an der Somme ein neues Ringen. Über England schwebten Zeppeline und warfen Bomben ab, aber unerschüttert dadurch, verurteilten sie in London den edlen Casement zum Tode. In Flammen und Blut erstickte die Welt. Es war zuviel, zuviel – wer konnte da schlafen?!