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Der alte Richter saß auf seinem Stuhl vor der Tür; es war eigentlich schon viel zu kalt, um draußen zu sitzen, aber seine Frau hatte ihn nicht hereingeholt, und so blieb er denn auf dem gewohnten Platz. Der Kleine, der nicht mehr wußte, wohin mit sich so allein, zupfte den Blöden. Der lallte ihm vor: »'ne Stulle, 'ne Stulle!« Das Kind lallte es nach. Die Novembersonne hatte keine Kraft mehr, die Erde war feucht. Das Kleidchen des Knaben hatte sich verschoben, er rutschte auf den Schenkeln. Die Krüger, die von ferne stand, sah das voller Schrecken. War es nicht unverantwortlich, wie die Hieselhahn das Kind verwahrloste? Gustav sein Kind! Wenn es sich nun erkältete?! Es wurde sicherlich krank, es konnte sterben. Eine Todesangst überkam sie: das liebe Kind! Geradeso hatte der Gustav auch ausgesehen: das Köpfchen rund, voll mit blonden Löckchen und die Augen – ach ja, seine Augen, die waren's! Wenn sie den Jungen bloß mal zu Hause hätte! Sie wollte ihn kleiden in Gustavs Sachen. Da hatte sie noch seine ersten Schuhe, kleine Lederschuhe mit roten Steppnähten, die würden dem Jungchen jetzt passen.
Wenn sie den Kleinen bloß aufheben könnte von dem nassen Boden! Aber sie traute sich nicht näher heran. Letzthin war sie der Hieselhahn kaum entwischt. Die kam dazu, gerade noch, daß sie hatte wegspringen können. Sie war gelaufen. Ob die Hieselhahn sie da gesehen hatte? Die war jetzt Kassiererin geworden, hier in der Verkaufsstelle der Gemeinde. Die Exzellenz hatte sie dazu gemacht; an der schien sie ja einen großen Rückhalt gefunden zu haben. Ganz unwürdig mußte das Mädchen doch wohl nicht sein, die Frau von Voigt würde sich ihrer sonst nicht annehmen. Und das tat sie. Frau Rossi hatte erst gestern davon erzählt, ganz zufällig, als sie herunter gekommen war, Schneeweißchen und Rosenrot ein paar Kohlblätter zu bringen. Der Krüger war es dabei wie ein Schreck in die Glieder gefahren: Ob die Hieselhahn sie wohl auch angeschwärzt hatte? Ausgeschwatzt, was zwischen ihnen beiden vorgekommen war? Das wäre unangenehm.
Jetzt war die Hieselhahn nicht mehr den ganzen Tag fort in Berlin, sie kam des Mittags nach Hause. Schade, gerade mittags war die Zeit, in der der alte Mann und das Kind noch draußen saßen! Es war ein neuer Schreck, der die Krüger befiel: Wenn nun erst Schnee kam? Das Wetter so kalt wurde, daß die nicht mehr draußen sein konnten? Dann sah sie das Kind nicht mehr. Tage, Wochen, Monate konnten vergehen, bis sie es wieder einmal zu sehen kriegte. Sie konnte hier stehen und lauern, so lange sie wollte, die Tür dort blieb geschlossen, die Fenster waren zugefroren, keiner konnte hereingucken und heraus. Oh, was waren es dann für finstere Tage! Ihr graute davor.
Und plötzlich kam ihr der Gedanke: Wenn sie der Hieselhahn Geld bieten würde, viel Geld, ob die ihr den Jungen dann wohl überließe? So genau die Krüger sonst war, hier gab's keine Grenze. Was sollte ihr denn das Geld? Sie sparte es doch nur für Gustav und – für den Kleinen da.
Es tat ihr in der Seele weh, ihn so ärmlich zu sehen. Und war das wohl eine Aufsicht für ihn, der blöde Alte? Zorn und Schmerz stritten in ihr. Zorn auf die Mutter: Was brauchte die immer wegzulaufen? Zorn auf sich selber: Das hätte sie so ganz anders haben können! Aber dann bedachte sie: Was sollte die Hieselhahn wohl machen? Verdienen mußte sie doch. Es war brav von ihr, daß sie so fleißig war. Die Krüger hatte sich immer erkundigt und gehört: Das Mädchen scheute vor keiner Arbeit zurück. Was der Gustav wohl sagen würde, daß seine Trude Strohsäcke genäht hatte? Etwas Erbärmliches. Sie war doch feiner, es mußte ihr schon sehr schlechtgehen, daß sie dazu gegriffen hatte. Es überkam die Krüger wie Achtung: Das wäre noch lange keine Schwiegertochter, deren man sich zu schämen brauchte. Gott sei Dank, daß sie nun eine Beschäftigung gefunden hatte, für die sie sich besser paßte!
Die Krüger nahm sich vor, wenn sie das nächste Mal mit ihrer Karte beim Gemeindeverkauf stand, die Kassiererin anzureden. Was war denn weiter dabei? Sie vergab sich dadurch nichts. ›Fräulein Hieselhahn‹, würde sie sagen, ›Fräulein Hieselhahn, das Jungchen ist so viel allein, es rutscht mit nackten Schenkeln auf der nassen Erde, fürchten Sie nicht, daß es sich erkälten könnte?‹ Dann würde sie doch mal hören, was die dazu sagte. Man konnte ja dann immer noch weiter sprechen: ›Ich bin allein, habe Zeit, hab 'ne warme Stube, habe auch noch was zu essen, ich würde Ihnen gern den Jungen verwahren, so lange bis Sie …‹
Ein lauter Schrei des Kleinen schreckte sie auf. Es waren Kinder vorbeigekommen, »'ne Stulle – willste 'ne Stulle?« neckten sie. Sie zerrten den Blöden am Bart, und als er sich wehrte – sie zupften zu unsanft –, fiel er um mit seinem Stuhl. Aufkreischend stob nun die Bande von dannen, das Kind aber, als verstünde es das Leid solchen Alters, fing kläglich an zu schreien.
Da sprang die Krüger zu; so etwas konnte sie nicht länger mit ansehen. Ehe noch der Alte sich aufgekrabbelt hatte, und seine Frau ihm von drinnen zu Hilfe kam, hatte sie den Kleinen aufgerafft. Sie nahm ihn auf den Arm, sie preßte ihn an sich: Gustavs Kind! Hier war kein Platz für Gustavs Kind!
Sie rannte davon, als jage sie einer, immer das Kind fest an sich haltend und sein Weinen beschwichtigend mit Worten, deren Zärtlichkeit sie selber nicht ahnte. –
Als Gertrud heute nach Hause kam, war ihr Kleiner fort. War er weggelaufen? Sie fragte den alten Richter aus, aber der sah sie nur verständnislos an: »'ne Stulle!« Verzweifelt ließ Gertrud von ihm ab: Den zu fragen hatte ja keinen Zweck. Auch die Richter hatte nur ein Achselzucken: Was ging sie fremder Leute Kind an? Um ihre Söhne draußen kümmerte sich auch keiner. Lebten sie oder waren sie tot, niemand sagte es ihr. Alle Vorwürfe prallten ab; als Gertrud die Frau in ihrer Aufregung hart anfuhr, schlorrte sie ohne Erwiderung in ihre Küche und machte die Tür hinter sich zu. –
Während die Mutter verzweifelt den Knaben suchte, probierte die Krüger ihm Gustavs Schuhchen an. Die kleinen Füße waren ganz kalt, sie hatte ihm rasch warme Strümpfchen angezogen, nun klappte sie mit der Hand unter die Ledersöhlchen von Gustavs ersten Schuhen: »Die passen!«
Der Kleine war ganz zufrieden. Sie hatte ihn auf den Tisch gesetzt; sie selber kniete vor ihm am Boden. Er stieß sie mit strampelnden Beinchen vor die Brust und krähte dabei; er hatte gar keine Scheu. Ob das wohl daher kam, daß er es gewohnt war, immer bei Fremden zu sein, oder ob er es fühlte, daß sie seine Großmutter war? Wo sollte er das her wissen? Aber die Krüger war kindisch geworden. Sie krähte mit auf, wenn der Junge krähte, sie sprach ihm vor: »Großmutter. Na, sag's doch mal: Groß-mut-ter!« Sie lachte vor Entzücken, und dabei rieselten ihr Tränen über das verwitterte Gesicht. Gustav sein Junge! Was würde der Gustav sagen, wenn er seinen Jungen bei ihr fand?!
Die Kinderhände patschten ihr ins Gesicht, sie haschte nach ihnen. Lange war sie des entwöhnt, so zu spielen, aber sie lernte es bald. Ganz versunken war sie in dies Tändeln, da schellte auf einmal draußen die Klingel. Und nun nahten sich schwere Schritte der Stubentür.
Gertrud tappte durch den Flur, als hätte sie Bleigewichte an den Sohlen. Wenn sie den Kleinen hier nicht fand, dann – dann –! Trostlose Vermutungen waren ihr gekommen. Schon sah sie ihn draußen im Felde irren – da waren Tümpel, Lachen genug, die der Regen zurückgelassen hatte, tief genug, daß so ein kleiner Körper darin ertrinken konnte. Sie war hinausgelaufen, hatte gerufen, war wieder zurückgelaufen und hatte gerufen, hatte jeden Menschen gefragt, aber niemand konnte ihr Auskunft geben. Da war es plötzlich über sie gekommen: eine Erinnerung – hatte sie die Krüger nicht neulich hier herumstreichen sehen und lauern? Eine Gewißheit: Ja die, die hatte das Kind sich geholt! So eine Unverschämtheit!
Ohne anzuklopfen, riß sie die Stubentür auf. Mit drohenden Augen sah sie die Frau an.
Die Krüger blieb auf den Knien liegen; sie war wie gelähmt vor Schreck, sie konnte nicht aufstehen: die Hieselhahn! Die kam ihn nun holen! Aber zugleich setzte sie sich innerlich zur Wehr: ihres Sohnes Kind! Das gab sie jetzt nicht mehr her.
Der Kleine hatte aufgejubelt, als er die Mutter sah, dann aber kratzte er mit seinen kleinen scharfen Nägeln an den roten Steppnähten der neuen Schuhe; er war vollauf beschäftigt damit.
Gertrud war ohne Wort auf den Tisch zugegangen.
Jetzt, jetzt würde die Hieselhahn das Kind aufheben, es mit sich fortnehmen! Nein, das durfte nicht sein, nein! Die Krüger sprang auf: »Lassen Sie mir den Jungen!« Geld zu bieten, daran dachte sie jetzt nicht mehr; sie hätte es nicht gewagt – der da nicht –, aber es lag eine Bitte, ein Flehen in ihrer Stimme, ein Sehnen: »Lassen Sie ihn mir!«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Gustav sein Junge – ich bin doch die Nächste dazu!«
Ein bitteres Lächeln zog Gertruds Mundwinkel herab – aha, jetzt könnte es der wohl passen! »Nein!« sagte sie hart. Und ohne sich daran zu kehren, langte sie nach dem Kind.
Aber das war nicht so leicht, die Krüger faßte nach dem kleinen Röckchen, hielt es fest. »Lassen Sie mir's, lassen Sie mir's«, stammelte sie, von der plötzlichen Angst des Verlierens ergriffen. »Gustav sein Kind – meinem Gustav sein Kind!«
» Mein Kind!« sagte die andere. Und dann maß sie mit einem langen Blick seine Mutter. Es lag vieles in diesem Blick: Haß, Anklage, Verachtung, Drohung und Leid. »Als ich gebeten habe, hab' ich auch umsonst gebeten. Nein, ich denke gar nicht dran. Der Junge gehört mir, mir ganz allein. Ich hab' ihn geboren, ich hab' ihn aufgezogen – hat mir 'n anderer was zugegeben?« Ihre Lippen kräuselten sich: » Sie nicht!«
Zitternd schwieg die Krüger: Ja die, die hatte recht mit dem, was sie da sagte! Es stürzte sich plötzlich über sie her mit dem Gefühl eines riesigen Schuldbewußtseins. »Sie haben recht«, sagte sie atemlos; es verschlug ihr förmlich die Luft, sie konnte kaum reden. »Ich seh's ein, es war unrecht von mir. Schlecht. Gott, Gott«, schrie sie plötzlich laut auf und erhob die Hände, »ich hab' schwer gebüßt. Mein Unrecht gebüßt, hundertmal, tausendmal. Haben Sie doch 'n Einsehen – ich bin ja so allein!«
»Ich bin auch allein.« Gertrud senkte den Kopf; sie konnte seine Mutter nicht mehr so ansehen, nicht mehr so mit Haß.
»Er soll's so gut bei mir haben, wie der Gustav – ach, besser noch!« Die alte Frau machte sich förmlich klein. »Sie sollen's nie bereuen, wenn Sie mir den Jungen hergeben. Sie werden ja sehen, wie er's hat – Sie können kommen, alle Tage, Sie werden zufrieden sein. Und wenn ich sterbe: alles, alles für ihn. Und wenn der Gustav wiederkommt, dann – dann –« Die Krüger wurde ganz verwirrt, der Blick des Mädchens ruhte fest auf ihr.
»Dann geben Sie mir wieder den Laufpaß«, sagte die Hieselhahn. »Mir und dem Kind. Der Junge ist mein und bleibt mein. Komm!« Sie nahm den Knaben auf den Arm, er schmiegte sich an ihren Hals. Sie wollte zur Tür.
Aber die Krüger vertrat ihr den Weg. »Wenn der Gustav kommt, dann – ich schwöre es Ihnen – dann –«
»Was dann?!« Gertrud zögerte noch einen Augenblick. Seine Mutter hielt sie am Kleide fest.
»Dann soll er Sie heiraten!«
»Er heiratet mich nicht.« Gertrud schüttelte traurig den Kopf – ach, die glaubte noch immer, er wäre am Leben?! Mitleid überkam sie: Wie war das möglich, nach so langer Zeit! Die hatte gut versprechen; er kam nicht wieder. Doch fand sie den Ton einer herben Antwort nicht. Zögernd, leise sagte sie: »Daß Sie noch hoffen! Ich hoffe nicht mehr.«
»Doch – hoffen, hoffen!« Es schlug rot in der Krüger bleiches Gesicht, ihr glanzloser Blick belebte sich. Als striche eine barmherzige Hand über ihr Gesicht, so glätteten sich alle Runzeln. »Ich hoffe noch immer. Ich wer' nie aufhören zu hoffen. Hoffen Sie auch!« Sie legte Gertrud die Hand auf den Arm. Es klang überredend: »Er kommt wieder, der Gustav, Sie können ganz ruhig sein – er kommt!« Sie hatte die Stimme hoch erhoben.
Als rede eine Wahnsinnige, so starrte Gertrud sie an. War die alte Frau bei sich? Ihr wurde ganz bange. Aber dann überwand es auch sie: Sie wehrte sich gegen den Aberwitz, und doch kam sie nicht davon los. Wenn das wirklich wahr wäre! Wenn seine Mutter recht hätte, und er lebte noch –?! Sie neigte sich gegen die Frau, ihr zweifelndes Gefühl schien Hoffnung, Nahrung zu saugen aus jenem festwurzelnden Glauben. »Wenn ich's genau wüßte«, sagte sie zögernd.
Das Kind lastete auf ihrem Arm, sie setzte es wieder nieder auf den Tisch.
»Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird sein; denn das erste ist vergangen. So steht's geschrieben«, sagte die Krüger feierlich. »Mein Gustav ist nicht begraben. Ich weiß von keinem Tod.« Sie legte ihre Hand auf das Köpfchen seines Kindes. »Er lebt – für mich und für Sie!«