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21.
Die Ausweisung.


Amenaïde Ziebitz stand mitten im Zimmer mit zwei Hyazinthen in Töpfen unter beiden Armen, und wartete, daß Clorinde herabkäme, um die eben eingekauften Blumen hinauf zu der »Freundin« zu bringen; »denn,« sagte sie, »von der Hand des Kindes nimmt sich doch jede Gabe besonders freundlich aus, und dann kann ich selbst auch die Treppe nicht hinauf – der Fuß schmerzt mich.«

Allein Clorinde kam nicht, statt dessen klingelte es, und Idchen mußte die Töpfe hinsetzen, um zu öffnen.

Frau Carlinchen trat ein.

»I, du meine Güte, Sie sehen ja wie die Blumengöttin selbst aus!« rief die Nachbarin. »Was giebt's denn heute hier? Geburtstag?«

[226] »Ach nein. Mein kleiner Engel hat sein Fest im Herbste.«

»Na schön! So ist's recht. Was eine reife Frucht ist, muß sein Geburtsfest auch in der Jahreszeit der Reife haben. Was sollen denn die Blumen?«

»Für unsre neue Hausgenossin,« entgegnete Amenaïde. »Wollen Sie sie vielleicht hinauftragen, liebe Nachbarin?«

»Warum nicht. Geben's her. Sie haben wohl wieder die Gicht im linken Beine? Das kommt von dem jugendlichen Wesen! Das zieht nie gute, wollene Strümpfe an. Hören Sie mal, die alten Häute wackeln ja heute ganz besonders im Winde. Das hat was zu bedeuten.«

»Was soll es zu bedeuten haben?« entgegnete die Gescholtene gereizt.

Die Nachbarin schüttelte den Kopf und nahm die Blumen. Sie blieb einige Zeit aus, dann hörte man sie laut lachen auf der Treppe, und endlich erschien sie im Zimmer unten, wo Amenaïde ihr fragend entgegentrat.

»Mein Schatz, wissen Sie auch, wen Sie da oben haben?«

»Die Verwandte des Justizraths« –

[227] »Die Verwandte des Satans! I, mein gutes Herrgottchen, das ist ja eben die Mamsell von der ich Ihnen neulich gesprochen, die mit der Wiesentrost umhergefahren ist. Das ist sie ja, leibhaftig. Ich kenne das Weibsbild – schon als Nätherin hatte ich die Ehre ihrer Bekanntschaft. Damals that sie so unschuldig, so tugendhaft! Hast du nicht gesehen! Und jetzt – liegt sie da – und das Kind wird noch nachgebracht. Haben Sie auch eine Wiege im Hause?« –

Idchen war keines Wortes mächtig.

»Na, was hab' ich gesagt mit den Häuten? Darum wackelten sie dort am Fenster so. Unglück im Hause. Seit wann ist denn die Bescheerung dort oben? Und haben Sie denn auch eine Wiege? frage ich.« –

Idchen war noch immer keines Wortes mächtig. Dann aber sagte sie mit einem »himmlischen« Lächeln: »Es ist kein Wort wahr daran, Nachbarin.«

»Aber ich will auf dem Fleck hier des Todes sein, wenn's nicht wahr ist!« rief Diese, und warf ihr gelbes Hütchen wüthend in den Nacken. »Ich weiß nicht, bin ich eine Lügnerin, oder bin ich keine. Man soll mir sagen was ich bin. Aber übrigens, beruhigen Sie sich, Ziebitzchen! Dergleichen ist nichts [228] Arges; kommt hundertmal an einem Tage vor. In den Zeiten, in denen wir leben, kann so etwas nicht auffallen. Wenn Sie's wirklich nicht gewußt haben, so trösten Sie sich jetzt, da Sie's wissen.«

Amenaïde schlug die Hände vor den Augen zusammen, indem sie wimmerte: »Und das Kind, das Kind – allein mit ihr oben! Verpestet, verdorben auf ewig! Und ich ihre Schwester!«

»Ach – das lassen Sie nur gut sein. Wenn man seine sechsunddreißig Jährchen zählt« –

»Und ichich die Schwester!« wimmerte sie immer wieder.

»Nun ja – Sie die Schwester, und ich die Nachbarin, Frau Carlinchen, und Alles bleibt darum doch in der Ordnung.« –

»Hinauf!« rief die Heftige. »Hinauf!«

»Aber Sie können ja nicht Treppen steigen.« –

»Aber ich werde Treppen steigen – Treppen so hoch wie der Himmel ist, wenn mein Kleinod in Gefahr ist.« –

»Ihr Kleinod, liebste Jungfer? – Ach Gott, Ihr Kleinod.«

Idchen schob die Nachbarin bei Seite und wankte die Treppe hinauf. Oben angelangt, blieb sie in der [229] weitgeöffneten Thür stehen und nahm die Stellung einer im Sturm geknickten Blume an.

So stand sie da – lange – wie eine im Sturm geknickte Blume.

Die Blicke – unendlich schmerzlich – auf Rindchen geheftet. Es war ein Anblick, der Herzen, die Gott weiß wann schon versteinert waren, und die Aussicht hatten es ewig zu bleiben, erweichet.

»Um Gotteswillen, was will die im Sturm geknickte Blume? Was will sie?« –

»Nun, nur gleich mein Urtheil gesprochen!« – rief die geknickte Blume. »Nur gleich mich bis in den tiefsten Abgrund verdammt!« –

»Idchen! – Idchen, was ist Dir?«

»Ich will nur gleich hingehen und sterben. Gleich – gleich! Es soll keine Spur von mir übrig bleiben; nicht so viel um einen Kanarienvogel davon zu nähren; nicht so viel!«

»Aber was giebt's denn?«

»O Rindchen, bei dem Schatten unsers Vaters, bei dem Schatten unsrer Mutter, bei dem Schatten unsrer Tante, bei dem Schatten aller unsrer Verwandten und Freunde – bleibe nicht länger in diesem Zimmer! Ich könnte Dir noch mehr sagen, aber ich will es nicht. Ich will groß und still an [230] Deiner Seite stehen, wie ein Genius. Wenn Alles vollbracht, sollst Du es erfahren. Nicht eine Sekunde früher.« –

»Mein Himmel, ich komme schon! Welch eine fürchterliche Stunde!«

»Ja, es ist eine fürchterliche Stunde! Ich kann's mit meinem Tode nicht zu theuer bezahlen. Es bliebe immer noch ein Rest übrig, und wenn ich sechsmal stürbe. O Gott, es ist mir zu Sinn, als wenn ich Rinderbraten mit Meerrettig äße, was ich nie gemocht habe. Gerade so!« –

»Nun so will ich gehen,« hub Rindchen klagend an, »vorher will ich aber von unsrer Freundin Abschied nehmen.« Sie bückte sich zu der im Lehnstuhl Sitzenden, aber wie ein kampflustiger Geier, so fuhr Amenaïde dazwischen und verhinderte diese Umarmung.

»Rindchen, Rindchen! Um alles in der Welt willen! Nur das nicht! Reiner Engel, nur das nicht! Du kennst mich, ich bin ein Tiger, ein Löwe, ein Leopard, wenn es gilt Dich zu schützen. Ein Druck – und Kampf und Blut!« –

»Du bist entsetzlich!« stöhnte Clorinde, und legte das Lockenköpfchen an die Brust der Zürnenden. Diese führte sie rasch hinweg. Dann erschien sie allein wieder und sagte zu dem erstaunten Gaste: [231] »Was kann Ihnen nun wohl anderes übrig bleiben, als den Augenblick Ihr Bündel zu schnüren und fortzugehen? Ich, für meinen Theil wüßte nicht, wie ich rasch genug davon käme, hätte ich wie Sie, zwei unschuldige Wesen an den Rand des Abgrunds gebracht.« –

Die Gescholtene wurde bleich wie der Tod, und stammelte, indem sie sich erhob: »Ich werde gehen. Ich danke Ihnen für das, was Sie mir gewährt haben. Wahrlich, ich habe geglaubt, Sie wüßten, wie es um mich steht, als Sie mich hier aufnahmen.«

»Ich habe nichts gewußt,« entgegnete die Gefragte streng und kalt, indem sie zur Thür hinausschritt. Unten angelangt, sanken sich die Schwestern in die Arme und brachten schluchzend zwei lange Minuten in dieser Stellung zu. Unterdessen stand Frau Carlinchen am Fenster und beobachtete den Abzug der Ausgewiesenen. Diese hatte rasch ihre wenigen Sachen zusammengepackt, ihren Hut aufgesetzt, ein Tuch umgeschlagen, und befand sich eben auf der untersten Stufe, von wo sie noch einen Blick zurück auf das Haus warf, aus dem sie ausgestoßen worden.

»Sie geht wirklich,« sagte die Nachbarin. »Ich [232] glaubte wahrhaftig, sie würde nicht weichen, und man müßte die Polizei in Anspruch nehmen. Aber sie geht! Nun Gott geleite sie: Der arme Wurm kann mich dauern. Die Wiesentrost hat mir gesagt, daß das Kind todt sei – nun das ist auch gut; ein hungriger Mund weniger hier in diesem Jammerthal, der auf zu Gott nach Speise schreit.«

»Kannst Du mir vergeben?« schluchzte Amenaïde – »Sprich es nur aus, Du kannst es nicht.«

»Ich kann es!« entgegnete Clorinde.

»So bist Du denn ganz und gar ein Engel! Von der Fußspitze bis zum Scheitel ein vollendetes, himmlisches Wesen. Aber ich – ich vergebe mir nicht. Jahrelang hab' ich über das Kind gewacht, seine Träume, seine Gedanken gehütet, damit auch kein Stäubchen von dem Schmutze der Welt die Unschuld berühre, und jetzt – führe ich selbst ein Ungeheuer in Deine Nähe.« –

»Ein Ungeheuer!« rief Frau Carlinchen – »Na, man nur nicht zu arg! Das arme Ding ist kein Ungeheuer. Wir sind Alle schwach – Und wenn manche Leute nur Gelegenheit gehabt hätten schwach zu sein« –

»Ein Ungeheuer sag' ich!« schrie die Heftige – »ein schwarzes, giftsprühendes, dunkelglühendes [233] Ungeheuer! Und in dem Rachen dieses Raubvogels lag mein kleines, unschuldiges Täubchen. Tag und Nacht hab' ich es mit dem Würgengel zusammengelassen! – Ha, ich werde dem Justizrath einen Dolch auf die Brust setzen.«

»Gott steh mir bei!« rief Frau Carlinchen, indem sie rasch nach ihrem Regenschirm und ihrem Korbe griff – »wird hier gemordet! So wird man nicht einmal mehr zu den alten Häuten mit Sicherheit kommen können. Ne, ist das ein Lärm und Skandal! – Und um solche Ursach!«

Sie eilte fort, und unterwegs steckte sie der armen Ausgewiesenen ein Fünfgroschenstück in die Hand, indem sie rief: »Im grünen Baum, in der Landsberger Straße giebt's ein Unterkommen. Ich kenne den Wirth und werde ein Wörtchen mit ihm sprechen.« – Damit eilte sie rasch fort, ohne den Dank der Getrösteten abzuwarten.

Diese fühlte ihre Kräfte schwinden. Am Ende der langen Straße angelangt, nahm sie auf einer Treppenstufe Platz, und ihr Haupt sank und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Mechanisch wandte sie das Geldstück zwischen ihren abgemagerten Fingern, und reizte dadurch die Raubgier einer Lumpensammlerin, die in ihrer Nähe Halt machte und mit ihrer [234] Eisenschaufel in der Gosse herumsuchte. Sie nahm die Gelegenheit wahr und entriß der Träumenden das Geldstück, und lief damit lachend fort. Marie dachte nicht daran, ihr nachzueilen. Sie brachte die leere Hand an die glühende Stirn, und ihre Thränen strömten heftiger. Das Bewußtsein, in der großen Stadt sich völlig verlassen zu wissen, nirgends eine Stätte zu haben, wo man sie aufnahm, dabei die Bürde ihrer Schmach und ihres Unglücks tragend, fühlte sie ihr Herz brechen und die Hand des Todes sich nach ihr ausstrecken.

Zwei Augen hafteten auf ihr mit einigem Mitleid.

Sie wußte nichts von diesen Augen.

Eine Hand jagte der frechen Räuberin den Raub ab, und ließ das Geldstück wieder in ihren Schooß gleiten, und dieselbe Hand fügte noch ein Geldstück hinzu.

Die Arme wußte nichts von dieser muthigen und mildthätigen Hand. Sie blickte nicht auf.

Und wieder hefteten sich die Augen auf sie.

Drüben an der Straße stand er; an dem gelben Hause mit den grünen Läden. Dort stand er. Es war ein junger Soldat in einem grünen Rocke; er hatte die Arme über die breite, jugendfrische und starke Brust zusammengeschlagen, und unter dem [235] Schirm der grünen Mütze sahen zwei treuherzige, braune Augen auf das junge Weib auf der Treppenstufe.

Die Vorbeigehenden kümmerten sich nicht um den Soldaten und um die Bettlerin. Es waren dies zwei Gegenstände, die man an jeder Straßenecke sehen konnte. Es konnte nichts Alltäglicheres in der großen Stadt geben, als ein Soldat und eine Bettlerin.

Endlich nahm sie die Hände von dem Gesicht herab, und nun bemerkte sie auch die Geldstücke in ihrem Schooße. Sie blickte sich um, da der Soldat aber gerade diesen Augenblick that, als wenn er nicht im entferntesten um die Existenz des Weibes wüßte, so beobachtete sie die Fenster der Häuser in ihrer Nähe. Allein aus keinem guckte ein Kopf heraus. Und dennoch waren die Geldstücke in ihrem Schooße. Sie besann sich, daß eines derselben ihr geraubt worden war, und es hatte sich wieder zu ihr gefunden.

Sie erhob sich, um ihren Weg fortzusetzen; da sie jedoch schwankte und ein trüber Nebel vor ihrem Blicke sich auszubreiten begann, hielt sie sich nochmals an der Treppenstufe fest.

Rasch war der junge Mann von drüben an ihrer Seite, und sein Arm schob sich unter ihren [236] Arm. »Ich will Sie führen,« sagte er, »wo wollen Sie hin?«

Sie sah ihn an und wußte nun, daß er es war, der ihr das Geld gegeben.

»Ich bin krank, aber mir wird bald besser werden,« entgegnete sie. »Lassen Sie mich nur gehen.«

»Nein,« sagte der junge Soldat; »ich lasse Sie nicht allein gehen. Sie könnten fallen und liegen bleiben. Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie mich nöthig haben?«

Die Kranke erwiederte nichts, sondern stützte sich jetzt auf den kräftigen Arm.

»Wo wohnen Sie?«

»Wenn ich in die Landsberger Straße, in dem Gasthof zum grünen Baum käme, so würde ich vielleicht dort ein Unterkommen finden.«

»Bis dorthin ist's weit. Ich werde einen Wagen nehmen.«

»Nein, nein – ich danke. Wenn meine Kräfte wiederkehren, so werde ich schon so weit gehen können.« – Hiermit machte sie eine Anstrengung, sich von dem Arm, der sie führte, frei zu machen. Doch dieser Arm wich nicht.

»So wollen wir denn zusammen gehen. Ich besitze keinen Groschen mehr, sonst würde ich den [237] Wagen bezahlen. Aber wenn ich einen Kameraden treffe, so werde ich ihn um ein Darlehn ansprechen; wolle der Himmel nur, daß wir einem begegnen, bei dem leere Taschen nicht Sitte sind. Ich kenne viele unter meinen geehrten Brüdern, die es für ein leeres Vorurtheil halten, einen Geldbeutel bei sich zu führen; und gerade diese sind am häufigsten auf den Straßen zu erblicken. Ach – da kommt gleich Einer! Der kann uns nichts helfen, denn der weiß nur von Hörensagen, was Geld ist. Es ist doppelt und dreifach schlimm, daß wir uns gerade gegen Schluß des Monats hier befinden. Die Kassen sind sämmtlich leer. Aber wir wollen den Muth nicht sinken lassen. Im schlimmsten Falle, wie gesagt, gehen wir.«

»Sie sind so gut – wie verdiene ich Ihre Güte?«

»Sie sehen mir so aus, als wenn Sie sie verdienten. Weiter kann ich nichts sagen und weiter wollen wir auch nicht hierüber sprechen.«

»Aber Sie machen zu große Schritte.«

»Das hätten Sie mir schon früher sagen sollen. Ich will jetzt den kleinen Parademarsch gehen! Ist's so recht?«

»Ja, so kann ich nachkommen.«

»So zogen wir in Schleswig ein. Es fehlt nur [238] noch die Musik. Freilich, wenn Jeder mit einer Frau am Arme eingerückt wäre, das hätte nicht gut ausgesehen! Die Dänen hätten über ihre Besieger gelacht! Mancher unter uns dachte wohl – ach hätte ich aus Berlin meinen Schatz mit und er trabte mir hier zur Seite. Was mich betrifft, ich habe keinen Schatz – und der Neuschateller hatte damals auch keinen Schatz, und jetzt hat er einen ganz vornehmen. Damals liebte er mich und keine Menschenseele weiter. Das wurmt mich, daß es nicht mehr so ist! – Aber was rede ich da! Wahrhaftig, ich spreche nur, weil ich nicht will, daß wir so stumm neben einander hingehen sollen. Warum sind Sie so stumm?«

»Was soll ich sagen? Ich bin so sehr – so sehr unglücklich. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

»Das ist auch schon genug,« sagte Friedrich Forst. »Ein Schelm und unnützer Frager, der mehr verlangt. Hier kommt eine breite Gosse, darüber hin müssen Sie schon einen großen Schritt thun. Soll ich Sie darüber heben?«

»Ich bin nicht vornehm erzogen. Ich bin eine arme Bäuerin. Als ich hier in die Stadt kam, hab' ich etwas nähen gelernt und damit mich ernährt, bis [239] das Unglück kam. Es giebt schlechte Menschen – lieber Soldat.«

»Ja, aber es giebt einen Gott.«

Die Arme hörte diese Worte und schauderte zusammen. Sie schloß sich enger an den Arm ihres Begleiters, so, als wollte sie nie von dem lassen, der ihr in diesem Augenblicke, wo sie mit ihrem brechenden Herzen kämpfte, diese Worte zugerufen.

»In meinem Vaterhause betete ich zu Gott!« murmelte sie vor sich hin. – »Hier nicht mehr!« –

Der Schütze wußte jetzt die ganze Lebens- und Leidensgeschichte seiner Gefährtin. Obgleich selbst nicht eingeweiht in die Corruption der großen Hauptstadt, wußte er doch durch seine Kameraden so viel, daß er den Beginn und den Verfolg der Schicksale der Geschöpfe dieser Art zu verfolgen im Stande war. Daß seine Gefährtin ihn nicht zu belügen trachtete, gefiel ihm. Sie hatte gesagt: bis das Unglück sie erreicht; das war sehr deutlich gesagt. Eine Andere in ihrer Stelle hätte ganz andere Dinge vorgebracht. Dann hatte sie kurzweg eingestanden, daß sie eine Bäuerin sei, und das gefiel Friedrich wieder. Sein natürlicher und unverdorbener Sinn sagte ihm, daß er es mit einem Wesen zu thun habe, wo er [240] sich nicht zu schämen und es nicht zu bereuen brauche, daß er sich desselben angenommen. –

Es wollte kein Kamerad kommen, von dem sich irgendwie mit Bestimmtheit voraussetzen ließ, daß er ein paar Groschen übrig in der Tasche habe. Der fatale Monatsschluß! –

Aber die Kräfte der Kranken nahmen im Gehen zu. Sie schloß sich nur immer fester an ihren Führer. Sie dachte immer wieder daran, daß er gesagt hatte: es gäbe einen Gott. Sie konnte sich selbst nicht genug bekennen, wie lieb und süß ihr diese wenigen Worte geklungen hatten. Es gab einen Winkel in ihrer Seele, einen heimlichen kleinen Winkel, dahin war die Welt noch nicht gedrungen, da war ein weiches, sicheres Bette bereitet, und in den Flaum dieses Bettchens fiel das süße Wort: Es giebt einen Gott! –

Und darum schloß sie ihren Arm so fest an den seinen, und darum wuchsen ihre Kräfte, und darum dachte sie nicht mehr daran zu weinen, und darum theilte sich der Nebel vor ihren Blicken.

Jetzt sah sie ihn an und sah zum ersten Male, daß er ein sehr hübscher Junge war, daß seine Wangen von der Röthe der Jugend glänzten, und daß seine dunkeln Augen voll treuherziger, inniger Seele [241] glühten. Dieser flüchtige Blick that ihr wiederum wohl, und sie fühlte sich noch stärker wie früher.

Und so gingen sie miteinander fort; und so langten Beide denn endlich in der Landsberger Straße und in dem Gasthof zum grünen Baum an. Im Vorplatz auf einer Bank stand das Körbchen, und darauf der gelbe Hut der Nachbarin. Sie war also noch früher am Platz, als die Empfohlene, und hatte richtig, nach ihrem Versprechen, hier Quartier bestellt. Friedrich empfahl sich, und mußte versprechen wieder zu kommen.


[242]


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