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19.
Die Geheimnisse der Bettlerin.


Herr Kieselack war in der Nähe des Handschuhladens geblieben. Da er nicht eher zu ruhen pflegte, als bis er sich von den Dingen, die seine Neugier reizten, die ihm zusagende Kenntniß verschafft hatte, und was ihn schon lange reizte zu erfahren, in welcher Beziehung der junge vornehme Herr von Ruborn zu diesem Mädchen stehe, das, wie es schien, hier in sehr untergeordneten, wenn nicht gar zweideutigen Verhältnissen lebte, so hatte er jetzt, nachdem er sich von Helenens noch andauernder Anwesenheit im Hause des Handschuhfabrikanten überzeugt, in einem nahen Tabacksladen Posten gefaßt. Er bemerkte daher sogleich, als Helene ihren Gang antrat, und folgte ihr in einiger Entfernung bis so weit, wo er sie in einer ziemlich einsamen Straße [243] vor sich hatte. Jetzt beflügelte er seine Schritte, und war alsbald neben ihr.

Mit einer höchst peinlichen und widrigen Empfindung sah ihn Helene neben sich. Allein sie wußte und beurtheilte Herrn Kieselack darin sehr richtig, daß wenn sie ihm ihren Widerwillen und ihren Unmuth zeigte, dies gerade eine Aufforderung mehr sein würde, daß er blieb. Sie erwiederte also mit einer gewissen Freundlichkeit und Zuvorkommenheit seine Fragen. Dies setzte Herrn Kieselack gleichsam in Verlegenheit, indem es ihn zwang, ebenfalls, so lange er es irgend vermochte, artig und bescheiden zu sein. Doch er vermochte dies nicht lange. Seine Scherze wurden unzart, seine Fragen und Erkundigungen überschritten jede Grenze der Höflichkeit, und Helene wandte sich zu ihm, indem sie ihn bat von seiner ferneren Geleitschaft abzustehen.

»Weshalb?« fragte Herr Kieselack, indem er mit den blassen Augen zwinkerte und die Spitze seines Stöckchens in die blonden Seitenlocken schob. »Weshalb, mein Fräulein? Lieben Sie also immer nur allein Ihre Spaziergänge abzumachen? Ich will Ihnen dann bemerken, daß diesem Verlangen hier in Berlin von Unbefugten oft störend in den Weg getreten wird.«

[244] »Das bemerke ich,« entgegnete Helene kurz.

»Ah, nicht übel! Sie wissen zu antworten. Aber ich bin kein Unbefugter, ich bin Ihr wahrer Freund. Und so möchte ich Sie denn auch sofort vor einem jungen Herrn von Ruborn warnen.«

Helenens Antlitz überzog eine lebhafte Röthe, die sie vergeblich den unverschämten Blicke ihres Begleiters zu entziehen versuchte.

»Sie werden roth, mein Fräulein – Sie werden roth! – Ich fürchte – ich fürchte, meine Warnung kommt zu spät.« Hierbei versuchte Herr Kieselack seinen Arm unter Helenens Arm zu schieben. Helene blieb stehen und machte ein Zeichen, als erwarte sie, ihr Begleiter werde vor ihr hingehen. Allein Kieselack verstand keinen Wink. »Wenn Sie es wagen eine Dame zu beleidigen« – sagte Helene empört – »so muß ich's freilich dulden, ich habe keinen Schutz.«

Herr Kieselack lächelte unbeschreiblich befriedigt.

»Ich beleidige nie Damen,« hub er an; »verstehen Sie wohl: Damen! Junge, hübsche Mädchen aus dieser oder jener Stadtgegend – aus diesem oder jenem Hause –«

»Genug!« rief Helene. »Ich werde den ersten, besten Schutzmann zu meiner Hülfe aufrufen.«

[245] In diesem Augenblicke bog ein Herr rasch um die Ecke, und sich zwischen Helene und ihren Verfolger drängend, schnitt er den Verfolger von der Verfolgten ab, und rief, seinen Hut ziehend, Herrn Kieselack zu: »Mein Herr, ich suche Sie schon lange; dürfte ich bitten auf ein Wort.«

»Ich stehe ganz zu Ihren Diensten,« entgegnete der Angeredete.

Die beiden Männer gingen die Straße hinab.

Helene blieb verwundert zurück. Sie hatte ihren Bruder erkannt, doch dieser ihr nicht einen Blick, kein noch so geringes Zeichen, daß er seinerseits sie erkannt, gegeben. Wie sollte sie sich dieses plötzliche, seltsame Erscheinen erklären! Doch es war keine Zeit hierüber nachzugrübeln. Rasch setzte sie jetzt ihren Gang fort und verlor jene Beiden bald aus dem Gesicht.

 

Das Gespräch, das jene Beiden führten, war folgendes. »Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen, das Sie vielleicht noch nicht wissen,« hub der junge Kaufmann mit einer äußerst freundlichen Miene an.

»O, was ist das?« fragte Herr Kieselack eben so freundlich.

»Daß Sie ein erbärmlicher Mensch sind,« sagte der Gefragte.

[246] Herr Kieselack verzog keine Miene. Er hatte in den vielen Begegnissen seines Lebens auch schon eine solche gehabt. Er lüftete den Hut, schob sein Augenglas in die Augenhöhle und seinen Begleiter anstarrend sagte er: »Das ist freilich etwas, was ich noch nicht wußte, mein Herr.« –

»Ja, ja – darum aber sagt' ich's Ihnen. Ist das eine Art, ein unbescholtenes Mädchen auf der Straße zu beleidigen!«

»Wollen Sie denn lieber, daß ich sie auf ihrer Stube beleidigte? Auch das kann geschehen.« Herr Kieselack lachte so heiter und so fröhlich, wie er seit lange sich nicht besinnen konnte, gelacht zu haben.

»Ich bitte, geniren Sie sich nicht,« hub der Andere an, ebenfalls wie es schien in außerordentlich guter Laune. »Es ist meine Schwester, und Sie können jeden Augenblick durch mich erfragen, wo sie wohnt.«

Die Stimme, die diese Worte sprach, hatte sehr viel Metall. Herr Kieselack liebte diese Art Stimmen nicht; auch war ihm die Wendung, die die Angelegenheit nahm, nicht angenehm. Er lüftete daher seinen Hut, und sagte trocken: »So, dann ist's etwas anders. Dann steh' ich natürlich von meiner Verfolgung ab.«

[247] »Ich danke,« sagte Jener.

»O, keine Ursache. Ich empfehle mich.«

»Sie lassen also den ›erbärmlichen Menschen‹ auf sich sitzen? Im Fall Sie dies zu thun nicht gesonnen wären, hier in der Nähe wohnt ein Freund, der Waffen hat. Wir könnten sogleich –«

Herr Kieselack blickte sich um und überzeugte sich, daß Niemand diese Unterredung gehört hatte, er fand es also nicht für nöthig, aus der Sache Ernst werden zu lassen, im Gegentheil, er fühlte lebhaft das Bedürfniß, wie er stets zu thun pflegte, mit einem guten oder schlechten Witz zu entschlüpfen.

»Gut,« rief er lebhaft; »ich bin bereit. Aber haben Sie Zündnadel-Gewehre? Ich schlage mich nie anders als mit solchen. Verstanden?«

»Ich habe ein Paar gute Pistolen.«

»Pistolen! schauderhaft alte Erfindung. Miserable reactionäre Waffe. Nein, mein Herr, Sie können nicht verlangen, daß ich mich mit Ihnen so arg compromittire. Ihr Ruf ist mir eben so heilig, als der Ihrer Schwester; wenn ich Sie nun mit einem ordinären Taschenböller todt schösse, so wäre Ihr Ruf besteckt, und Jedermann könnte Ihnen nachsagen, daß Sie unzeitgemäß aus der Welt gegangen. So werde ich Sie nimmer beleidigen.«

[248] »Herr, Sie haben keinen Muth!« –

»Umgekehrt, Sie haben keinen, da Sie es wagen mich zu beleidigen, ohne doch die Mittel zu besitzen mir Genugthuung, wenn ich sie fordere, zu gewähren.«

»Ach, das ist spaßhaft.«

Und der junge Kaufmann lachte, und Herr Kieselack lachte mit. Der Streit endigte sich, indem Beide in eine Restauration traten, und Einer dem Andern ein Glas Madera vorsetzte, welche Gelegenheit Herr Kieselack geschickt benutzte, um den jungen Kaufmann und seine Verhältnisse auszuforschen. »Es ist wunderlich,« sagte Herr Hermes zu sich, als er seinen Weg in's Comptoir wieder fortsetzte: »das ist ein Mensch, dessen Unverschämtheit Einen zur äußersten Wuth reizt, den man aber zu züchtigen nicht Zeit findet, weil man über seine Einfälle lachen muß. Aber nächstens soll er mir nicht entschlüpfen. Hörte ich ihn nicht den Namen Ruborn aussprechen? Also der weiß auch von dem kläglichen Verhältniß? Weiß auch, wie unwürdig eine Tochter, eine Schwester handelt? Dem muß ein Ende gemacht werden. Ich will endlich einmal selbst zu diesem alten Aristokraten und Reaktionär gehen und ihn bitten, seinen Sohn aus unserm Gehege fern zu halten. Lange [249] Zeit hab' ich nichts thun wollen, weil ich denke, die Dinge thun sich von selbst – jetzt aber muß es geschehen.«

 

Während der Bruder grollend und Pläne schmiedend auf seiner Arbeitsstube anlangte, trat Helene in das Häuschen der Wittwe und fand diese auf dem Sterbelager. Die Alte hatte noch ihre volle Besinnung und begrüßte ihre Enkelnichte mit großer Herzlichkeit.

»Hab' ich's nicht gesagt, daß der Postillon vor der Thür steht und zum Abzuge bläst?« sagte die Alte, indem sie ihr mageres Gesicht, in dessen zahllose Runzeln sich schon der Tod gebettet hatte, zum Lachen zwang. »Nun komm, mein schmuckes Kätzchen und höre der alten Katze Beichte. Laß Dir von ihr erzählen, wie viel Mäuse sie fing, und wie manche hübsche Maus von glänzendem Fell und mit Fett auf den Rippen sie leider hat entschlüpfen lassen. Komm, mein Täubchen, laß Dir von einer alten blinden Taube, die ihre Federn zu verlieren beginnt, erzählen, wie es in dem Innern des großen Taubenschlages aussieht, das wir Welt nennen, und wo der Marder unbehindert ein- und ausspaziert. Ich war einmal eine schmucke Taube, und mein Flug ging hoch; jetzt lieg' ich mit gebrochenem Fittich [250] darnieder. Komm, Kind, setze Dich zum Bette eines alten Weibes, das Gott niederwirft, und das er seinen starken Arm fühlen läßt.«

Helene hörte diese sonderbare Sprache, die den Stempel der Fremdartigkeit aufgedrückt zeigte, gerne. Ihre Phantasie wurde dabei angeregt, sich allerlei fremde Zustände und Personen zu denken.

»Nun, willst Du Platz nehmen! Wie oft soll ich Dich nöthigen.«

»Ich bin schon Dir zur Seite, Großtante,« sagte das Mädchen, »Du siehst mich nur nicht.«

»Ach – nun so gieb mir Dein Händchen.«

Die Alte erzählte nach diesen Eingängen Mancherlei aus ihrem Leben, allein alles aphoristisch, durch eine Menge Kreuz- und Querfragen unterbrochen. Man merkte ihr an, daß sie zerstreut war. Ihre Blicke richteten sich oft nach dem Theil des ärmlichen Gemachs, woselbst ein morscher alter Koffer stand, von dem Schloß und Messingbeschläge bereits abgelös't waren. Endlich sagte sie, indem sie sich im Bette mit Mühe umwendete, um den Blick auf das abwärts befindliche Fenster zu richten: »Kind, nimm mal dieses Tuch, und hänge es vor den unteren Theil des Fensters. Se. Excellenz, der Herr Minister, spalten auf dem Hofe Holz, und geruhen von Zeit [251] zu Zeit Blicke in das Fenster zu thun, um auszuspioniren, wann es mit mir aus sein könne, und was wir Beide wohl hier noch mit einander abzumachen haben. Se. Excellenz sind neugierig. Thu, mein Kind, wie ich Dir gesagt, und dann geh' und öffne den Koffer dort, und bringe mir die armseligen Lumpen her, die er enthält.«

Helene erfüllte das Begehr, verdunkelte das Fenster durch eine alte Schürze, und nahm aus dem Grunde des Koffers einige, einen scharfen Modergeruch verbreitende Bündelchen, die sie der Alten auf's Bette legte. Diese ging alsbald daran, die Knoten und Bänder zu lösen, und mit leuchtenden Blicken, mit Gemurmel und Lächeln die einzelnen Stücke auszupacken und vor sich hinzubreiten. Es war ein kleines rothes Jäckchen, mit ehemaliger – jetzt völlig schwarz gewordener Goldschnur besetzt, dann ein Rock, ein Paar Stiefelchen, ein Hut mit einer Feder und Anderes.

Die Alte hub an, indem sie sich mit noch funkelnden Blicken zu Helenen wandte: »Ich brauche meine Zeit nöthig; ich kann sie nicht mit leeren Plaudereien hinbringen. Sogleich wird der Notar erscheinen, um mein Testament aufzusetzen.«

[252] Unwillkürlich machte Helene bei diesen Worten eine erstaunte Miene.

»Ja,« rief das seltsame Mütterchen – »Du wunderst Dich, daß ich von einem Testament spreche; allein Du wirst schon sehen, daß auch die Bettlerin etwas zu verschenken hat. Nimm mal die Scheere, Kind, und trenne mir an dem rothen Leibchen das Unterfutter an der linken Seite auf.«

Helene that's und Goldstücke fielen heraus. »Sieh mal!« schrie die Alte ganz lustig. »Ich ging einst im Sonnenschein spazieren und da blieb der goldne Schein an meinem Röcklein haften, rollte sich zusammen in kleine Scheiben, und – wie Du siehst, ist er noch da; obgleich es lange, lange her ist. Nun arbeite weiter.«

Es kam eine silberne Kette zum Vorschein.

»O!« rief die Alte in demselben Tone, »so muß ich denn auch etwas vom Monde haben. Ich badete einst in kühler Waldnacht in einem stillen See, da funkelte der Mondes-Schimmer so heimlich durch die Zweige, und fiel in silbernen Tropfen auf mein – damals, ach, so dunkles, schwarzes Haar! Ich schüttelte die Tropfen ab, und sie fielen auf meine Kleider. Und sieh da – es ist ein Kettchen geworden.«

[253] Helene trennte jetzt eifrig die alten Nähte auf, und nach einer angestrengten Arbeit von einer halben Stunde lagen Goldstücke, Pretiosen und Banknoten in einer ziemlichen Anzahl auf dem Tische. Die Alte warf sich zurück in die Kissen, streckte die mageren Arme weit aus, und rief wie von Schmerz zerrissen: » So muß ich euch wiedersehen, ihr Gespielen meiner Jugend und Thorheit. So streicht das alte Weib ein, was die junge Dirne sammelte. Ach – ihr meine schönen Tage, ihr Kinder der Sonne, ihr Lieblinge eines Weiberherzens – ihr Jugendtage – wo – wo seid ihr hin! Ja, – ich ging einst im Sonnenschein des Glücks spazieren, eine junge blühende Creatur, und es regnete Gold auf mich nieder, ja, ich badete einst, ein üppig Mägdlein in kühler Mondnacht und es floß Silber auf meinen Nacken herab. Aber wo ist die Zeit hin! – Jetzt ruhet mein Fuß in dürren Blättern, es rauscht mein Kleid über Gräber, ich geh' dem Nachtwind entgegen, der aus offnen Grüften bläst. O meine Jugend, meine Jugend! Gebt sie mir wieder!«

Die Alte lag, wie unter Krämpfen gebrochen da – jeder Nerv an ihr war wehklagende Rückerinnerung an die Tage ihrer Jugend.

[254] Helene fühlte sich tief ergriffen. Es war ihr, als spräche eine andere, stärkere, gewaltigere Zeit zu ihr, als die ihrige war.

»Daß es ehrlich verdient ist,« sagte die Alte sich fassend – »brauch' ich Dir nicht zu sagen. Ich bin keine Spitzbübin. Die Wege, die ich gewandelt bin, sind zwar nicht die Wege, die die Frauen gehen, allein es sind auch nicht die Pfade des Lasters. Wo ich etwas gewinnen konnte, habe ich's genommen, dafür habe ich aber auch oft gegeben, wo manche andere Frau, die im Wohlleben sitzt, nichts gegeben haben würde. Wenn Gott mich nicht zurücknehmen will, gut, so mag er's bleiben lassen; ich werde dann schon anderswo ein Plätzchen finden. Ich habe noch Niemand in meinem Leben um eine Gnade gebeten.«

Es klopfte an die Thür.

»Ah – da ist er!« rief die Wittwe. »Vielleicht ist's der Tod, vielleicht ist's aber auch der Notar. Beides sind alte Freunde, und ich erwarte Beide. Oeffne, mein Kind.«

Die Alte warf ein Tuch über den Tisch und dessen Schätze. Ein silberhaariges Männchen trat ein, grüßte, stellte Hut und Stock in die Ecke am Bette, und brachte, indem es sich an den Tisch niederließ, einige Papiere zum Vorschein.

[255] »Vor Dir kann ich meine Schätze zeigen!« rief die Alte, das Tuch wegziehend.

»Ja, Du kannst's Bathseba,« entgegnete der Mann, und sah forschend Helene an, die ihre Blicke niedersenkte.

»Meines Neffen Tochter« sagte die Wittwe.

Der Mann nickte. »Nun ist Alles richtig?« sagte er, auf die werthvollen Gegenstände weisend.

»Richtig!« entgegnete sie. »In offener Truhe hat's gelegen und Niemand hat's angetastet. In der Bettlerin Stübchen sucht man nicht nach Gold und Edelgestein. Ein Ringlein fehlt, das ich hatte offen liegen lassen, das hat Se. Excellenz, der Herr Minister gestohlen. Ich will's ihm lassen. Ein böser Bub' ist er und bleibt er. Nun lese dein Testamentlein vor, Männchen! Ich will mal hören, was die alte Närrin mit ihrem kleinen Kram anzufangen gedenkt.«

Noch nie hatte eine Sterbende in so heiteren Worten von ihrem Tode gesprochen. Der Notar las die aufgesetzte gerichtliche Schrift ab, und Helene war nicht wenig erstaunt, als sie den Betrag des Erbes hörte, und zugleich vernahm, daß die Alte sie und ihren Bruder zu Haupterben eingesetzt.

Sie wollte ihr dankend um den Hals fallen, aber die Wittwe rief abweisend: »Nichts da – ich werde nicht mehr umarmt! und geküßt nun gar nicht! bleib [256] sittsam auf Deinem Stuhle, mein Kind. Das Männchen, mein alter Gevatter, liebt auch nicht, daß in einer Gerichts- und Sterbestube so groß Geschrei und Manöver gemacht werde. Also still! Nun kommt die Klausel.« –

Diese Klausel enthielt den Ausspruch, der Helenen auf's Aeußerste in Erstaunen setzte, und ihr eine große Ueberraschung und Freude bereitete. Es hieß darin, daß die Erblasserin wünsche eine Verbindung zwischen Herrn von Ruborn und ihrer Enkelnichte zu Stande zu bringen, daß sie demnach von ihrem Neffen und dessen Familie erwarte, daß sie dieser Heirath nicht entgegen sein werden. Nur in diesem Falle vermachte sie dem jungen Hermes, ihrem Enkelneffen, die Hälfte der Erbschaft. Willigte die Familie nicht ein, so sollte das Ganze Helenen gehören.

»Aber beste, theuerste Großtante!« rief das Mädchen und schlug die Hände vor das erröthende Gesicht, »was ist das Alles nun! Ist's mir doch wie ein Traum; oder als wäre ich in ein fremdes Vaterland versetzt! – Sie waren ja auch gegen meine Heirath. –«

»Ich war's« – rief die Alte; »allein ich bin es jetzt nicht mehr. Ich hab' allerlei Rechtes und Braves von Deinem Schatz gehört, und dann – o! das [257] gehört wieder zu meiner schönen Jugendzeit! – und dann!« Sie hielt inne, und nahm dann einen Ring, den unscheinbarsten, vom Tische und betrachtete ihn lächelnd.

Die beiden Zeugen dieser Scene schwiegen ehrfurchtsvoll.

»Der alte Herr v. Ruborn« – fuhr die Wittwe fort – »er war nicht immer der alte Herr v. Ruborn wie Ihr ihn jetzt nennt. Ich habe ihn gekannt als schmuckes, hübsches Jüngelchen, da er noch Fähndrich war im 12. Infanterie-Regiment. Ach – er weiß es nicht mehr! Als ich jüngst ihm auf der Straße begegnete, stehen blieb und ihm lange nachsah, und taumelte und wankte, dann hastig die Leute fragte wie der Mann heiße, – da mochte er denken, wer ist die einfältige Bettlerin, die sich wie verrückt anstellt. Er erkannte mich nicht, ich aber erkannte ihn. Wie sollte er auch in mir das Weib wiedererkennen das einst schwer erkrankt und frierend am Bivouakfeuer lag und dem er seinen Mantel gab. Später lange darauf, schickte er mir durch einen Kameraden, der durch unser Städtchen kam, diesen Ring.« –

»Auch wir haben uns gekannt in den Zeiten unserer Jugend,« sagte der Notar. »Du hast meinen Eltern aus der Noth geholfen, Bathseba!«

[258] »Kleiner, rede mir nicht davon. Dafür hast Du hier in dieser Stadt, wo so viele Ohren horchen und so viele Mäuler plaudern, mein Geheimniß treu bewahrt, und sitzest nun da und bringest das Siegel des Gerichts auf meinen letzten Willen. Das ist Erkenntlichkeit genug. Auch Du hast etwas von der Bettlerin zu erwarten. Wenn sie mich in die Erde gebracht haben werden, so weißt Du, wo Du das Deinige zu finden hast.

Jetzt laßt mich; ich will noch mit meinem alten Diener sprechen. Er soll mir mein Sterbehemd heraussuchen und mir die Augen zudrücken – Geht, geht! Und Du, Männchen, nimm hier Alles mit und in Deinen Verwahr!«

»Noch nicht« – entgegnete der Mann; »erst müssen die gerichtlichen Zeugen eintreten. Die Form muß beobachtet werden; besonders in einem so extraordinairen Fall.«

Die gerichtlichen Formalitäten fanden Statt.

Helene entfernte sich. Ihr Herz war voll Dank, und die Zukunft erschien ihr nach langer Zeit wieder in einem rosigen Lichte.


[259]


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