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16.
Ein andrer Begleiter findet sich.


Als Helene sich auf diese Weise ausgeschlossen fand, dachte sie einen Augenblick über diese alte Verwandte nach, und es kamen ihr jene Geschichten wieder in den Sinn, die sie im Hause der Eltern über sie gehört. Sie besann sich, den Vater oft von der Alten sprechen gehört zu haben, und immer mit einer gewissen Achtung. Schon früh war sie selbstständig gewesen, und hatte ihren Lebensweg ganz auf eigne Manier angetreten. Ohne ein Geldstück vom Elternhause mitzunehmen, war sie ausgewandert, hatte sich früh durch die Welt zu schlagen gelernt, und einen Polen geheirathet, von dem sie sich aber, weil er ein gar zu wüster Geselle gewesen, wie sie selbst gestanden, früh wieder getrennt hatte. So hatte sie sich denn an der Grenze, halb Polin, halb Deutsche, [199] umhergetrieben, und wie das Gerücht behauptete, auch durch Schmuggelhandel Vermögen erworben. Sie selbst wollte nichts davon wissen. Sie kam arm und verlassen nach Berlin, nahm aber in keiner Weise die Hülfe ihrer dortigen Verwandten in Anspruch, was ihr Herr Hermes, der Vater Helenens, für Stolz auslegte. Allein es war eben eine »besondere« Frau. Im Alter noch viel eigensinniger, als sie es in der Jugend gewesen war.

Diese Gedanken wurden aber schnell verscheucht von der Besorgniß, wie sie jetzt nach Hause kommen solle. Sie entschloß sich natürlich schnell einer Droschke sich zu bedienen, allein um zum Halteplatz derselben zu gelangen, war ein langer Weg zurückzulegen. Um zehn Uhr sind die Straßen Berlins noch sehr belebt. Eine Berlinerin von gutem Schrot und Korn findet nichts Bedenkliches, um diese Stunde sich in alle möglichen Regionen der Stadt hinzuwagen. Allein Helene war furchtsam; an stete Fürsorge für ihre Person gewöhnt, war es ihr im höchsten Grade unbehaglich, wenn auch nicht gefährlich, sich jetzt völlig verlassen zu sehen. In jedem weißen Hute, in jeden leuchtenden Handschuhen glaubte sie Herrn Piersig zu sehen, und immer täuschte sie sich. Herr Piersig kam nicht.

[200] Helene sah nach ihrer Uhr; es war halb elf. Jetzt begab sie sich allein auf den Rückweg.

Eine kleine dunkle Seitengasse, von beiden Seiten von Gärten eingeschlossen, war zu durchschreiten, ein sehr enger Pfad zur Seite eines Zaunes bot eben nur so viel Raum, daß der flüchtige Fuß der nächtlichen Wanderin unberührt von dem Schutt und dem Naß des übrigen Theils der Straße darauf Platz finden konnte; kam hier Jemand entgegen, so mußte notwendig Einer der Beiden in die Kehrichthaufen und in die Nässe treten. Unglücklicherweise bewegte sich auch ein schwarzer Schatten auf Helenen. Drei Schritte entfernt blieb dieser Schatten stehen, dem das Auge in der Dunkelheit durchaus keine Form abgewinnen konnte, und eine Stimme fragte:

»Wohin so spät, mein Kind?«

Der Ausdruck »mein Kind« hier gebraucht und von einem so unbekannten, drohenden Wesen, hatte für Helene etwas unbeschreiblich Widriges. Noch ganz erfüllt von den Erinnerungen an ihr Vaterhaus, kam es ihr wie ein entsetzlicher Hohn vor, jetzt diesen Zuruf zu hören, den sie so oft von den Lippen des theuren, edlen Mannes, den sie Vater nannte, vernommen. Ohne zu antworten, wollte sie rasch [201] am Zaun hinschlüpfen, allein sie fühlte ihren Arm erfaßt und unter den ihres Begleiters geschoben, der jetzt mit ihr umkehrte.

»Ich will Sie nach Hause bringen,« sagte der Mann mit der selben rauhen, wilden Stimme, »wo wohnen Sie, Schätzchen?«

Helene wußte sich nicht anders zu retten, als daß sie auf das erste beste Haus zeigte, dessen Fenster noch erleuchtet waren, und dieses als ihren Wohnort bezeichnete. Die Kürze des Weges schien dem Führer nicht angenehm.

»Das ist ja ein Speise-Lokal,« sagte er, »und Sie sind wohl die Köchin? Allein dafür sieht Ihr Hut und Ihr Mantel zu fein aus. Also wohl so etwas wie Kellnerin –?«

»Ich bin die Tochter des Wirths« – sagte Helene in steigender Beklemmung, und suchte vergeblich ihren Arm frei zu machen.

»Wenn das ist,« rief ihr Begleiter, »so wüßt' ich wohl, mein Fräulein, auf welche Weise Sie meinen Dienst, den ich Ihnen so eben leiste, indem ich Sie begleite, vergelten könnten. Sie werden mir ein kleines Abendbrod vorsetzen lassen. Nicht wahr? Ich habe meine Börse gerade zu Hause vergessen. Nun, sind Sie dabei? Wenn Sie's nicht wollen, so muß ich [202] mir ein anderes Abendbrod selbst nehmen, das heißt einen Kuß. Geschwind, mein Schätzchen, wählen Sie.«

Ein großes, bärtiges Gesicht näherte sich Helenen, und eine derbe Hand schob den Schleier ihres Hutes zurück.

»Ich werde Ihnen Geld geben, daß Sie sich selbst ein Abendbrod kaufen können,« sagte sie mit gepreßter Stimme, und brachte ihre Börse hervor. Sogleich befand sich diese in den Händen des Begleiters, und ehe Helene einen Laut hervorbringen konnte, war die große, schwarze Gestalt in der Nacht verschwunden. Zugleich verlöschten die Lichter der Restauration, und die Thür wurde geschlossen. Helene erhob ihre ohnmächtige Stimme, um nach einer Droschke zu rufen, dicht neben ihr rief eine eben so klägliche Stimme ebenfalls nach einer Droschke. Helene wandte sich um und sah, daß ein zweiter Schatten, aber diesmal ein sehr kleiner, schmaler, neben ihr in der Dunkelheit sich bemerkbar machte.

Helene bemerkte, daß an der Seite dieses neuen Unbekannten etwas wie eine Waffe blitzte. Es mußte also ein Mann sein, und zwar ein bewaffneter; das konnte schon als Trost gelten, und diesmal war Helene diejenige, die zuerst das Wort ergriff. [203] »Lassen Sie uns zusammen eine Droschke aufsuchen,« sagte sie in einem freundlichen Tone zu ihrem Unglücksgefährten.

»Ach ja, wir wollen zusammen eine Droschke aufsuchen,« tönte es wieder.

»Nun so kommen Sie –«

»Ja, wenn Sie mir den Arm geben wollten,« bat die Stimme; »ich habe in einen Kehrichthaufen getreten, und sitze jetzt so fest darin – Teufel Donnerwetter! Ist das eine Straße!«

Helene machte den Bittenden frei, und bemerkte jetzt erst, daß sie einen kleinen Militairschüler vor sich hatte, allein er war das schmächtigste, magerste Jüngelchen, das je in der Uniform eines Kadetten gesteckt hatte. Helene nahm seinen Arm und das Paar schritt vorwärts. »Wenigstens wird mich der nicht um einen Kuß bitten,« sagte sie beruhigt und lächelnd zu sich.

»Wenn wir nur nicht angefallen werden!« hub der kleine Kriegsheld an.

»Aber Sie haben ja eine Waffe bei sich.« –

»Ach Gott, ja! Aber wissen Sie wohl, daß es gefährlich ist, sie herauszuziehen, ich kann entweder mich oder Sie verwunden. Das Ding hat eine [204] mörderische Spitze; man kann Federposen damit schneiden.«

»Es ist wahr,« sagte Helene. »Wir wollen hoffen, daß wir sie gar nicht in Anwendung bringen. Aber halt! da steht ein Mann, unbeweglich am Zaun gelehnt. Was wird der nur wollen?«

»Ja, was wird der wollen! Es ist abscheulich, daß man in Berlin nicht spazieren gehen kann, ohne Männer am Zaun zu finden.«

»Der Mensch steht unbeweglich!« bemerkte Helene, die Größe des Schattens messend. »Er scheint groß –«

»Er hat seine zwölf Zoll« – raunte ihr der Kadett in's Ohr. »Es ist ein Demokrat.« –

Der Schatten wurde etwas kleiner; er schien sich zu bücken.

»Gehen wir drauf los,« munterte Helene ihren Begleiter auf. »Es ist wohl gar ein alter Bettler, der sich mehr vor uns fürchtet als wir vor ihm. Sehen Sie, er scheint die größte Lust zu haben, fortzulaufen.«

Eine äußerst dünne und zitternde Stimme rief: »Wer da?«

Eine nicht minder schwankende Stimme, die [205] unserm kleinen Bewaffneten gehörte, fragte ebenfalls: »Wer da?«

Jetzt näherten sich beide Parteien mit der gehörigen Vorsicht, und Helene erkannte zu ihrer großen Freude ihren Hausgenossen, den furchtsamen Herrn. Dieser mit nicht geringerem Vergnügen sie. Der Kadett war Zeuge der Bewillkommungsscene. Man theilte sich gegenseitig mit, was einen hierher gebracht. Der furchtsame Herr hatte mit einem befreundeten Kunsthändler in jener Restauration gespeis't, hatte sich verspätet und war beim Anblick der durch die Dunkelheit blitzenden Waffe erschreckt stehen geblieben. Wie in jener Scene in der komischen Oper hatte sich Einer vor dem Andern gefürchtet und Jeder seinem Gegner Furcht eingeflößt.

»So treffen wir uns denn in Nacht und Dunkel, mein liebes, liebes Fräulein,« sagte Herr Karcher. »Aber nun wollen wir auch zusammen nach Hause gehen.«

Der Kadett bestieg eine Droschke, nachdem er Helenen mit Dank überschüttet, sie und Herr Karcher wollten eben in einem zweiten Wagen Platz nehmen, als bei dem Schein der Laterne, an der sie jetzt standen, zwei Herren an ihnen vorübergingen, die beide die Dame scharf fixirten. Der Eine machte sich [206] sogleich von seinem Begleiter los und war im Begriff, zu der Dame in die Droschke zu springen, indem er rief: »Ach – meine Handschuhfabrik-Bekanntschaft! Endlich seh' ich Sie wieder! – Jetzt entkommen Sie mir nicht« – als der andere Herr ebenso heftig an der andern Seite die Wagenthür öffnete, und sich tief hineinblickend rief: »Ist's möglich, Helene Hermes!«

Es war Robert, Helene hatte ihn sogleich erkannt.

Herr Kieselack, kaum jene Begrüßung vernehmend, ließ sich geschwind wieder aus der Droschke herausgleiten, indem er zugleich dem furchtsamen Herrn einen Tritt auf dessen krankhafte Fußzehen versetzte.

»Um Gotteswillen, Robert,« flüsterte Helene, heiß und fest die Hand des Geliebten in die ihrige pressend, »verlaß mich jetzt. Benutze diesen Zufall nicht! Suche nicht mein Geheimniß zu erspähen! ich darf es noch nicht enthüllen. Bei dem Angedenken unserer Liebe entferne Dich, und hoffe – stark und fest – so wie ich hoffe, auf eine nahe glückliche Zukunft.« –

»Ach Helene!« –

»Robert!«

Es lag so viel Innigkeit, so viel rührende Bitte in diesem einen Worte, daß er von jedem Versuch, [207] der Bitte entgegenzuhandeln, abstehen mußte. Die Droschke fuhr ab.

»Sie kannten diese Dame?« fragte Robert Herrn Kieselack.

»Ich glaubte sie zu kennen,« sagte dieser ausweichend. »In der Dunkelheit täuscht man sich.«

»Nein, nein! Sie kannten sie.«

Herr Kieselack froh, irgend Jemand mit seiner Allwissenheit dienen zu können, zugleich neugierig wie immer, und begierig seine Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen, sagte endlich mit großer Selbstzufriedenheit: »Nun denn, ja, ich kenne sie.«

»Und wissen auch, wo sie wohnt?«

»Und weiß auch, wo sie wohnt.« –

Robert schwebte die Frage: wo? schon auf der Lippe, allein er besann sich, so eben sein Wort stillschweigend verpfändet zu haben, diese Frage nicht zu thun. Schweigend und verstimmt ging er neben seinem Gefährten, der begierig neue Fragen erwartete, und erstaunt war, wie er keine mehr vernahm.


[208]


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