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7.
Die Wohnung des furchtsamen Herrn.


Nachdem wir dem Leser einen Blick auf die äußere Gestaltung des Lebens der großen Stadt gegeben, führen wir ihn wieder, um den Faden unserer Erzählung nicht zu verlieren, in den engen Kreis der Privatinteressen unserer mitspielenden Personen zurück, und zwar in das Haus des Handschuhfabrikanten.

Wir befinden uns noch nicht am zweiten April, wir befinden uns noch im März, obgleich schon am Ende desselben. Acht Tage sind vergangen, seitdem sich Herr Kieselack an dem Fenster des Arbeitsladens hat sehen lassen, und Helene ist schon um Vieles vertrauter mit ihren neuen Hausgenossen geworden. Sie hat sogar die Bekanntschaft des »furchtsamen« Herrn gemacht, der sie eingeladen hat, ihn und seine alte Haushälterin zu besuchen. An einem besonders [62] stillen Nachmittage – wie geräuschvoll war der März des vorigen Jahres! – stieg Helene die sauber gehaltene Treppe hinauf, und langte vor der Thür an, wo auf einer Messingplatte die Worte standen: » Karcher – Kupferstecher.« Sie zog an der Klingel, und Frau Gertrud – die freundliche Alte in dem reinlichen Anzuge – öffnete.

»Ach, liebes Fräulein!« rief sie, indem sie treuherzig Helenen's Hand ergriff, und sie drückte – »wie groß ist die Freude, die Sie uns machen, indem Sie Ihr Versprechen halten, und nun endlich kommen. Wie ich so leise klingeln hörte, so dachte ich schon – ach, das ist gewiß Jemand, der meinem Herrn in Liebe und Güte naht, und seine Schwächen kennt. Ein Fremder hätte stärker angezogen, und dadurch gezeigt, daß er nicht weiß, oder nicht wissen will, wie lästig meinem Herrn eine barsch angezogene Klingel in's Ohr tönt. Nun, Liebe, setzen Sie sich hierher, zu dieser Kupferstich-Mappe, ich gehe und sage Herrn Karcher, daß Sie da sind.«

Sie trippelte fort, und Helene blieb auf wenige Augenblicke allein. Sie sah die Räumlichkeit an, und Alles, worauf ihr Blick fiel, nöthigte ihr ein Wohlgefallen ab; es war, ohne daß sie sich dies sogleich klar zu machen wußte, der Geist der [63] Ordnung, des stillen und redlichen Fleißes, des Friedens, der hier aus jedem, auch noch so geringfügigen Umstande in der Zusammenstellung der Außendinge sich aussprach. Des Künstlers eigne Arbeiten, in zahllose kleine Rähmchen und Bildergruppen zerstreut, bedeckten die Wände. Es waren offenbar Jugendarbeiten; denn auf manchen dieser Blätter waren Bemerkungen mit Rothstift angeschrieben, die ein schon entfernt liegendes Jahr angaben. Ein Tischchen mit Mosaikarbeit auf einer Platte enthielt ein alterthümliches Caffeeservice, vielleicht das Geschenk eines Kunstfreundes, oder ein Andenken aus dem Elternhause. Tassen und Tisch waren so glatt und glänzend gereinigt, daß der Strahl der Nachmittagssonne, der sich eben durch die rothen Vorhänge Bahn brach, in Farben und Goldglanz erglühte. In der aufgeschlagenen Mappe traf Helene sogleich auf ein, ihr wohlbekanntes Bildniß. Sie betrachtete es noch, als ihr Wirth eintrat und sie begrüßte.

Der »furchtsame« Herr war ein Mann nahe den Funfzigen; aber durch ein fortgesetztes Stubenleben und durch anstrengende Arbeit so mitgenommen, daß er weit älter aussah. Er hatte nur weniges, graues Haar, und trug ein Käppchen, das ihn gar gut kleidete. Der grüne Sammet machte das blasse [64] Gesicht zwar noch blasser, aber zu den großen, lichtbraunen Augen, und der schönen, gewölbten Stirn, gab er doch einen anmuthigen Schein, gleichsam als läge ein beständiger, grüner Waldschatten auf diesen lieben Zügen. Auffallend, und zu diesem Gesichte eigentlich gar nicht gehörend, war ein starker, grau und schwarz gemischter Bart, der das Kinn und einen Theil des Mundes einhüllte. Aber in dieser Zeit der Bärte, hatte der furchtsame Herr nicht vermeiden können, auch sich diese heroische Zierde anzulegen, obgleich ihm nichts verhaßter war, als grade dieser Anwuchs zu seiner sonstigen Persönlichkeit, und er mit seinem eignen Barte in einem ewigen Hader und Krieg lebte. Es ging dieser Krieg so weit, daß er sogar seit Monaten nicht mehr in den Spiegel geblickt hatte, nur um seinem eignen Barte nicht zu begegnen, dessen Anblick ihm immer ein kleines Frösteln verursachte. »Aber sie schlagen mich todt, wenn ich keinen Bart habe,« pflegte er wehklagend zu Gertrud zu sagen; »das ist das Einzige, womit ich diesen Vandalen, diesen Baschkiren noch imponiren kann. –«

Herr Karcher fragte seinen jungen Gast freudig, weshalb sie jenes Bildniß so beschäftige. Und [65] Helene erwiederte ihm, daß es das Bild ihres Oheims, mütterlicher Seite, sei.

»Da wünsche ich Glück, mein liebes Fräulein!« rief der Kupferstecher freudig überrascht. »Sie haben da einen berühmten Mann, einen Gelehrten und Schriftsteller von ganz besonderem Rufe zu Ihrem nahen Verwandten.«

»Ich habe ihn jedoch nur wenig kennen zu lernen die Gelegenheit gehabt,« sagte das junge Mädchen schüchtern und traurig. »Er lebte mit meinem Vater in Unfrieden, so wie denn überhaupt in meinem armen Elternhause die Entzweiung und der Zwist gleichsam ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nie ist gewiß eine Familie in dieser Beziehung so unglücklich gewesen, als die meinige es war, und noch ist. Denn selbst über das Meer hinüber weiß die Verfolgung sich Bahn zu brechen.«

»O ja, gewiß! Sicherlich! Der Haß der Menschen hat die erste Brücke erfunden; nicht die Liebe. Davon bin ich überzeugt. Hab' ich erst einen Feind, dann bin ich sicher, daß ich nicht vergessen werde.«

»Mein Gott, welch' eine betrübende Erfahrung ist dies!«

»Für uns nicht,« sagte der Mann mit einem ganz besonders freundlichen und tröstenden Zug im [66] Gesichte. »Für uns nicht; denn wir haben keine Feinde. Sie sehen mir wenigstens nicht so aus, mein liebes Kind, als hätten Sie welche. Im Gegentheile, man sieht Ihnen an, daß Sie die Gabe haben, sich schnell Freunde zu erwerben, und so haben Sie sich denn auch mich erworben, obgleich ich Sie erst sehr kurze Zeit kenne, und unglaublich schwer dazu zu bringen bin, neue Bekanntschaften zu machen.«

Helene drückte ihm herzlich die Hand.

»Ihre Eltern müssen wackere Menschen sein,« hub er wieder an, indem er die Hand noch in der seinigen behielt; »sie müssen Sie offen, frei und nicht in der Furcht der Menschen erzogen haben, sonst könnten Sie nicht so sein, wie Sie sind.«

»Mein Vater ist ein edler Mann,« sagte Helene mit tiefer Rührung in der Stimme.

»Gott segne ihn!« sagte der alte Herr.

»Ja, Gott segne ihn!« wiederholte die Tochter innig.

Der Ton des herzlichen Vertrauens war einmal angeschlagen. Die offne und freie Mittheilung nahm ihren Gang. Helene theilte ihrem neuen Vertrauten die wenig erfreuliche Geschichte ihres Hauses mit.

»Das Erbe meines Großvaters, der angesehener Rathsherr in Cöln war, bestand in einem recht, [67] ansehnlichen Vermögen, das zwei Söhne unter sich theilten. Mein Vater gerieth schon damals mit seinem jüngern Bruder in Streit. Er war es, der edelmüthig nachgab, und das größere Besitztum Jenem überließ. Undank war sein Lohn. Mein Onkel, der sich hat adeln lassen, und ein großes Haus macht, hat sich nie um uns bekümmert. Mein Vater, an den schönen Ufern des Rheins aufgewachsen, befreundet mit den freien Institutionen jener glücklichen Provinzen, sah frühzeitig die feurigen Ideen von einer nahe bevorstehenden, glücklichen Aenderung und Umgestaltung des politischen Lebens der Völker ein. Er beteiligte sich bei einem Journal, das diese politische Färbung hatte. Man las seine Aufsätze damals mit Enthusiasmus, ohne daß man den Verfasser kannte; denn mein Vater, von dem Grundsatze ausgehend, daß die Sache wirken müsse, nicht der Name, hielt sich in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Später haben seine Feinde Mittel gefunden, den Edlen zu zwingen, aus diesem Dunkel hervorzutreten, um seine Brust ihren vergifteten Pfeilen bloß zu stellen. Um ihn zu tödten, nicht, um ihn mit Ehrenlaub zu kränzen, wie er es verdient hätte, lockten sie ihn hervor. Die Bewegungen des Frühlings des vorigen Jahres begannen. Einer der ersten Minister, die an das [68] Ruder berufen wurden, war ein Freund und Gesinnungsgenosse meines Vaters. Mein Vater hatte die Ehre und die Genugthuung, diesem Edlen vereint zu bleiben, und in seiner unmittelbaren Nähe zu wirken. Es gehörte Muth dazu, der fanatisirten Masse damals entgegenzutreten; das Ministerium Camphausen besaß diesen Muth. Die erste und wichtigste Aufgabe war, einem edlen Prinzen, dem eine bethörte Bevölkerung ungerecht eine Kränkung zugefügt, Genugthuung zu verschaffen, und in die brausende Hauptstadt warf der kühne Minister jenes Manifest, das die Zurückberufung des Prinzen beantragte. Mein Vater hatte auf das Thätigste dazu gerathen. Voll Pietät für das Königshaus sah er mit Schmerz die Kluft sich immer weiter spalten, die die unselige Verwirrung jener Tage geöffnet hatte. Es mußte dem gesteuert werden. Die brave That der wenigen, vereinzelten Männer trug ihre Früchte. Der Prinz erschien wieder in unsern Mauern, und mein Vater – versteckt und unerkannt; denn er haßte nichts so sehr, als öffentliche Demonstrationen – begrüßte ihn, als er am damaligen Versammlungshause der Volksvertreter, der Singakademie, aus dem Wagen stieg, mit einer Thräne des Willkommens und der Freude. Später gab sich mein Vater den grenzenlosesten [69] Hoffnungen für die Einigung Deutschlands hin. Die Particularinteressen seines preußischen Vaterlands entschwanden seinen Augen, er sah nur das »einige, große, freie Deutschland,« eine imposante Staatenverbrüderung, die geschaffen war, Europa einst Gesetze vorzuschreiben. Er hatte in seiner Jugend viel gereiset; er hatte Deutschland nach allen Richtungen hin kennen gelernt, über den Ursprung und das Wesen der einzelnen Stämme hatte er geforscht, und die Resultate aller seiner Forschungen waren in einem Punkt zusammengelaufen, nämlich in der Ueberzeugung: Deutschland könne nicht allein, sondern es müsse zur kräftigsten Einigung gelangen. Ich will nicht untersuchen, in wie fern er Recht hatte, er ist mein Vater, ich kenne ihn als einen edlen Mann, wie gerne will ich daher glauben, daß diese Gebilde der Zukunft, wie er sie sah, und wie er sie zu realisiren strebte, die wirklichen, schönen Verheißungen des Genius unsres gemeinsamen Vaterlands seien. Eine andere Ansicht machte sich jedoch geltend. Man nannte Schwärmerei, man nannte sogar Verbrechen, wofür mein Vater glühte. Er kam immer mehr, selbst mit seinen besten Freunden, in Conflict. Dies verbitterte sein Leben. Dazu erlitt er in seinem Geschäfte Verluste über Verluste. »Man sehe den [70] Politiker, man sehe den Demokraten!« riefen seine Feinde, »er versäumt in seinem eignen Hause die Ordnung zu halten, die er dem Staate aufdringen will.« Wie ungerecht war diese feige Anklage. Nie war wohl ein thätigerer Arbeiter zu finden, als grade er es war, und doppelt – es war in jener hart drängenden und bedrängten Zeit. Er schaffte unermüdlich, und selten erlosch vor zwei, drei Uhr Morgens die einsame Lampe in seinem Comptoir. O, ich saß oft auf meinem Lager mit Thränen, wenn sich der Lichtschein über den Gang hinüber, auf der Wand über meinem Bette malte, und ich bedachte, daß eine der trefflichsten Naturen, die Gott schuf, sich in vergeblichen Mühen und in einem grausamen Kampfe mit der Welt aufrieb. Ich litt unsäglich. Ich liebte meinen Vater grenzenlos. Endlich schlug die Entscheidungsstunde. Ich will nicht grade, und es kommt mir auch nicht zu, die Schritte der Regierung bezeichnen, die meinem Vater den letzten Strahl der Hoffnung raubten, und seinen Muth knickten. Die Folgezeit hat bewiesen, daß die Regierung großes, schweres Unheil glücklich verhütete. Ueber unser Haus war jedoch der Stab gebrochen. Mein Vater sah über sich und die Seinigen die Verfolgung hereinbrechen, und er trachtete, sich ihr rasch zu entziehen. [71] Als ich eines Morgens zu ihm trat, um, wie es gebräuchlich in unserm Hause war, ihm die Hand zum Morgengruße zu küssen, sah ich Thränen in seinem Auge, und er zeigte mir einen Brief, in welchem ihm angezeigt wurde, daß ein Platz für ihn und die Seinen bestellt sei, und zu welcher Zeit das Schiff abgehen werde. Ich sank in die Kniee und verhüllte mein, in zahllosen Thränen gebadetes Antlitz. Er ahnete, daß ich unter diesen Seinen, die mit ihm über's Meer schifften, nicht sein würde. Mich hielt ein heiliges Gelöbniß, und dieses, mein Wort, hatte ich erst wenige Tage vorher gegeben. Welch' eine Stunde war das! Wie standen sich Vater und Tochter gegenüber! Nie werde ich diese Augenblicke vergessen. Er war die Liebe, die Nachsicht, die Erbarmung selbst. Du weißt, sagte er gütig, aber sehr erregt, daß Deine Mutter, und mehr noch Deine Brüder, Deine Wahl verdammen. Du liebst einen Mann, der unserer Partei geradezu schroff entgegensteht: es ist ein Aristokrat und ein preußischer Patriot im exclusivesten Sinne. Meine Freunde und ich haben keine entschiedeneren Widersacher als grade diese Männer, die systematisch allen unsern Plänen entgegenarbeiten, weil sie nichts als Verrätherei, Treubruch, im gelindesten Sinne wenigstens eine unpatriotische Bekämpfung [72] der wahren Größe und der wahren Interessen des Vaterlands in unsrem Wirken sehen. Der Himmel weiß, wie sehr sie uns Unrecht thun, allein die Zeit ist nicht danach, daß sie ruhig sondert und unparteiisch richtet. Wir, die wir reinen Willens sind, müssen leiden unter der Nichtswürdigkeit unserer Bundesgenossen, des rohen Pöbelhaufens aller Stände, die unsere Tendenzen als Maske vornehmend, allerdings auf den Umsturz jeder Ordnung und jedes Gesetzes hinarbeiten. Aber können wir wenigen Männer des wahren Glaubens dies hindern? Die Eltern des jungen Mannes werden es nie zugeben, daß er Dich, die Demokratin, in ihr Haus einführe. Bedenke das wohl. Wenn Du Deine Eltern ziehen läßt, die natürlichen Stützen und Vertheidiger Deiner Unerfahrenheit und Schwäche, und Du wählst Dir einen Mann, der vielleicht nicht den Muth, wenn auch den Willen hat, unsre Stelle einzunehmen, was wird dann Dein Loos sein? –Vater, rief ich, frage nicht – ich liebe! Hier ist meine Stelle, und ich kann Dir nicht folgen. – So sei's! entgegnete er, so bleibe. Mein Herz besitzest Du, wo Du auch sein magst, und den Segen eines Vaters scheidet kein Meer von dem Haupte, auf dem er niederzusinken bestimmt ist. Ich knieete vor ihm, und [73] er legte seine Hand auf mich. Wir beteten zusammen zu dem Lenker und Ordner aller Schicksale der Sterblichen. Später entschied es sich, daß mein ältester Bruder ebenfalls zurückblieb. Doch er, der zu meinem Beschützer erlesen ward, ist mein erbittertster und hartnäckigster Verfolger. So groß und edel mein Vater dachte, so würdevoll er die Verhältnisse auffaßte, und immer geneigt, sich Unrecht, Andern Recht zu geben, so – ich muß es mit tiefem Schmerz sagen – kleinlich und persönlich giebt sich mein Bruder zu erkennen. Er wüthet gegen mich, und meine Neigung, und im wahren Sinne des Worts muß ich gegen ihn ›beschützt‹ werden. Und dies ist der Grund, weshalb ich für's Erste in diesem Hause eine Stätte mir gesucht habe, nicht in Gesellschaft der Verwandten meines Vaters, bei der zu wohnen, ich anfangs bestimmt war. Auch Robert weiß nicht, wo ich mich befinde, und er soll es für jetzt auch nicht erfahren. Nur, daß ich die Stadt nicht verlassen habe, weiß er.«

Das junge Mädchen hatte sich fast außer Athem gesprochen, so lebhaft wurde zuletzt ihre Rede, und sie wiederholte in großer Leidenschaftlichkeit, und gleichsam zu sich selbst sprechend: »Nur, daß ich die [74] Stadt nicht verlassen habe, weiß er! Das mußte er wissen! Ja – das weiß er auch.«

»Nur Ruhe! mein liebes, bestes Fräulein;« sagte der freundliche Mann, und legte sanft die äußersten Fingerspitzen auf ihren Arm. »Nur Ruhe!«

»Sie haben Recht,« sagte Helme erröthend. »Aber es ist so wohlthuend, und verführt so leicht zum Plaudern, wenn man Jemand findet, dem man vertraut.«

»Daß Sie mir vertrauen, liebe Seele, ist mir ein wahres Geschenk des Himmels. Mir, den Sie doch noch so wenig kennen. Lassen Sie uns denn hübsch beisammen wohnen, und herzlich mit einander es gut meinen. In einer Zeit, wo grausame Zwiste im Schooße der Familien ausbrechen, wo sich alle Freunde und Genossen trennen, da ist's denn wieder – gleichsam um dem Uebel seine Schärfe zu nehmen – unsrem Herzen leicht, sich aufzuschließen, und dadurch neue Freunde und Genossen zu finden. Wir, zum Beispiel, hätten uns nie gefunden, wenn diese großen Ereignisse nicht stattgefunden. Denn, was in der Welt hätte Sie, eine junge Dame – in das Zimmer eines Kupferstechers geführt?«

Helene dankte dem Manne, und versprach öfters hinaufzukommen.

 

[75] Wie sie unten dem Laden sich näherte, sah sie denselben jungen, blonden Mann, dessen Anblick ihr schon bereits einmal lästig geworden, in dem halbrunden Fenster hineinlehnen, und Herrn Piersig einige Fragen thun. Sie blieb unbemerkt stehen, und hörte Jenen die Worte ausstoßen:

»Aber sie muß doch zu irgend einem Zwecke hier sein? Warum war sie denn früher nicht hier? Ist sie eine Nähmamsell, und hilft sie Ihnen bei der miserablen Arbeit, die hier zu Tage gefördert wird?«

»Herr Kieselack, wenn Sie gütigst erlauben, ich kann auf keine dieser Fragen antworten.«

»Weshalb denn nicht? Ich habe Ihnen gesagt, daß ich von jetzt an alle Tage kommen werde, bis ich erfahre, wer das Mädchen ist.«

»Sie werden machen, daß sie gar nicht mehr in den Laden kommt.«

»Narrheit! Geben Sie ihr diesen Ducaten, und sagen Sie ihr, daß ich heute Nachmittag kommen werde, um sie nach Schöneberg abzuholen.«

»Ach, Herr Kieselack! Nicht daran zu denken! Sie fährt nicht mit. Ich sage Ihnen ja, es ist ein ganz vornehmes Mädchen.«

»Vornehmes Mädchen! Und wohnt bei Ihnen! Nun, wissen Sie was – geben sie ihr für's Erste [76] diesen Brief. Er war zwar für Jemand Anders bestimmt, allein er paßt auch für sie. Und den Ducaten behalten Sie für sich. Haben Sie verstanden, altes Lederungeheuer?«

»Vollkommen. Aber, Herr Kieselack, ich nehme keinen Brief und nehme auch kein Geld. Die junge Dame ist uns anvertraut, ganz besonders anvertraut – und ich – verstehen Sie, Herr Kieselack, bin ein alter Husar und hab' Ehre im Leibe.«

»Ei, Potztausend! Das hab' ich nicht gewußt. Bitte tausendmal um Entschuldigung.«

»Hat nichts zu sagen. Es soll mir lieb sein, wenn ich Ihnen anders dienen kann.«

»Alter Narr! –«

Damit verschwand der Blondkopf. Herr Piersig murmelte vor sich hin: »Ist mir doch der Bursche gestern begegnet mit einer brandfeuerrothen Kokarde, und kam aus einer Gesellschaft, in der wahre Teufelsbraten mit einander consultirten! Und nun will er mir hier in meine Wirtschaft hineinschnüffeln! Halt! Basta! Wird nichts gereicht! Der Ducaten wäre mir zwar sehr lieb gewesen, an und für sich und als simpler Ducaten, denn ich muß meinem alten Freunde sein saures Bier auch heute wieder [77] schuldig bleiben – aber solchergestalt und in dieser Weise – nein! – Kanter, mein Sohn, leg' einmal Dein Zeitungsblatt weg; ich versichere Dich, Fräulein Adelaide Pirlicke wird's nicht erfahren, daß Du Dich so angelegentlich um ihre Vermählung bemühst, und der Herr Kodsack wird sich nicht bewogen fühlen, aus diesem Grunde bei mir seine alten Handschuhe waschen zu lassen. – Teufel, was der Junge wieder für eine modrige Luft im Laden fabrizirt. Steh' auf, Kanter, stell Dich etwas in den Zug, ich werde die gegenüberstehende Thür aufmachen.– So, mein Söhnchen! Nun wende Dich nach allen Seiten. Jetzt kannst Du Dich wieder setzen. – He! was willst Du denn? Warum reißt Du das Maul auf? Ach, ich verstehe, da gehen ein Paar Demokraten, und Du willst, daß ich Dir die Mütze mit der deutschen Kokarde aufstülpe! Gut, mein Söhnchen! Die Mutter hat Dich trefflich instruirt. Wahrhaftig, die Herren kommen näher, und wollen etwas handeln. Du bist ein guter Lockvogel, Kanterchen! Aber nein, die Herren gehen vorbei, und – da kommt der Präsident aus dem Preußenverein. – Na, na, zapple nur nicht so, ich weiß schon, was zu thun ist – da ist die Mütze mit der schwarz-weißen Kokarde! Gut, und die andre unter den Tisch! [78] So – so! – Ach, der Präsident sieht Deinen großen Wasserkopf mit der ungeheuren Mütze mit Vergnügen. Er kommt heran.«

»Schönen guten Tag, Herr Präsident.«


[79]


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