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18.
Die Kaiserkrone.


Unterdessen hatten die Geschicke sich erfüllt. Der zweite April hatte die Deputation aus Frankfurt mit der Kaiserkrone gebracht, und zugleich die ablehnende Antwort des Königs. Eine Menge Hoffnungen waren zerstört, eine Menge Aussichten und Pläne vereitelt, aber ein nicht geringer Theil der Bevölkerung der Hauptstadt frohlockte. Wer eines folgerechten Urtheils und einer politischen Ueberzeugung fähig war, und dabei ein warmes Herz für die Größe und den Ruhm des Vaterlandes im Busen trug, konnte nicht anders, als dem König Recht geben. Die fanatischen Patrioten gingen freilich noch weiter, sie wollten, daß mit Indignation ein verrätherisches Geschenk, das der Geber selbst nicht einmal besaß, und das als Lockspeise angeboten wurde, um einen mächtigen, hochherzigen Staat, einen stolzen, selbständigen Monarchen in die [226] Hände von ehrgeizigen Unterhändlern und frechen Empörern zu liefern, fortgestoßen werde. Diesen extremen Patrioten gegenüber setzten sich eben so extrem die »Einheitssüchtler« fest, die mit grenzenlosem Wehklagen und Geschrei jetzt ganz Deutschland verloren gaben, indem es an dem Egoismus und den Sonderinteressen Preußens scheitere. Diese Einheitssüchtler wütheten förmlich gegen jene extremen Patrioten, und eine Partei schraubte die andere immer mehr auf eine unnatürliche Höhe. Der König und das Ministerium hielten die Mitte. Man konnte bemerken, daß eine große Wärme für die angestrebte Einigung Deutschlands, gerade von den engeren Kreisen des Hofes ausging, daß gewisse Ideen, die in der zweiten Kammer einen wahren Sturm der Begeisterung erregten, von dem edlen und großdenkenden Herzen einer Frau getheilt wurden, die von ihrer erhabenen Stellung aus mit feiner Hand und scharfblickendem Auge, die Fäden so manches Gewebes in der Hand hielt. Dieser »schöne« Enthusiasmus war jedoch – so wie die Sachen standen – der gefährlichste Feind. Nicht die plumpe Lüge, wie sie eine eidbrüchige Genossenschaft aussann, nicht der dreiste Angriff aus verrätherischem Lager her, nicht die Schlüsse und Folgerungen einer Politik, die geschickt genug operirte – alles dieses nicht, [227] wohl aber der milde, schöne Freiheitsgedanke, der warme Pulsschlag eines Herzens, das Beglückung und Frieden für Alle aussann, konnte bethören und vom Wege ablenken. Trotz also der Wärme, die von einer Partei des Hofes ausging, fand jede annähernde oder vermittelnde Stimme zwischen Frankfurt und Berlin in der Weisheit und Festigkeit des Ministeriums ihre entschiedene Abweisung. Der König war unerschütterlich fest. Der Weg, der einmal eingeschlagen war, sollte nun und nimmermehr verlassen werden. Die Gutgesinnten waren im Hinblick auf die Festigkeit unbeschreiblich glücklich. Man rief sich zu: Nun endlich einmal ein Bruch, ein entschiedener Bruch mit unseren offenen wie mit unsern heimlichen Feinden! – Preußen schien gesichert, schien gerettet! – Man erwartete allerdings, wie die Folgezeit sie denn auch gezeigt, Unruhen und Aufstände in den Provinzen, allein man konnte mit dieser »siegesfesten« und »willenstarken« Minorität, wie sie sich um die treuen und rechtlichen Männer bereits geschaart hatte und täglich mehr schaarte, getrost jedem fernern Schwanken des Staatsschiffs entgegensehen. Wir erinnern an die Worte in dem Gespräch am Eingang dieser Erzählung: Wollte Deutschland nicht– nun wohl; Preußen hatte das Seinige gethan!

[228] Jetzt, da man den Muth gehabt hatte, jeden täuschenden Mantel hinwegzugehen, zeigten sich auch überall die Erscheinungen in ihrer Nacktheit. Nicht um die Einigung der deutschen Stämme, um den Heerd der Ordnung und des Gesetzes war es der Partei, die sich das große und laute Wort überall angemaßt hatte, zu thun, sondern, wie die nun bald darauf ausbrechenden Aufstände in Dresden, in Baden und in der Pfalz bewiesen, lediglich um den Umsturz jeder Ordnung und der Vernichtung jeder Gesetzlichkeit. Die Versammlung in Frankfurt stiebte auseinander, indem ein Theil jetzt offenkundig mit der rothen Fahne nach Baden entfloh, der andere Theil sich zu erneuten revolutionären Beratungen gegenüber den verhaßten Regierungen zusammenfand. Seit dem zweiten April war es Sitte geworden »überall offene Sprache zu führen.« Welch ein grenzenloser Gewinn für die gute Sache! Welch ein Fortschritt zum Besseren! welch ein Sieg über die Mächte des Trugs! Die Revolution mußte Rechnung ablegen; und sie that's. Die Völker sahen, wer ihre Führer waren, und wer ihre Führer für's Künftige sein sollten. Sie wiesen sie entschieden zurück. Die physische Gewalt vollendete nur, was die viel stärkere, viel mächtigere moralische Gewalt bereits begonnen [229] hatte. Mit diesem Geschlecht der Lüge, der Feigheit, der Treulosigkeit war kein Bund zu schließen. Das gemißbrauchte Volk nahm stolz und heftig die Mandate zurück, die es offenkundigen Betrügern gegeben. Die Zeit der Verblendung war vorüber. – Jetzt war es an den Fürsten, die Früchte ihres Sieges mit Mäßigung zu genießen; und nie ist wohl ein Fürst bescheidener im Siege gewesen, als Preußens König. Im Bewußtsein an der Spitze eines Volkes zu stehen, das stets einen Weg mit ihm zu gehen bereit war, weil es Vertrauen und Liebe zum angestammten Fürstenhause in seiner Brust bewahrte, im Bewußtsein, daß dieses treue und ihn liebende Volk auf einer Stufe sittlicher und politischer Bildung stehe, die es ihm unmöglich machten, auf lange dem Irrthum und der falschen Meinung das Ohr zu leihen, mit diesem Bewußtsein konnte Preußens König auch bescheiden im Siege sein; denn er konnte sich's sagen, nicht ich allein, mein Volk hat so entschieden und so gewählt! Diese »Treuen,« die Gott mir gegeben, und denen Gott mich gegeben – sie haben gewollt, was ich nur ausgesprochen. Wenn ein Fürst mit seinem Volke einig ist, und Beide die göttliche Ordnung auf Erden herstellen wollen, wie kann dann von einem Uebermuth im Siege die Rede sein? Und [230] Preußen, zu einer großen Rolle in dem Staaten-Drama der Neuzeit berufen, hat durch die Ereignisse des Jahres 1849 gezeigt, wie fest und stark, aber auch wie bescheiden und demüthig es ist. – Welche Vortheile würde ein Usurpator aus einer Stellung ziehen, wie die ist, in die wir Preußen jetzt eintreten sehen? Wie würde ein stolzer und rücksichtloser Autokrat das moralische und physische Uebergewicht auszubeuten wissen, das jetzt dem Namen »Preußen« anzuhaften beginnt! – – Für den Bereich dieser Erzählung mögen diese Andeutungen ausreichend sein; wir kehren zum Gange der Begebenheiten zurück.

 

Im Laden des Fabrikanten hatte sich der Nachbar eingefunden und nahm mit Frau Piersig den Platz auf dem Sopha ein, Helme befand sich, mit ihrer Arbeit beschäftigt, in der Nähe des Fensters, der Kanter thronte wie immer auf dem Ladentische und hatte wiederum sein Studium dem einen bewußten Zeitungsblatte zugewendet, das für ihn eine unergründliche Quelle des Forschens geworden war. Die Familie wartete auf Herrn Piersig, der gegangen war, sich den »Krönungszug«, wie er ihn nannte, anzusehen. Frau Piersig hätte bei dieser Gelegenheit gewiß nicht verfehlt, ebenfalls ihre Person dem Gewühl auf der Straße auszusetzen, allein sie hatte noch etwas Fieber. [231] Jene Nacht war ihr, wie sie sich ausdrückte, in die Glieder gefahren, und Herr Piersig hatte zum erstenmale während seiner Ehe erlebt, daß seine Frau ihm mit sehr sanfter Stimme sagte, daß sie einsähe, welch einen edlen Mann sie an ihm habe, wie sie sich den Vorwurf machen müßte, ihn öfters verkannt und dann schlecht behandelt zu haben, wie sie aber dies jetzt – da sie sich ihrem Ende nahe fühlte – herzlich bereue. Diese »weiche« Stimmung hatte Herrn Piersig vermocht zu gestehen, daß er sich vom Teufel wolle holen lassen, wenn er nicht ernstlich glaube, daß in ganz Berlin und in seinem zweimeiligen Umkreise kein glücklicherer Gatte und Vater zu finden sei als er, daß, wenn der Genius, den Frau Piersig im Traum zu sehen pflegte, auch niemals in der Wirklichkeit aus der Kanonierstraße kommend, in die Friedrichsstraße einbiegen würde, um die neue große Handschuhfabrik mitzubringen, Herr Piersig dennoch ein reicher Mann sein und bleiben werde, im Besitz einer solchen Gattin und eines solchen Kindes. Diese letzte Behauptung war mit einem so grenzenlosen Stolze vorgetragen, daß die arme Frau Thränen vergoß und nach der Medizinflasche verlangte, obgleich es nicht die Zeit war zum Einnehmen, lediglich nur um von der Hand ihres Mannes den gefüllten [232] Theelöffel zu empfangen. Aber wie Frau Piersig besser wurde, wurde ihr Herz auch wieder verstockt. Sie nahm wieder das herrschsüchtige Wesen an und war wieder die »Stütze und die Säule des Haushalts,« und Herr Piersig war wieder der Mann, der es »ewig zu nichts brachte.«

Die Menge, die am Fenster vorbeistreifte, zeigte an, daß das Schauspiel beendet war, und daß die Zuschauer sich verliefen. Nunmehr erschien auch der Fabrikant.

»Wie war's?« fragte Frau Piersig ihren Mann, »hast Du einen guten Platz gehabt?«

»Wie im Opernhause!« tönte die Antwort. »Ich stand unter den Linden, an der Kranzler'schen Ecke, und vor mir vorbei, um die Ecke biegend, mußten alle die Wagen mit der Deputation.«

»In Staatskarossen?« fragte der Nachbar.

»Ja, hab' sich Einer mit Staatskarossen! In ganz ordinären Droschken kam's daher geplümpert. Ich habe einen so faulen Aufzug noch nie gesehen. Wir machten Alle lange Hälse und dachten, nun endlich einmal wird's kommen, aber es kam immer eine Droschke nach der andern. In jeder Droschke saßen immer zwei Stück Deputaten und dann draufgegeben ein Stadtverordneter mit weißer Halsbinde, und [233] ein hechtgrauer Magistratslaufbursche hinten auf. Und richtig gezählt, ungefähr ein viertelhundert Droschken, und jede mit ihrer Zugabe von weißer Halsbinde, hechtgrauem Laufburschen und rückwärtssitzenden Stadtverordneten. Plötzlich mitten im Zuge kam – perdautz! – ein Leichenwagen, und wollte partout im Zuge bleiben, obgleich er keine weiße Halsbinde, keinen Hechtgrauen und keinen Rückwärtssitzer aufzuweisen hatte; aber man bedeutete ihn, und Freund Mors seine propre Equipage fuhr abwärts. Aber wir, die wir beisammen standen, lachten Alle, und Einer rief: die Deputation hat christlich gleich an ihr seliges Ende gedacht. –«

»Und die Krone?« fragte Frau Piersig. »War die nirgends sichtbar? Trug keiner der Herren sie auf einem rothsammtnen Kissen vor sich?«

»Keine Spur von Krone zu sehen,« entgegnete der Gefragte. »Ich glaub's, sie hatten sie im Gasthof einstweilen zurückgelassen. Aber wollt Ihr's glauben, und Sie, mein liebes Fräulein, wollen Sie es mir wohl glauben, die Deputation hatte nicht einmal überall weiße Glacéhandschuhe! Nein, da hört doch Alles auf. So unanständig ist noch keine Deputation in der Welt aufgetreten. Aber man sagt, es sei aus Malice geschehen. Die Herren hätten gestickte [234] Atlas-Fracks, weiße seidene Kniehosen und Schuhe und Strümpfe mitgenommen, aber wie sie auf dem Bahnhofe gesehen haben, daß keine Staatskarossen bereit standen, sie auf das Schloß zu bringen, so sind sie im Verdruß in ihre allerschlechtesten Beinkleider gesprungen, oder vielmehr gleich darin geblieben.«

»Ich hätte wenigstens erwartet, daß man ihnen einen Läufer würde vorlaufen lassen,« bemerkte der Nachbar; »denn so war es, als der hochselige König damals in Breslau einfuhr, und auch eine Deputation ihm entgegenrückte.«

»Andere Zeiten, andere Sitten!« rief der Fabrikant. »Ich freue mich nur, daß ich nicht meine Waterloo-Weste angelegt habe, denn im Gedränge hätte doch Niemand es gesehen. Aber, denkt Euch, wen hab' ich in dem Menschenstrom bemerkt? Wen? – Unsern Hausgenossen, Herrn Karcher, der nun schon acht Tage nicht nach Hause gekommen ist.«

Helene that einen freudigen Schrei, und der Kanter legte sein Blatt weg, und drehte den unförmlichen Kopf langsam und horchend den Sprechenden zu.

»Ja, Herr Karcher, wie er leibte und lebte! Er hatte sich einen Platz ausgesucht hinter einem Prellstein, wo ihm Niemand nahekommen und ihn drücken [235] oder stoßen konnte. Dabei hielt er vorsichtig beide Taschen fest, und hatte seinen kleinen schwarzen Filz tief in die Augen gedrückt. Aber ich erkannte ihn doch, und ging auf ihn zu, drückte ihm die Hand, die er mir anfangs gar nicht geben wollte, und fragte ihn, wann er denn wieder zu uns kommen wolle.«

»Hab' ich jemals ein Geschöpf gesehen, das mir wahre Verachtung einflößte, so ist's dieser sogenannte Mann,« rief Frau Piersig, indem sie unwillig in der Sophaecke hin und herrückte. »So etwas Furchtsamkeit hat Gott nicht zum zweiten Male schaffen können. Es mir so übel zu nehmen, daß ich die Paar rostigen Flintenläufe unter sein Bett verstecke! Lächerlich! Und lange Zeit zu thun, als sei er gar nicht in der Stadt! Mir wildfremde Briefe zu schreiben, voran mit ›Ew. Wohlgeboren‹ und hinten mit ›gehorsamster N. N., abzugeben im Tabaksladen!‹ Hat man jemals so etwas erlebt! So daß ich gar nicht wußte, welche neue Bekanntschaft ich gemacht, und am Ende ist's die alte Pulle, und schreibt wie ein fremder Prinz. Ich setze auch meinen Fuß nicht wieder hinauf, wenn er wieder einzieht. Er bekommt nicht mehr meine kleinen Finger zu sehen. Ei, ich werde mich hüten! Und zu Weihnachten schicke ich ihm einen Hasen, mit einem Rosaband um den Hals, [236] auf dem die Worte stehen sollen: ›dem tapfersten Manne in Berlin.‹ Ich denke, das wird er verstehen.«

»Es ist wenigstens sehr deutlich!« rief der Nachbar laut lachend.

»Und ich muß Sie bitten, daß Sie seiner schonen, liebe Frau Piersig,« bat Helene. »Was kann der Mann dafür, daß es ihm nicht gegeben ist, in unserer unruhigen Zeit vergnügt und ruhig zu leben? Er ist wenigstens ehrlich und gesteht ein, daß er sich fürchtet, während wir noch kürzlich erlebt haben, daß eine ganze Stadt mit Muth prahlt und ihn doch nicht besitzt.«

Herr Piersig murmelte vor sich hin: »Passiver Widerstand!«

Diese politische Anzüglichkeit ging spurlos vorüber. Frau Piersig war mit dem Cocardenwechsel auf der Mütze ihres Lieblings beschäftigt, und der Nachbar nahm eine kleine Stärkung zu sich.

»Und wen habe ich noch gesehen!« fuhr der Fabrikant lebhaft auf. »Unsere beiden Damen, die beide zugleich unsere Kunden sind, ohne daß Eine von der Andern weiß. Sie standen auf dem Vorsprung an dem Kranzler'schen Laden. O, das war ein Götterschauspiel! Der Himmel weiß, wie sie gerade da auf einen Fleck zusammen gepreßt worden; allein es war [237] einmal geschehen, rühren konnten sie sich in dem harten Menschenknäul nun nicht mehr, und mußten wie die besten Freundinnen, als wenn sie ›ein Herz und eine Seele‹ seien, neben einander aushalten. Aber die giftigen Blicke hättet Ihr sehen sollen, die sie sich einander zuwarfen. Der kleine gelbe Hut, und der kleine grüne Hut. Ich glaube, wenn etwas an den rothen Vorhängen im Conditorladen verbrannt ist, so hat's das Schwefelfeuer dieser zugekniffenen grünen Augen gethan. Die Deutsche grüßte die Deputirten und schwenkte mit dem Taschentuch Vivats zu, die Preußische sah ihnen höhnend nach. Jede hatte einen Kreis von Freundinnen um sich her, und Alles zischelte und lachte, bewunderte und lobte. Die Umstehenden wurden ordentlich aufmerksam auf dieses Comité toller Weibsstücke. Nachher floh die Preußische in den Laden hinein, und that sich nach all dem Aerger eine Güte in Sahnetörtchen und Eisbaisers. Die Deutsche aber ging nicht hinein, schon deshalb nicht, weil das royalistische Schild mit dem Wappen, das im vorigen Sommer abgenommen war, jetzt wieder darüber prangte. Ich aber dachte: oh ihr Katzen, kauft nur miteinander einen alten Strohhut und placirt gefälligst eure beiden alten Häupter unter demselben!«

[238] »Und welche Antwort gab Ihnen Herr Karcher?« fragte Helene.

»Daß er wieder zu uns kommen werde,« antwortete der Fabrikant, »wenn ich ihm mein Ehrenwort darauf geben wolle, daß nie, weder ich, noch meine Frau, noch unsere Magd, noch das Kind – Sie, mein Fräulein, bei Ihnen, sagte er ausdrücklich, gelte eine Ausnahme – den Fuß hinauf in seine Räume setzen werde. Das hab ich versprochen.« –

»Und das konntest Du versprechen,« setzte Frau Piersig hinzu. »Denn mich, wie gesagt, sieht er nie wieder; ich will ihm sogar den alten Kupferstich zurückschicken, den er einst hiergelassen und der den König David vor der Bundeslade tanzend darstellt.«

Helene war beruhigt.

Jetzt erschien ein Mann an dem halbrunden Fenster und klopfte an. Es wurde geöffnet und eine rauhe Stimme rief: »Fräulein Hermes soll unverzüglich hinauskommen zu der alten Wittwe; sie sei krank, und der Arzt habe sie schon aufgegeben!« – Ohne eine Antwort zu erwarten glitt die Gestalt rasch wieder vom Fenster ab, und verlor sich. Statt dessen zeigte sich der blonde Lockenkopf Herrn Kieselack's, und warf einen forschenden Blick in das Innere des [239] Ladens. So wie er Helenen bemerkte, zog er sich wieder zurück.

Herr Piersig schüttelte verdrießlich das Haupt, und machte eine Bewegung mit der Hand, als riefe er: »Schon wieder da! Nun, geh Deiner Wege, ewiger Pflastertreter und Auskundschafter!« –

Als Helene in ihr Zimmer ging, hörte sie den leisen Tritt Herrn Karcher's, der eben zum erstenmale wieder die wohlbekannte Treppe hinanstieg. Sie ging ihm nach und das liebe, freundliche Gesicht des schönen Mädchens war der erste Bewillkommungsgruß, der dem furchtsamen Herrn als eine gute Vorbedeutung wurde.

Sie mußte auf seine dringenden Bitten sich entschließen ein wenig bei ihm einzutreten, und hier half sie ihm nun einige seiner Mappen und umherliegenden Bücher zu ordnen. »O, mein theures, liebes Kind,« sagte der einsam lebende Mann, »wenn ich Ihnen genugsam deutlich machen könnte, wie unglücklich ich mich fühle! Wie diese Zeit mich gleichsam bei langsamem Feuer verbrennt. Es stirbt täglich und stündlich irgend ein schönes und beseligendes Gefühl in mir ab; ich fühle es, wie ich in Trümmer falle. Eines Morgens wird von dem kleinen aber hübsch gebauten Hause nur noch der Rauchfang und [240] die vier nackten Wände dastehen. Sehen Sie, mein Engelchen, in den Zeiten, wo wir noch Ruhe in der Stadt hatten, wo noch nicht dieses Geschlecht lebte, das mit Ameisengeschwindigkeit durch die Straßen krabbelt, wo die Woche noch aus sechs friedlichen Arbeitstagen und einem halben mit Glockengeläut und Thiergartenspaziergängern gefüllten Sonntag bestand, da war ich froh, wie eine Blume im Sonnenschein. Ich saß hier in meinem Stübchen und fertigte eine hübsche Platte nach der andern. Die Kunsthändler kamen und gaben mir Bestellungen. Ich führte einen klaren, reinlichen Grabstichel. Wenn ich so arbeitete und selig in der Stille dieser hohen, freundlichen Stube, die das gehörige Licht, nicht zu viel und nicht zu wenig hat, einen Strich sauber neben den andern setzte, und dann mit dem Aetzwasser daran ging, und endlich der vollendete Abdruck unter meinen Händen hervorkam, und Freunde am Abend sich einfanden, und das Werk betrachteten und lobten – o, mein Engelchen! das waren Zeiten! da lebte sich's noch mit Vergnügen. Aber jetzt! Welch ein Gräuel voriges Jahr! Ich mußte auf die Wache ziehen. Dort Saufgelage und Tumult! Nachts zitterte ich auf dem Posten: immer hieß es, der Prinz sei vor den Thoren mit einer Armee von siebzig Millionen, und [241] er werde uns Alle kurz und klein machen. Ach, gutes Kind – wo da Muth behalten? Und dann die schwere Flinte, die meiner Hand einen gewissen Druck nach unten beibrachte, so daß ich später niemals mehr so sauber und lieblich habe den Stichel führen können. Und jetzt – diese Höllennächte – wo ich immer mit einer Hand unterm Bett bin, um zu spüren, ob sie nicht, während ich schlafe, ein Fäßchen mit Pulver mir hineinschieben. Ich sage Ihnen, Kind, mit mir ist's vorbei. Vorbei – vorbei!«

Der furchtsame Herr setzte sich in seinen Lehnsessel, stützte sein Haupt in die Hand und richtete einen matten, melancholischen Blick auf seine Umgebung.

Bei dieser Stimmung, in welcher er sich befand, hatte Helene nicht den Muth ihn nochmals aufzufordern, sie zu ihrer alten Verwandten zu begleiten. Nach einigen tröstenden Worten verließ sie ihn, um sich nunmehr allein auf den Weg zu machen. Sie wollte das Eintreten der Dunkelheit vermeiden, und wählte daher die frühe Nachmittagsstunde.


[242]


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