Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XXVI

Auf der vorletzten Station, als der Schaffner hereinkam, um die Fahrkarten abzunehmen, suchte ich meine Sachen zusammen und trat auf die Plattform hinaus. Das Bewußtsein der bevorstehenden Entscheidung hatte meine Aufregung immer mehr gesteigert. Ich fror, und meine Kiefer bebten so heftig, daß die Zähne aneinanderschlugen. Mechanisch verließ ich mit der Menge das Stationsgebäude, nahm eine Droschke, stieg ein und fuhr heim. Unterwegs beobachtete ich die wenigen Fußgänger und die Hausknechte, die Schatten, die die Straßenlaternen und die Laternen meiner Droschke bald vorn, bald hinten warfen, und dachte an nichts weiter. Als ich eine halbe Werst gefahren war, wurde mir kalt in den Füßen, und es fiel mir ein, daß ich meine Wollstrümpfe im Zuge ausgezogen und in die Reisetasche gelegt hatte. Wo war die Tasche? Hatte ich sie bei mir? Ja, da ist sie; aber wo ist der Korb? Ich sah, daß ich mein Gepäck ganz und gar vergessen hatte; ich holte den Gepäckschein hervor, überlegte einen Augenblick, und nachdem ich zu dem Entschluß gekommen, daß es sich nicht verlohne, deshalb zurückzufahren, fuhr ich weiter. So sehr ich mir jetzt auch Mühe gebe, mir meinen damaligen Zustand, was ich dachte, was ich wollte, ins Gedächtnis zu rufen – es will mir nicht gelingen. Ich erinnere mich nur, daß ich das Bewußtsein hatte, irgendeinem furchtbaren, ungemein wichtigen Ereignisse meines Lebens gegenüberzustehen. Ob dieses Ereignis eintrat, weil ich so und so dachte, oder das und das wollte, weiß ich nicht. Vielleicht ist nach dem, was nun geschah, auf all die vorhergehenden Minuten in meiner Erinnerung ein trübender Schatten gefallen.

Ich fuhr an meinem Hause vor. Es war in der ersten Stunde nach Mitternacht, es schlug eben ein Uhr. Ein paar Droschken hielten vor dem Hause; sie sahen an der Hausfront erleuchtete Fenster – es waren die Fenster des Saales und des Empfangszimmers unserer Wohnung und sie rechneten auf Fahrgäste. Ohne mir lange Rechenschaft davon abzulegen, warum unsere Fenster noch so spät erleuchtet sind, stieg ich in dem gleichen Zustande der Erwartung irgendeines schrecklichen Ereignisses die Treppe hinan und klingelte.

Der Diener, der gutmütige, fleißige und sehr beschränkte Jegor, öffnete. Das erste, was mir im Vorzimmer in die Augen fiel, war – sein Mantel, der neben anderen Garderobenstücken am Riegel hing. Ich hätte mich eigentlich wundern sollen, wunderte mich jedoch nicht, da ich es ja erwartet hatte. ›Es stimmt also‹, sagte ich mir im stillen, nachdem ich Jegor gefragt hatte, wer da sei und er mir Truchatschewskij genannt hatte. Ich fragte, ob noch sonst jemand da sei. Er antwortete: ›Nein, niemand.‹ Ich erinnere mich, daß er mir in einem Tone antwortete, als wollte er mir eine Freude machen und meine Zweifel zerstreuen, daß vielleicht doch noch jemand da sein könnte. ›So, so‹, sprach ich gleichsam zu mir selbst. ›Und die Kinder?‹ – ›Sind, Gott sei Dank, gesund. Sie schlafen schon lange.‹

Ich konnte weder Atem schöpfen noch die bebenden Kiefer zum Stillstand bringen. Es war also nicht so, wie ich es gedacht hatte: daß ich erst ein Unglück befürchten, es sich aber dann herausstellen würde, daß alles in Ordnung, alles beim alten sei. Nun war aber doch nicht alles beim alten, und alles das, was ich in meiner Phantasie gesehen und für bloße Einbildung gehalten – alles das war Wirklichkeit, leibhaftige Wirklichkeit.

Ich wollte schon in Schluchzen ausbrechen, aber der Teufel flüsterte mir flugs ins Ohr: ›Immer flenne du und gib dich deiner weinerlichen Stimmung hin und sie werden inzwischen in aller Ruhe auseinandergehen, du wirst keine Beweise in der Hand haben und wirst dein Leben lang zweifeln und Qualen leiden.‹ Und sogleich entschwand jede Spur von weichem Mitleid mit mir selbst, und an seine Stelle trat – Sie werden es nicht glauben – ein seltsames Gefühl, nämlich die Freude, daß meine Qual nun ein Ende finden, daß ich sie nun strafen, mich von ihr befreien und meiner Wut freien Lauf lassen würde. Und ich ließ meiner Wut freien Lauf und wurde zum reißenden Tier. ›Nicht doch, nicht doch‹, sagte ich zu Jegor, der ins Gastzimmer gehen wollte –, ›kümmre dich um nichts weiter, sondern nimm rasch eine Droschke, und hier hast du meinen Gepäckschein, hol' rasch meine Sachen von der Bahn ab. Beeil' dich!‹ Er ging durch den Korridor, um seinen Paletot zu holen. Ich fürchtete, daß er sie aufscheuchen könnte, begleitete ihn nach seiner Kammer und wartete, bis er sich angezogen hatte. Vom Gastzimmer her vernahm man durch einen Zwischenraum ihr Gespräch und das Klirren von Messern und Tellern. Sie aßen und hatten mein Klingeln überhört. ›Daß sie nur jetzt nicht herauskommen!‹ dachte ich. Jegor hatte seinen Paletot angezogen und ging hinaus. Ich ließ ihn hinaus und schloß die Tür hinter ihm; ein unheimliches Gefühl überkam mich, als ich mich allein wußte und mir sagte, daß ich nun sogleich handeln müsse. Wie? – wußte ich noch nicht. Ich wußte nur, daß nun alles zu Ende sei, daß es einen Zweifel an ihrer Schuld nicht geben könne, und daß ich sie nun sogleich bestrafen und meinen Beziehungen zu ihr ein Ende machen würde. Bisher hatte ich immer noch geschwankt und hatte mir gesagt: ›Vielleicht ist alles nicht wahr, vielleicht ist alles doch nur Täuschung.‹ Jetzt war jede Möglichkeit dieser Art ausgeschlossen. Alles war für immer entschieden. Da saß sie nun mit ihm mitten in der Nacht, während sie mich abwesend glaubte. Das hieß wirklich schon alle Scham vergessen! Oder noch schlimmer: vielleicht sollte diese offene Frechheit, diese Kühnheit des Verbrechens gar als Beweis ihrer Unschuld gelten. Jedenfalls war alles klar und jeder Zweifel ausgeschlossen. Ich fürchtete jetzt nur, daß sie sich trennen, daß sie einen neuen Betrug ersinnen und mich um den augenscheinlichen Beweis und die Möglichkeit der Überführung bringen könnten.

Um sie möglichst sicher zu ertappen, schlich ich mich auf den Zehenspitzen näher zum Speisesaal, in dem sie saßen, nicht durch das Empfangszimmer, sondern durch den Korridor und die Kinderzimmer. Im ersten Kinderzimmer schliefen die Knaben. Als ich ins zweite Zimmer trat, bewegte sich die Kinderfrau, als wollte sie erwachen. Ich stellte mir vor, was sie denken würde, wenn sie alles erführe, und ein solches Mitleid mit mir selbst ergriff mich bei diesem Gedanken, daß mir die Tränen in die Augen traten. Um die Kinder nicht zu wecken, schlich ich auf den Fußspitzen wieder in den Korridor zurück und begab mich in mein Kabinett, wo ich mich auf den Diwan warf und zu schluchzen begann.

Ich, ein ehrenhafter Mensch, der Sohn meiner Eltern, der ich mein Leben lang von einem reinen Familienleben geträumt hatte, ich, ein Mann, der seiner Frau nie untreu geworden war, stand vor diesem furchtbaren Bilde! Hier schliefen unsere fünf Kinder, und dort umarmte sie einen Musikanten, nur weil er rote Lippen hatte. Nein, das war kein Mensch, das war eine Hündin, eine räudige Hündin . . . Neben dem Zimmer der Kinder, denen sie ihr Leben lang Liebe vorgeheuchelt hatte! Und mir einen solchen Brief zu schreiben! Und sich dann dem ersten besten so frech an den Hals zu werfen! Ach, was weiß ich überhaupt! Vielleicht ist es immer so gewesen. Vielleicht stammen alle diese Kinder, die als die meinigen gelten, von meinen Lakaien. Und morgen wäre ich heimgekehrt und sie wäre mir entgegengekommen mit ihrer Frisur, ihrer Taille, ihren lässigen, graziösen Bewegungen – die ganze reizvolle, verhaßte Gestalt sah ich vor mir aufsteigen – und dieses reißende Tier der Eifersucht würde sich für immer in meinem Herzen eingenistet und meine Seele zermürbt haben. Die Kinderfrau . . . und Jegor . . . was werden die denken? Und die arme Lisotschka? Sie hatte schon einiges Verständnis für die Dinge ringsum. Und diese Frechheit! Diese Lüge! Diese tierische Sinnlichkeit, die mir so wohl bekannt ist, sagte ich mir.

Ich wollte mich erheben, vermochte es jedoch nicht. Mein Herz schlug so heftig, daß ich mich nicht auf den Beinen halten konnte. Ja, ein Schlaganfall wird mich töten. Sie ist mein Tod. Das würde ihr so recht sein! Doch nein, das hieße doch, es ihr zu bequem machen. Dieses Vergnügen will ich ihr nicht bereiten . . . Hier sitze ich nun – und sie schmausen und lachen dort, und? . . . Warum habe ich sie damals nicht erwürgt, sagte ich mir, als ich sie vor acht Tagen aus meinem Kabinett warf und ihr die Sachen nachschleuderte? Ich vergegenwärtigte mir lebhaft den Zustand, in dem ich mich damals befunden; und nicht nur das – ich fühlte auch dasselbe Bedürfnis, zuzuschlagen und zu zerstören, das ich damals empfunden hatte. Ich erinnere mich, wie ich auf einmal den Drang verspürte zu handeln, wie alle Vorstellungen außer jenen, die diesem Drange dienten, in meinem Hirn zurückwichen und ich in den Zustand eines reißenden Tieres verfiel oder eines Menschen, der unter dem Einflusse physischer Erregung steht, im Augenblick der Gefahr etwa, wenn er folgerichtig und ohne Übereilung handelt, doch auch ohne einen Augenblick zu verlieren, alles im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel.


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