Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XIX

Er erhob sich plötzlich und setzte sich dicht ans Fenster. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er, richtete die Augen auf das Fenster und saß so wohl drei Minuten lang. Dann seufzte er tief auf und setzte sich wieder mir gegenüber. Seine Miene hatte sich völlig verändert, die Augen hatten etwas Weiches, und ein seltsames Lächeln spielte um seine Lippen. – »Ich bin ein wenig müde geworden,« fuhr er fort, »doch will ich weitererzählen. Es ist noch viel Zeit bis zum Morgengrauen. Ja,« sagte er, sich eine Zigarette anzündend, »sie wurde also von der Zeit an, da sie aufhörte zu gebären, stark und üppig, und diese Krankheit, das ewige Leiden um die Kinder, war vorüber. Es war, als ob sie aus einem Rausche erwacht wäre und die ganze Gotteswelt mit ihren Freuden, die sie vergessen, vor sich sähe, eine Gotteswelt freilich, in der sie nicht zu leben verstand, und die sie nicht begriff. ›Nur genießen, genießen! Die Zeit flieht dahin, und du hältst sie nicht zurück!‹ So muß sie gedacht oder vielmehr gefühlt haben, und sie konnte auch nicht anders denken und fühlen: war sie doch in der Vorstellung erzogen, daß es in der Welt nur eines gebe, das Beachtung verdiente: die Liebe. Sie hatte geheiratet, hatte etwas von dieser Liebe kennengelernt, aber lange nicht das, was sie sich versprochen, was sie erwartet hatte, sondern gar viele Enttäuschungen und Leiden und vor allem diese unerwartete Qual mit den vielen Kindern. Diese Qual hatte sie mürbe gemacht. Doch dank den diensteifrigen Doktoren war sie dahintergekommen, daß es auch ohne Kinder gehe. Ihre Freude war groß, sie fand die Richtigkeit der Sache bestätigt und lebte nun wieder auf für den einen Lebenszweck, den sie kannte: für die Liebe. Aber die Liebe zu einem Manne, der sein Gefühl durch Eifersucht und jähe Zornesausbrüche entwürdigt hatte, besaß für sie keinen Reiz mehr. Ihr schwebte eine andere, reine, neue Liebe vor, wenigstens glaubte ich das annehmen zu müssen. Und nun begann sie um sich zu schauen, als ob sie etwas erwartete. Ich sah das und konnte nicht umhin, unruhig zu werden. Ich hörte Äußerungen von ihr, die auf eine tiefe Wandlung schließen ließen. Sie sagte es ganz offen, halb im Scherz heraus, daß die mütterlich liebende Sorge eine Täuschung sei, daß es sich nicht lohne, sein Leben den Kindern zu opfern, daß man nur einmal jung sei und sein Leben genießen müsse. Sie beschäftigte sich jetzt mit den Kindern weniger als früher und nicht mehr mit solcher Verzweiflung, dafür wandte sie, wenn auch zunächst unauffällig, ihre Aufmerksamkeit mehr dem eigenen Ich und ihrem Äußeren, ihren Vergnügungen und sogar ihrer Ausbildung zu. Sie nahm mit einiger Begeisterung wieder das Klavierspiel auf, das sie schon ganz vernachlässigt hatte. Und das war dann der Anfang der Katastrophe.«

Er wandte sich wieder mit seinen müde blickenden Augen dem Fenster zu, fuhr dann jedoch, seine Müdigkeit überwindend, sogleich wieder fort:

»Ja, da erschien dieser Mensch auf der Bildfläche.« – Er stockte und gab wohl zweimal seinen eigentümlichen Nasenlaut von sich.

Ich sah, daß es ihm peinlich war, den Namen jenes Mannes zu nennen, sich seiner zu erinnern, von ihm zu reden. Doch er machte eine heftige Anstrengung, überwand gleichsam das Hindernis, das ihm im Wege stand, und fuhr entschlossen fort:

»Er war in meinen Augen und nach meiner Meinung, kurz gesagt, ein Lump. Nicht in Anbetracht der Rolle, die er in meinem Leben gespielt hat, sondern weil er es wirklich war. Übrigens der Umstand, daß er ein schlechter Mensch war, dient mir nur zum Beweise dafür, wie wenig zurechnungsfähig sie war. Wenn nicht er, so wäre es eben ein anderer gewesen, das war nun schon nicht mehr zu ändern.« – Er schwieg wieder. – »Ja, es war ein Musiker, ein Geiger; nicht ein Musiker von Beruf, sondern halb Berufsmusiker, halb Salonmensch. Sein Vater, ein Gutsbesitzer, war der Nachbar meines Vaters gewesen. Er hatte sein Vermögen verloren, von seinen drei Söhnen hatten zwei ihr Glück gemacht, während der jüngste, eben der Musiker, bei seiner Patin in Paris untergebracht worden war. Da er musikalisches Talent besaß, ließ man ihn das Konservatorium besuchen, das er als Konzertgeiger verließ. Er war ein Mensch . . .«, anscheinend wollte er irgend etwas Schlechtes über ihn sagen, doch unterdrückte er das tadelnde Wort und sagte nur rasch und scharf: »Nun, schließlich weiß ich ja nicht, was für ein Leben er früher geführt hatte, ich weiß nur, daß er in jenem Jahre in Rußland auftauchte und in mein Haus kam: mandelförmige, feuchte Augen, lächelnde rote Lippen, ein flott gedrehtes Schnurrbärtchen, letzte moderne Frisur, ein fades, hübsches Gesicht, was die Frauen so einen netten Jungen nennen, von schwächlicher, wenn auch nicht unvorteilhafter Statur, mit stark entwickeltem Hinterteil, wie es die Frauen oder die Hottentotten besitzen, die ja auch sehr musikalisch sein sollen. Er wurde, wo es anging, rasch familiär, fühlte jedoch sogleich, wo das nicht angebracht war, und zog sich dann unter Wahrung seiner äußeren Würde zurück, wobei er sich jenen eigentümlichen Pariser Anstrich zu geben wußte, den Knöpfschuhe, bunte Krawatten und andere in Paris von den Fremden übernommene, auf unsere Frauen wirkende Modesachen verleihen. In seinen Manieren waltete eine gewisse gekünstelte, äußerliche Flottheit. Er sprach so von allem, verstehen Sie, in Anspielungen und halben Sätzen, als ob Sie schon alles wüßten, sich an alles erinnerten und alles selbst ergänzen könnten. Dieser Mensch mit seiner Musik war also an allem schuld. In der Gerichtsverhandlung wurde der Sachverhalt so dargestellt, als sei Eifersucht die ausschließliche Ursache von allem gewesen. Dies war jedoch durchaus nicht der Fall – das heißt, wenigstens nicht ausschließlich. In der Verhandlung wurde festgestellt, daß ich der betrogene Gatte sei und daß ich sie getötet habe, um meine beleidigte Ehre zu rächen – so nennen sie das ja wohl in ihrer Ausdrucksweise. Aus diesem Grunde also sprachen sie mich frei. Ich wollte ihnen den tieferen Zusammenhang der Dinge klar machen, sie aber verstanden es so, als wollte ich die Ehre meiner Frau rehabilitieren.

Welcher Art ihre Beziehungen zu diesem Musikanten gewesen sind, hatte weder für mich noch für sie irgendeine tiefere Bedeutung. Bedeutung hatte nur das, was ich Ihnen dargelegt habe, nämlich mein unlauteres Leben. Alles kam davon, daß zwischen uns dieser entsetzliche Abgrund gähnte, den ich Ihnen beschrieb, diese furchtbare Spannung gegenseitigen Hasses, bei dem der geringste Anlaß genügte, um eine Krise herbeizuführen. Die Zänkereien zwischen uns waren in der letzten Zeit zu etwas Schrecklichem geworden, verheerend namentlich dadurch, daß sie sich gelegentlich in einer jähen, tierischen Leidenschaftlichkeit auslösten.

Wäre er nicht aufgetaucht, so wäre es eben ein anderer gewesen. Außer der Eifersucht hätte sich ein beliebiger anderer Vorwand finden lassen. Ich bin der Überzeugung, daß alle Männer, die so gelebt haben wie ich, entweder ganz und gar dem Laster verfallen oder zur Scheidung schreiten, entweder Selbstmord begehen oder, wie ich es getan, ihre Frau töten müssen. Wenn bei einem von ihnen keine dieser Möglichkeiten zutrifft, so bildet er eine seltene Ausnahme. Ich hatte, bevor ich den Ausweg wählte, dem ich schließlich den Vorzug gab, mehrmals vor dem Selbstmorde gestanden, und auch sie hatte einige Male versucht, sich zu vergiften.


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