Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XI

So heiraten alle, so habe auch ich geheiratet, und es begann der vielgepriesene Honigmond. Schon diese Bezeichnung – wie widerwärtig!« sagte er zornig, mit zischender Stimme. »Ich sah mir einmal in Paris verschiedene Schaustellungen an und ging auch in eine Bude, in der, wie draußen geschrieben stand, eine bärtige Frau und ein Seehund zu sehen waren. Es stellte sich heraus, daß es sich um nichts weiter handelte, als um einen Mann in einem ausgeschnittenen Frauenkleide und einen Hund, der in einem Walroßfell steckte und in einer mit Wasser gefüllten Wanne umherschwamm. Alles war höchst uninteressant; als ich jedoch hinausging, begleitete mich der Inhaber der Bude höflich und sagte, zum draußen wartenden Publikum gewandt, indem er auf mich wies: ›Fragen Sie diesen Herrn da, ob es sich lohnt, die Sache anzusehen! Immer herein, immer herein, nur einen Frank die Person!‹ Es war mir peinlich zu sagen, daß es sich nicht lohne hineinzugehen, und darauf hatte der Budenbesitzer wohl gerechnet. So geht es vermutlich auch denen, welche die ganze Widerwärtigkeit des Honigmonds kennengelernt haben und die andern nicht enttäuschen wollen. Auch ich habe niemanden enttäuscht, jetzt aber sehe ich nicht ein, weshalb ich nicht die Wahrheit sagen soll. Ja, ich bin sogar der Meinung, daß man unbedingt die Wahrheit darüber sagen müsse. Nun denn: dieser Honigmond ist etwas Peinliches, Beschämendes, Widerliches, Klägliches und vor allem Langweiliges, ganz trostlos Langweiliges. Es war ein Gefühl, ähnlich jenem, das ich damals empfand, als ich mir das Rauchen angewöhnen wollte: ein Brechreiz überkam mich, der Speichel lief mir im Munde zusammen und ich schluckte ihn hinunter mit einer Miene, als sei mir das alles sehr angenehm. Der Genuß vom Rauchen kommt, ebenso wie hier, wenn er sich überhaupt einstellt, erst später: der Gatte muß seiner Frau erst den Geschmack an diesem Laster beibringen, damit er selbst davon einen Genuß habe.«

»Wieso ein Laster?« sagte ich. »Sie sprechen doch von dem natürlichsten Triebe, der dem Menschen eigen ist.«

»Natürlich?« sagte er. »Natürlich! Nein, ich will Ihnen sogar sagen: ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß dies durchaus nicht natürlich ist. Fragen Sie die Kinder, fragen Sie die unverdorbenen Mädchen! Mein Schwester heiratete sehr jung einen Mann, der doppelt so alt wie sie und ein arger Lüstling war. Ich erinnere mich noch, wie verblüfft wir alle in der Hochzeitsnacht waren, als sie bleich und in Tränen von ihm fortlief und am ganzen Leibe zitternd zu uns sagte, sie werde um keinen Preis zu ihm zurückkehren und sie könne es gar nicht aussprechen, was er von ihr verlangt habe. Sie sagen: ›natürlich‹. Natürlich ist es, zu essen. Essen bereitet Genuß, ist angenehm und leicht und ruft auch nicht einen Augenblick das Gefühl der Scham hervor; hier aber handelt es sich um etwas, das zugleich widerlich, beschämend und schmerzlich ist. Nein, das ist einfach unnatürlich! Und ich bin überzeugt: ein unverdorbenes Mädchen wird dies stets hassen.«

»Wie soll sich dann aber das Menschengeschlecht fortpflanzen?« wandte ich ein.

»Ach ja, damit es bloß nicht ausstirbt, dieses Menschengeschlecht!« sagte er in boshaft ironischem Tone, als hätte er diesen ihm bekannten, unehrlichen Einwurf längst erwartet. »Wenn es sich darum handelt, daß die englischen Lords üppiger prassen können – dann, ja, dann ist's erlaubt, die Enthaltsamkeit vom Kindergebären zu predigen. Auch dann, wenn es den Eltern eine angenehmere Lebensgestaltung ermöglicht. Aber man sage nur ein Wort davon, daß man diese Enthaltsamkeit um der Sittlichkeit willen üben solle – o Gott, was für ein Geschrei wird dann gleich erhoben! Damit das Menschengeschlecht nur ja nicht aussterbe, wenn ein oder zwei Dutzend Menschen nicht länger ein unreines Leben führen wollten! Übrigens, verzeihen Sie: das Licht ist mir unangenehm,« sagte er und zeigte auf die Laterne, »darf ich die Vorhänge da oben zuziehen?«

Ich erklärte, daß ich nichts dagegen hätte, und so stieg er rasch – wie er überhaupt alles auffallend rasch tat – auf seinen Sitz und zog den wollenen Vorhang an der Laterne herunter.

»Wenn alle dies als Gesetz für sich anerkennen wollten,« sagte ich, »würde das Menschengeschlecht in der Tat bald ausgestorben sein.« Er antwortete erst nach einer Weile. »Sie fragen: wie das Menschengeschlecht weiterexistieren solle«, sagte er, als er wieder mir gegenüber Platz genommen hatte, setzte die Beine breit auseinander und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Warum soll es denn überhaupt weiterexistieren, dieses Menschengeschlecht?«

»Wie denn – ›warum‹? Dann würden doch auch wir nicht existieren!«

»Und warum sollen wir existieren?«

»Was heißt ›warum‹? Um zu leben.«

»Und warum sollen wir leben? Wenn wir kein Ziel haben, wenn uns das Leben nur so um des Lebens willen gegeben ist, dann ist doch kein Grund da zum Leben. Wenn es so ist, dann haben Schopenhauer und Hartmann und die Buddhisten vollkommen recht. Wenn aber das Leben ein Ziel hat, dann ist es doch klar, daß das Leben zu Ende gehen muß, sobald das Ziel erreicht ist. Und so ist es in der Tat,« sagte er in sichtlicher Erregung, offenbar nicht wenig stolz auf seinen Gedanken, »so ist es in der Tat! Begreifen Sie wohl: wenn das Ziel der Menschheit darin besteht, was in den Prophezeiungen gesagt ist, daß nämlich alle Menschen sich in eine friedliche Herde vereinigen, daß die Speere dereinst in Sicheln umgeschmiedet werden usw. – was steht dann der Erreichung dieses Zieles im Wege? Einzig die menschlichen Leidenschaften. Unter diesen Leidenschaften aber ist die geschlechtliche, sinnliche Liebe die stärkste, böseste und hartnäckigste; wenn also die Leidenschaften und darunter die stärkste von ihnen, die sinnliche Liebe, vernichtet werden, so wird die Prophezeiung erfüllt, die Menschen werden sich friedlich zu einer Herde vereinigen, das Ziel der Menschheit wird erreicht sein und sie wird keinen Grund mehr haben zu leben. Solange jedoch die Menschheit lebt, schwebt ihr ein Ideal vor, das natürlich nicht das Ideal der Kaninchen oder Schweine sein kann, sich so stark wie möglich zu vermehren, und auch nicht das Ideal der Affen oder der Pariser, den Geschlechtstrieb so raffiniert wie möglich auszuüben, sondern ein Ideal des Guten, das durch Enthaltsamkeit und Reinheit erreicht wird. Diesem Ideal haben die Menschen stets nachgestrebt und streben ihm immer noch nach. Und sehen Sie zu, was die Folge davon ist! Die Folge ist, daß die sinnliche Liebe – eben das Sicherheitsventil ist. Wenn die jetzt lebende Generation der Menschheit das Ziel nicht erreicht, so hat sie es nur darum nicht erreicht, weil sie von Leidenschaften beherrscht ist, darunter der stärksten, der geschlechtlichen. Ist aber die geschlechtliche Leidenschaft vorhanden, so ist auch eine neue Generation garantiert, mithin kann das Ziel erst in der folgenden Generation erreicht werden. Hat auch diese es nicht erreicht, so kommt die nun folgende an die Reihe und so fort, bis das Ziel erreicht, die Prophezeiung erfüllt und die Menschheit zu einer friedlichen Herde vereinigt ist. Was würde nun schließlich dabei herauskommen? Angenommen, Gott habe die Menschen geschaffen, damit sie ein bestimmtes Ziel erreichen – so hat er sie entweder sterblich, ohne die sinnliche Leidenschaft, oder unsterblich geschaffen. Wenn sie sterblich wären, doch ohne sinnliche Leidenschaft – was käme dabei heraus? Nur so viel, daß sie eine Zeitlang leben und dann, ohne das Ziel erreicht zu haben, sterben; und damit das Ziel erreicht würde, müßte Gott neue Menschen schaffen. Wären sie unsterblich, so würden sie vielleicht das Ziel nach vielen Tausend Jahren erreichen – (obwohl immer neue Generationen die Fehler leichter gutmachen und der Vollkommenheit näher kommen würden als eine einzige fortdauernde Generation) aber wozu sind die Menschen dann noch da? Was soll mit ihnen geschehen? So, wie es jetzt ist, ist es wohl am besten . . . Doch vielleicht finden Sie keinen Geschmack an dieser meiner Ausdrucksform, vielleicht sind Sie Evolutionist. Dann kommt die Sache aber auf dasselbe hinaus. Die höchste Form der Lebewesen ist der Mensch; will er sich im Kampfe mit den übrigen Lebewesen behaupten, so muß er sich mit seinesgleichen in eins zusammenschließen wie ein Bienenschwarm, und sich nicht ins Endlose vermehren; er muß, wie die Bienen, Geschlechtslose zeugen, das heißt wiederum nach Enthaltsamkeit streben und jedenfalls nicht nach Schürung der Sinnlichkeit, auf die unsere ganze Lebensordnung abzielt.« – Er schwieg eine Weile. – »Das Menschengeschlecht wird einmal aussterben,« fuhr er alsdann fort. »Kann jemand, wie er auch die Dinge dieser Welt ansehen möge, daran zweifeln? Das ist doch so unzweifelhaft wie der Tod. Nach allen kirchlichen Lehren tritt einmal das Ende der Welt ein, und alle wissenschaftlichen Theorien verkünden dasselbe. Was ist also daran so sonderbar, daß auch die Sittenlehre zu demselben Ergebnis gelangt?«

Er schwieg nach diesen Ausführungen sehr lange, rauchte seine Zigarette zu Ende, holte aus seiner Reisetasche eine neue Schachtel hervor und legte deren Inhalt in sein abgegriffenes altes Etui.

»Ich begreife Ihren Grundgedanken,« sagte ich, »etwas Ähnliches behaupten auch die Shaker.«

»Ja, ja, und sie haben recht«, erwiderte er. »Der Geschlechtstrieb ist ein Übel, ein schreckliches Übel, das man bekämpfen und nicht, wie es bei uns geschieht, fördern soll. Die Worte des Evangeliums, daß, wer eine Frau begehrlich ansieht, mit ihr schon die Ehe breche, beziehen sich nicht nur auf eine fremde, sondern ausdrücklich und vor allem auf die eigene Frau.


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