Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XVII

Nun, so lebten wir denn dahin. Unsere Beziehungen wurden immer feindseliger. Schließlich kam es so weit, daß nicht mehr eine Meinungsverschiedenheit die Feindseligkeit hervorrief, sondern aus der Feindseligkeit die Meinungsverschiedenheit entsprang; was sie auch sagen mochte, ich war schon von vornherein anderer Meinung, und das gleiche war auch bei ihr der Fall.

Im vierten Jahre unserer Ehe waren wir beide fest davon überzeugt, daß wir einander nie verstehen, nie zu einer Übereinstimmung miteinander gelangen würden. Wir machten nicht mehr den Versuch, uns wieder einmal richtig auszusprechen. Bei den einfachsten Dingen, namentlich betreffs der Kinder, blieb jeder von uns unerschütterlich bei seiner Meinung. Soweit ich mich jetzt erinnere, waren die Meinungen, die ich vertrat, mir durchaus nicht so teuer, daß ich sie schließlich nicht hätte opfern können; aber sie war entgegengesetzter Meinung, und wenn ich nachgab, so hieß das ihr nachgeben. Und das konnte ich nicht, so wenig wie sie es konnte. Sie war jedenfalls mir gegenüber nach ihrer Ansicht immer im Recht, und ich war in meinen Augen natürlich ein Heiliger. Waren wir unter uns, so waren wir fast zum Schweigen verurteilt oder auf solche Gespräche angewiesen, wie sie vermutlich die Tiere untereinander führen mögen: ›Wie spät ist es? – Es ist Zeit, daß man schlafen geht. – Was gibt's heute zum Mittagessen? – Wohin wollen wir fahren? – Was steht in der Zeitung? – Man muß zum Arzt schicken, Mascha hat Halsschmerzen.‹ Nur um ein Härchen brauchte dieser bis aufs äußerste beschränkte Stoffkreis überschritten werden, und schon platzten die Gegensätze aufeinander. Es gab Zank und bissige Worte beim Kaffee, wegen des Tischtuches, des Wagens, in dem wir fuhren, des Ausspielens am Kartentisch, kurz, um jede Kleinigkeit, die weder für sie noch für mich von Bedeutung sein konnte. Ich wenigstens war häufig von einer wahren Wut gegen sie erfüllt. Zuweilen, wenn ich zusah, wie sie den Tee eingoß oder mit dem Bein schlenkerte oder den Löffel zum Munde führte und den Trank hinunterschlürfte, haßte ich sie um dieser Dinge willen, als handle es sich um irgendeine verächtliche Tat. Es fiel mir damals nicht auf, daß die Perioden der Bosheit in mir völlig regelmäßig und gleichmäßig auftauchten, und zwar entsprechend jenen Perioden, die wir Liebe nannten. Auf eine Periode der Liebe folgte jedesmal eine Periode des Hasses; war der Ausbruch der Liebe stark, so war die Periode des Hasses von langer Dauer; auf eine schwächere Bekundung der Liebe folgte eine kurze Äußerung des Hasses. Damals begriffen wir nicht, daß diese Liebe und dieser Haß Offenbarungen desselben animalischen Triebes, nur von verschiedenen Polen aus gesehen, waren. So zu leben, wäre schrecklich gewesen, wenn wir uns unserer Lage bewußt geworden wären; dies war jedoch nicht der Fall, wir begriffen unsere Lage nicht. Darin liegt zugleich die Rettung und die Strafe des Menschen, daß er, wenn er ein verkehrtes Leben führt, sich zu betäuben vermag, daß er die ganze Kläglichkeit seiner Lage nicht sieht. So hielten auch wir es jetzt. Sie suchte über allerhand nebensächlicher hastiger Beschäftigung in der Wirtschaft, im Haushalt, in ihrem Boudoir und der Kinderstube unsere gegenseitigen Beziehungen zu vergessen, während ich wieder meine eigene Domäne hatte – Zechgelage, Dienstverrichtungen, Jagd, Kartenspiel. Wir hatten beide beständig zu tun. Wir fühlten es: je beschäftigter wir beide waren, desto böser durften wir aufeinander sein. ›Du hast gut launisch sein,‹ dachte ich, ›die ganze Nacht hast du mich mit deinen Keifszenen gequält und nun soll ich in die Sitzung fahren!‹ – ›Du hast es gut,‹ dachte nicht nur, sondern erklärte sie laut, ›mich hat das Kind die ganze Nacht nicht schlafen lassen!‹ Die neuen Theorien des Hypnotismus, der Geisteskrankheiten sind eine Torheit, und zwar nicht bloß eine harmlose, sondern eine schädliche, widerwärtige Torheit. Meine Frau würde von Charcot zweifellos für hysterisch und ich für nicht normal erklärt worden sein, und er würde uns zweifellos in Behandlung genommen haben, obwohl an uns nicht das geringste herumzukurieren war.

So lebten wir in einem beständigen Nebel und übersahen die Lage nicht, in der wir uns befanden. Und wäre nicht geschehen, was eben geschehen ist, so hätte ich bis in mein Greisenalter so weitergelebt und geglaubt, ein leidlich glückliches Leben durchlebt zu haben, kein besonders schönes zwar, aber auch kein besonders schlechtes, so wie es eben alle Menschen führen; ich wäre nie dahinter gekommen, in welchem Abgrund des Unglücks und der erbärmlichsten Lüge ich schwebte.

Dabei waren wir doch nichts anderes als zwei Sträflinge, die einander haßten, die an einer einzigen Kette ächzten, sich das Leben gegenseitig zu vergiften trachteten und bestrebt waren, nichts von allem zu sehen. Ich wußte damals noch nicht, daß neunundneunzig Prozent aller Ehepaare in derselben Hölle leben wie wir, und daß dies nicht anders sein kann. Damals wußte ich das noch nicht, weder von mir selbst, noch von den anderen.

Merkwürdig, was für Zufälle im Leben mitspielen, ob es nun regelmäßig oder unregelmäßig dahinfließt! Die Eltern können das Leben miteinander nicht mehr ertragen, sie sind sich ›über‹ geworden, und zu gleicher Zeit stellt es sich heraus, daß die Erziehung der Kinder eine Übersiedelung nach der Stadt notwendig macht. ›Nach der Stadt!‹ hieß also jetzt die Parole.«

Er schwieg eine Weile und stieß wohl zweimal seinen seltsamen Laut aus, der jetzt schon völlig einem unterdrückten Schluchzen glich. Der Zug näherte sich der Station.

»Wie spät ist es?« fragte er.

Ich sah nach, es war zwei Uhr.

»Sind Sie nicht müde?« fragte ich ihn.

»Nein; aber Sie sind es?«

»Nein, nur ein wenig stickig kommt es mir hier vor. Ich will einen Augenblick hinausgehen und einen Schluck Wasser trinken.«

Er ging mit schwankendem Schritt durch den Wagen. Ich saß da, sann über alles nach, was er mir erzählt hatte, und verfiel in so tiefes Sinnen, daß ich seinen Eintritt durch die andere Tür gar nicht bemerkte.


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