Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XVIII

Ja, ich lasse mich gar zu leicht erregen«, begann er von neuem. »Ich habe vielerlei durchdacht. Viele Dinge sehe ich mit eigenen Augen an, und da möchte man denn seine Gedanken aussprechen. Nun, wir lebten also jetzt in der Stadt. In der Stadt kann der Mensch hundert Jahre leben, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er längst gestorben und verdorben ist. Man hat gar keine Zeit, einmal richtig mit sich selbst zu Rate zu gehen, ewig ist man beschäftigt.

Geschäfte, gesellschaftliche Verpflichtungen, die Gesundheit, die Künste, das Befinden der Kinder, ihre Erziehung – wieviel Sorgen schafft das alles! Da heißt es bald den, bald jenen empfangen, da und dort Besuche machen, bald diesen oder diese anhören. In der Stadt gibt es zu jeder Stunde eine, zwei oder auch drei berühmte Persönlichkeiten, die man gesehen haben muß. Bald muß man an sich, bald an dem einen oder anderen Hausgenossen herumkurieren, dann sind die Lehrer, die Erzieher, die Gouvernanten zu überwachen, und so vertrödelt man Stunde um Stunde des Lebens. Nun, so trieben wir es schließlich und empfanden die Qual unseres Zusammenlebens nicht so schmerzlich. Die erste Zeit brachte außerdem die wundervolle Beschäftigung, sich in dem neuen Wohnort und dem neuen Quartier einzurichten, von der Stadt aufs Land und vom Lande in die Stadt zu ziehen usw.

Den ersten Winter in der Stadt hatten wir hinter uns. Im zweiten Winter trat dann ein unauffälliger, kaum merklicher Umstand ein, von dem alle übrigen Vorgänge ihren Anfang nahmen.

Sie war krank, und die Ärzte verboten ihr wieder einmal das Gebären und belehrten sie über gewisse Mittel, um es zu verhindern.

Ich war darüber empört und kämpfte aufs schärfste dagegen an, sie bestand jedoch mit leichtfertigem Trotz auf ihrem Willen, und ich gab nach; der letzte Rechtfertigungsgrund für das widerliche Zusammenleben, das wir führten – die Erzeugung der Kinder – war weggefallen, und unsere eheliche Gemeinschaft nahm noch häßlichere Formen an.

Der Bauer braucht Kinder für die Arbeit; fällt es ihm auch schwer, sie großzuziehen, so braucht er sie doch eben, und daher haben seine ehelichen Beziehungen eine Rechtfertigung. Wir wohlhabenden Leute dagegen bedürfen der Kinder nicht, sie sind eine überflüssige Sorge, verursachen Kosten, Schwierigkeiten bei der Erbschaftsteilung, kurzum: sie sind eine Last. Unser unlauteres Zusammenleben hat demnach überhaupt keine Rechtfertigung mehr. Wir verhindern entweder die Empfängnis auf künstliche Weise, oder wir betrachten die Kinder, wenn sie dennoch geboren werden, als ein Unglück, als eine Folge der Unvorsichtigkeit. Das letztere ist noch unsittlicher als das erstere, und es gibt keine Rechtfertigung dafür. Wir sind jedoch moralisch so gesunken, daß wir eine Rechtfertigung gar nicht mehr für notwendig halten. Die Mehrzahl unserer heutigen gebildeten Welt huldigt dieser Ausschweifung ohne die geringsten Gewissensbisse. Wozu auch Gewissensbisse? Gibt es doch in dem Leben, wie wir es führen, kein Gewissen, außer etwa jenen beiden Faktoren, die wir als öffentliche Meinung und als Scheu vor dem Strafgesetz bezeichnen. Hier kommt jedoch weder diese noch jene in Frage: vor der öffentlichen Meinung braucht man sein Gewissen nicht beschwert zu fühlen, weil doch alle sich so verhalten, ›Maria Pawlowna so gut wie Iwan Sacharytsch – denn welchen Zweck hat es, Bettler in die Welt zu setzen oder sich der Annehmlichkeiten des geselligen Verkehrs zu berauben?‹ Scheu vor dem Strafgesetz oder Gewissensbisse nach dieser Richtung kamen gleichfalls nicht in Frage. Liederliche Dirnen und Soldatenweiber werfen ihre Kinder wohl in Teiche und Brunnen, die müssen dafür natürlich auch ins Gefängnis wandern, bei uns jedoch geht alles fein sauber und rechtzeitig vor sich.

So verlebten wir noch zwei weitere Jahre. Das Mittel, das die Schufte von Ärzten bei meiner Frau in Anwendung gebracht, begann augenscheinlich zu wirken, sie nahm körperlich zu und wurde schön – so schön wie die letzten Tage des Spätsommers. Sie fühlte das und begann sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie wurde zu einer Art prickelnder Schönheit, die die Männer reizt. Sie stand in der Kraftfülle einer dreißigjährigen, gut genährten, sinnlich erregten Frau, die sich des Gebärens enthält. Ihr Anblick hatte etwas Beunruhigendes; wenn sie in Männergesellschaft kam, waren aller Augen auf sie gerichtet. Sie war wie ein überfüttertes Pferd, das zu lange gestanden hat; nun hatte man es angeschirrt und ihm die Zügel freigegeben. Neunundneunzig Hundertstel unserer Frauen sind solche ungezügelte Pferde. Ich fühlte, daß auch sie zu ihnen gehörte, und mir wurde bange ums Herz.«


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