Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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II

Kaum war der Alte hinaus, so begann sofort eine mehrstimmige Unterhaltung.

»Ein Patriarch des Alten Testaments«, meinte der Handlungsgehilfe.

»Der leibhaftige Domostroj,« sagte die Dame, »was für eine rückständige Auffassung von der Frau und der Ehe!«

»Ja, wir sind noch weit entfernt von der europäischen Ansicht über die Ehe«, sagte der Advokat.

»Der Kernpunkt, den solche Leute eben nicht begreifen,« sagte die Dame, »liegt darin, daß eine Ehe ohne Liebe keine Ehe ist, daß nur die Liebe die Ehe heiligt und daß nur eine Ehe, die von der Liebe geheiligt ist, als richtige Ehe gelten kann.«

Der Handlungsgehilfe hörte zu und lächelte, augenscheinlich bemüht, möglichst viel von den klugen Gesprächen zu gelegentlichem Gebrauche zu behalten.

Während die Dame sprach, ließ sich hinter meinem Rücken ein Laut wie ein ersticktes Lachen oder ein Knurren hören und wir erblickten meinen Nachbar, den grauhaarigen Krauskopf mit den glänzenden Augen, der während der ihn offenbar interessierenden Unterhaltung unbemerkt zu uns herangetreten war. Er stand die Hände auf die Lehne seines Sitzes stützend da und war sichtlich erregt: sein Gesicht war gerötet und der eine Wangenmuskel zuckte beständig.

»Was ist denn das für eine Liebe . . . Liebe . . . die die Ehe heiligt?« sagte er stockend.

Die Dame bemerkte seine Erregung und bemühte sich, ihm so sanft und ausführlich wie möglich zu antworten.

»Die wahre Liebe . . . Besteht diese Liebe zwischen Mann und Frau, so ist auch eine Ehe möglich«, sagte die Dame.

»Ganz recht – aber was soll man unter der wahren Liebe verstehen?« fragte schüchtern lächelnd der Herr mit den glänzenden Augen.

»Jedermann weiß doch, was Liebe ist«, sagte die Dame, die offenbar die Unterhaltung mit ihm abzubrechen wünschte.

»Ich weiß es aber nicht«, sagte der Herr. »Wollen Sie mir genauer erklären, was Sie darunter verstehen!«

»Wie denn? Die Sache ist doch sehr einfach«, begann die Dame, dachte jedoch einen Augenblick nach. »Liebe ist die ausschließliche Bevorzugung eines Mannes oder einer Frau vor allen übrigen«, erklärte sie schließlich.

»Bevorzugung – auf wie lange? Auf einen oder zwei Monate oder auf eine halbe Stunde?« fragte der grauhaarige Herr und lachte hell auf.

»Nein, gestatten Sie – Sie reden anscheinend von etwas anderem.«

»Durchaus nicht, ich rede von demselben Thema.«

»Die Dame meint,« mischte der Advokat sich ein, »die Ehe müsse erstens einmal auf gegenseitiger Zuneigung – Liebe, wenn Sie wollen – beruhen; nur wenn diese vorhanden sei, könne die Ehe sozusagen als etwas Heiliges gelten; jede Ehe dagegen, der diese natürliche Zuneigung – oder Liebe, wenn Sie wollen – nicht zugrunde liegt, trage nichts sittlich Bindendes in sich. Habe ich Sie richtig verstanden?« wandte er sich an die Dame.

Die Dame gab ihm durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß er ihre Auffassung richtig dargelegt habe.

»Weiterhin . . .« wollte der Advokat in seiner Rede fortfahren, doch der nervöse Herr, dessen Augen jetzt wirklich wie im Feuer glühten und der sich kaum noch beherrschen konnte, ließ den Advokaten nicht weitersprechen, sondern begann selbst:

»Gewiß, ich rede von eben derselben Bevorzugung eines Mannes oder einer Frau vor allen übrigen, und doch frage ich: eine Bevorzugung auf wie lange Frist?«

»Auf wie lange Frist? Auf sehr lange – zuweilen für das ganze Leben«, sagte die Dame achselzuckend.

»Aber das kommt ja nur in Romanen vor, niemals in Wirklichkeit. In Wirklichkeit hält diese Bevorzugung des einen vor den andern vielleicht ein paar Jahre an, was sehr selten ist, häufiger ein paar Monate oder Wochen, zumeist jedoch bemißt sie sich nur nach Tagen oder Stunden«, sagte der Grauhaarige, der sehr wohl zu wissen schien, daß er alle durch seine Meinungsäußerung in Erstaunen versetzte und darin ein gewisses Vergnügen fand.

»Ach, was sagen Sie da! Nicht doch, nein . . . Nein, erlauben Sie einmal«, begannen wir alle drei wie aus einem Munde. Sogar der Handlungsgehilfe ließ zum Zeichen des Protestes einen unbestimmten Laut vernehmen.

»Nun ja, ich weiß,« überschrie uns der grauhaarige Herr, »Sie sprechen von dem, was man für Wirklichkeit hält, ich aber spreche von dem, was wirklich ist. Jeder Mann empfindet das, was Sie Liebe nennen, für jede hübsche Frau.«

»Ach, das ist ja schrecklich, was Sie da sagen! Gibt es denn unter den Menschen nicht jenes Gefühl, das man Liebe nennt, und das nicht nur Monate und Jahre, sondern das ganze Leben lang vorhält?«

»Nein, ein solches Gefühl gibt es nicht. Angenommen, selbst, ein Mann würde eine bestimmte Frau allen andern Frauen für das ganze Leben vorziehen, so würde doch die Frau aller Wahrscheinlichkeit nach einen andern vorziehen. So war es und so ist es immer in der Welt«, sagte er, zog eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an.

»Aber das Gefühl kann doch auch gegenseitig sein«, sagte der Advokat.

»Nein, das ist unmöglich,« versetzte der Grauhaarige, »wie es unmöglich ist, daß auf einer Fuhre voll Erbsen zwei vorher markierte Erbsen nebeneinander zu liegen kommen. Es handelt sich übrigens hier nicht bloß um eine Frage der Wahrscheinlichkeit, sondern es tritt eben Übersättigung ein. Sein Leben lang einen einzigen Mann oder eine einzige Frau lieben – das wäre etwa dasselbe, wie behaupten wollen, daß eine Kerze das ganze Leben lang brennen werde«, sagte er und zog gierig an seiner Zigarette.

»Aber Sie sprechen immer nur von der sinnlichen Liebe. Geben Sie nicht zu, daß es daneben eine Liebe gibt, die auf der Übereinstimmung der Ideale, auf geistiger Verwandtschaft beruht?« sagte die Dame.

»Geistige Verwandtschaft! Übereinstimmung der Ideale!« wiederholte er und ließ seinen Laut hören. »Aber dann brauchen sie doch nicht miteinander zu schlafen – verzeihen Sie, daß ich so geradezu rede! Um der Übereinstimmung der Ideale willen legen sich also die Menschen zusammen schlafen!« sagte er und lachte nervös auf.

»Aber gestatten Sie,« sagte der Advokat, »die Tatsachen widersprechen dem, was Sie sagen. Wir sehen, daß Ehen existieren, daß die Menschheit oder doch ihre Mehrheit im Ehestande lebt, und daß viele Paare ein langjähriges, ehrbares Eheleben führen.«

Der grauhaarige Herr lachte wieder auf.

»Sie sagen, die Ehen seien auf Liebe begründet; wenn ich aber bezweifle, daß es neben der sinnlichen Liebe eine andere gibt, dann wollen Sie mir die Existenz dieser andern Liebe damit beweisen, daß Ehen existieren. Die Ehen aber sind doch in unserer Zeit geradezu ein Betrug!«

»Durchaus nicht – erlauben Sie, bitte!« sagte der Advokat, »ich sage nur, daß Ehen existiert haben und noch existieren.«

»Gewiß existieren sie! Aber wo und wie existieren sie? Sie existierten und existieren bei den Leuten, die in der Ehe etwas Geheimnisvolles sehen, ein Sakrament, das vor Gott verpflichtet. Bei diesen Leuten existiert eine Ehe, bei uns jedoch nicht. Bei uns heiraten die Leute, ohne in der Ehe etwas anderes zu sehen als eine Paarung, und das Ende vom Liede ist Betrug oder Gewalttat. Der Betrug wird noch einigermaßen leicht ertragen. Mann und Frau lügen den Leuten vor, daß sie in der Einehe leben, in Wirklichkeit jedoch leben sie in Vielweiberei und Vielmännerei; das ist widerwärtig, aber es geht noch an; doch wenn, wie es zumeist der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung übernommen haben, ihr ganzes Leben lang gemeinsam zu leben und schon vom zweiten Monat an einander hassen und den Wunsch hegen, sich zu trennen, und dennoch zusammen weiterleben, dann entsteht jene fürchterliche Hölle, in welcher Trunksucht, Revolver und Gift, Mord und Selbstmord ihre verhängnisvolle Rolle spielen.« Er hatte das alles ganz rasch gesagt, ließ niemanden zu Worte kommen und war mehr und mehr in Hitze geraten.

Eine peinliche Stimmung herrschte unter uns.

»Gewiß, ohne Zweifel gibt es kritische Episoden im Eheleben«, sagte der Advokat, der dem anstößigen, hitzigen Tone des Gespräches ein Ende machen wollte.

»Sie haben mich erkannt, wie ich sehe?« sagte der grauhaarige Herr leise und scheinbar ruhig.

»Nein, ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen.«

»Das Vergnügen wäre nicht allzu groß. Ich bin Posdnyschew, der Mann, dem jene kritische Episode passiert ist, auf die Sie angespielt haben – der Mann, der seine Frau getötet hat«, sagte er und ließ seinen Blick rasch über uns alle hingleiten.

Niemand faßte sich schnell genug, um ihm etwas zu erwidern, und alles schwieg.

»Nun, gleichviel,« sagte er und stieß wieder seinen Laut aus. »Verzeihen Sie übrigens . . . äh! Ich will nicht weiter stören.«

»Oh, nicht doch, bitte recht sehr«, sagte der Advokat, ohne selbst zu wissen, um was er eigentlich »bitten« sollte. Posdnyschew hörte jedoch nicht auf ihn, wandte sich rasch um und ging auf seinen Platz. Der Advokat flüsterte mit der Dame. Ich saß jetzt neben Posdnyschew und wußte nicht, was ich sagen sollte. Zum Lesen war es zu dunkel, so schloß ich die Augen und stellte mich, als wollte ich einschlafen. Schweigend fuhren wir bis zur nächsten Station.

Auf dieser Station stiegen der Advokat und die Dame in einen andern Wagen, sie hatten das schon vorher mit dem Schaffner verabredet. Der Handlungsgehilfe hatte sich auf der Sitzbank ausgestreckt und war eingeschlafen, Posdnyschew rauchte und trank seinen Tee, den er sich schon auf der vorhergehenden Station bereitet hatte.

Als ich die Augen öffnete und ihn ansah, wandte er sich plötzlich in erregtem, heftigem Tone an mich:

»Es ist Ihnen vielleicht unangenehm, neben mir zu sitzen, nachdem Sie wissen, wer ich bin? Dann will ich hinausgehen.«

»O nein, ich bitte Sie!«

»Nun, dann erlaube ich mir, Ihnen ein Glas Tee anzubieten. Er ist aber sehr stark.«

Er schenkte mir ein Glas Tee ein.

»Da machen sie nun schöne Worte. . . . Und alles ist Lüge. . . .« sagte er.

»Wovon reden Sie?« fragte ich.

»Immer noch von derselben Sache: von der sogenannten Liebe und was so drum und dran ist. Sie wollen vielleicht schlafen?«

»Nein, ich bin nicht müde.«

»Dann will ich Ihnen, wenn Sie gestatten, erzählen, wie ich durch eben diese Liebe zu alledem gekommen bin, was ich erlebt habe.«

»Ja, wenn es Ihnen nicht schwer fällt.«

»Nein, eher fällt mir das Schweigen schwer. Trinken Sie, bitte – oder ist Ihnen der Tee zu stark?«

Der Tee war in der Tat so dunkel wie Bier, doch ich trank mein Glas aus. In diesem Augenblick ging der Schaffner durch das Kupee. Posdnyschew folgte ihm mit finsterem Blick und begann erst, als er fort war.


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