Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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V

Ja, so ist es; dann ging es weiter und weiter, ich hatte alle möglichen Verhältnisse. Mein Gott, wenn ich so an alle Gemeinheiten zurückdenke, die ich in dieser Hinsicht begangen habe, dann erfaßt mich ein wahrer Schrecken. Und dabei lachten mich die Kameraden noch aus wegen meiner sogenannten Unschuld. Was bekam man erst zu hören, wenn von der goldenen Jugend, den Offizieren, den Gecken nach Pariser Art die Rede war! Und wie kamen sich alle diese Herren, darunter auch ich, diese dreißigjährigen Lebemänner, die wohl Hunderte aller möglichen abscheulichen Verbrechen gegen die Frauen auf dem Gewissen hatten, wie kamen sie sich vor, wenn sie sauber gewaschen, glatt rasiert und parfümiert, in schimmernder Wäsche, in Frack oder Uniform in den Empfangssalon oder den Ballsaal traten – ein wahres Sinnbild der Reinheit, zum Entzücken!

Bedenken Sie doch einmal, wie es eigentlich sein müßte, und wie es in Wirklichkeit ist! Es müßte so sein: wenn in einer Gesellschaft ein solcher Herr sich meiner Schwester oder Tochter nähert, so müßte ich, der ich sein Leben kenne, zu ihm hintreten, ihn auf die Seite nehmen und ihm leise ins Ohr flüstern: ›Mein Lieber, ich weiß, was für ein Leben du geführt hast, wie und mit wem du deine Nächte verbringst. Du gehörst nicht hierher. Hier sind reine, unschuldige Mädchen. Entferne dich!‹ So müßte es sein; in Wirklichkeit aber ist es so, daß, wenn ein solcher Herr auf der Bildfläche erscheint und mit meiner Schwester oder Tochter tanzt und sie an sich preßt, wir förmlich jubeln, wofern er nur reich ist und gute Verbindungen hat. Wer weiß, vielleicht macht er nach dieser oder jener berühmten Kurtisane auch meine Tochter glücklich! Und wenn selbst Spuren einer Erkrankung an ihm verblieben sind – was tut es? Heutzutage bringt die Medizin so etwas ganz leicht weg. Ja, ich kenne sogar ein paar Mädchen aus den höheren Kreisen, die von ihren Eltern bereitwilligst an Männer verheiratet wurden, denen eine gewisse Krankheit tief im Leibe saß. Oh, oh . . . welche Gemeinheit! Doch es kommt die Zeit, da auch diese Gemeinheit und Lüge entlarvt werden wird!«

Er ließ mehrmals seinen sonderbaren Laut hören und machte sich an seinen Tee. Der Tee war sehr stark – es war kein Wasser da, um ihn zu verdünnen. Ich spürte es, wie sehr mich die zwei Gläser erregten, die ich getrunken hatte. Auch auf ihn mußte der Tee wohl eingewirkt haben, denn er wurde immer erregter. Seine Stimme nahm immer mehr einen markanten, singenden Ausdruck an. Jeden Augenblick wechselte er seine Haltung, nahm seine Mütze ab, setzte sie wieder auf und sein Gesicht veränderte sich ganz seltsam in dem Halbdunkel, worin wir saßen.

»So also lebte ich bis zu meinem dreißigsten Jahre,« fuhr er fort, »und nicht einen Augenblick gab ich die Absicht auf, zu heiraten und ein ganz ideales, reines Familienleben zu begründen, und in dieser Absicht sah ich mich eifrig unter den jungen Mädchen um, die für mich in Betracht kommen konnten. Ich besudelte mich selbst mit dem Schmutz der Ausschweifung und schaute gleichzeitig nach jungen Mädchen aus, die im Punkte der Keuschheit meiner würdig wären! Viele schied ich eben darum aus dem Wettbewerb aus, weil sie mir nicht rein genug erschienen; endlich aber fand ich eine, die ich für würdig erachtete, meine Gattin zu werden. Es war eine der beiden Töchter eines Gutsbesitzers aus dem Gouvernement Pensa, der einstmals sehr reich gewesen war, jedoch sein Vermögen verloren hatte.

Eines Abends, nachdem wir zusammen eine Kahnfahrt gemacht hatten und beim Mondschein heimgekehrt waren, saß ich neben ihr und war ganz entzückt von ihrem schlanken, in eine knappe englische Robe gepreßten Figürchen und ihren Locken; plötzlich kam ich zu dem Entschluß: sie und keine andere ist es! Es schien mir an jenem Abend, daß sie alles, alles verstehe, was ich fühlte und dachte. In Wirklichkeit lag nichts weiter vor, als daß die englische Robe und die Locken ihr ausnahmsweise gut zu Gesichte standen, und daß ich nach dem in ihrer traulichen Nähe verbrachten Tag den Wunsch nach noch intimerer Traulichkeit hegte.

Merkwürdig, wie leicht die Menschen der Illusion verfallen, daß Schönheit zugleich auch Güte sei! Eine schöne Frau kann ruhig Dummheiten schwatzen – man hört ihr zu und hört nicht die Dummheiten heraus, sondern nur lauter kluge Sachen. Sie redet und tut häßliche Dinge – und man findet alles nett. Redet sie nun gar weder dumme noch häßliche Dinge und ist sie wirklich schön: gleich bildet man sich ein, sie sei ein Wunder an Verstand und Tugend.

Ich war in einem Wonnerausch heimgekehrt, vollkommen überzeugt, daß sie der Gipfel sittlicher Vollkommenheit, daher würdig sei, meine Gattin zu werden, und so trug ich ihr denn am nächsten Tage meine Hand an.

Was für eine Begriffsverwirrung! Unter tausend Männern, die heiraten, gibt es – nicht nur in unseren Kreisen, sondern leider auch in den breiten Volksschichten – kaum einen einzigen, der nicht vorher schon zehn-, ja, wie Don Juan, hundert- und tausendmal verheiratet gewesen wäre.

Es gibt allerdings heutigestags, wie man mir sagt, und wie ich selbst beobachtet habe, sittenreine junge Leute, die da fühlen und wissen, daß dies kein Scherz ist, sondern eine sehr, sehr ernste Sache. Gott segne sie! Zu meiner Zeit gab es nicht einen einzigen auf zehntausend. Und alle wissen das und stellen sich so, als ob sie es nicht wüßten. In allen Romanen sind die Gefühle der Helden, die Teiche und Gebüsche, an denen sie entlang wandeln, bis ins kleinste geschildert; doch wenn die große Liebe solch eines Helden zu irgendeinem Mädchen beschrieben wird, verschweigt man wohlweislich, was mit ihm, diesem interessanten Helden, früher vorgefallen ist; kein Wort verlautet von seinen Besuchen in den Freudenhäusern, von seinen Abenteuern mit Stubenmädchen, Köchinnen und fremden Frauen. Wenn aber solche ›unanständigen‹ Romane dennoch existieren, so gibt man sie gerade denjenigen nicht in die Hand, die sie vor allem lesen sollten, nämlich – den jungen Mädchen.

Den jungen Mädchen wird zunächst einmal vorgeheuchelt, daß die Unsittlichkeit, die die Hälfte des Lebens unserer Städte und selbst unserer Dörfer ausfüllt, überhaupt gar nicht existiere. Dann gewöhnt man sie so sehr an diese Heuchelei, daß sie schließlich, wie die Engländer, allen Ernstes zu glauben beginnen, wir seien alle sehr moralische Menschen und lebten in einer sehr moralischen Welt. Die armen Mädchen glauben das wirklich steif und fest. Auch meine unglückliche Frau glaubte es. Ich erinnere mich, wie ich einmal als Verlobter ihr mein Tagebuch zeigte, aus dem sie wenigstens einiges aus meiner Vergangenheit erfahren konnte, namentlich über mein letztes Verhältnis, über das sie leicht auch von anderer Seite unterrichtet werden konnte, so daß ich es vorzog, sie selbst darüber einiges wissen zu lassen. Ich erinnere mich ihres Entsetzens, ihrer Verzweiflung, ihrer Verwirrung, als sie alles erfahren und begriffen hatte. Ich sah, daß sie damals mit mir brechen wollte. Ach, warum hat sie es nicht getan? . . .«

Er ließ wieder seinen Laut hören, schlürfte noch einen Schluck Tee und schwieg eine Weile.


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