Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XXIII

Ich halte es für überflüssig zu sagen, daß ich sehr ehrgeizig war. Wenn man in unserem gewöhnlichen Durchschnittsleben nicht ehrgeizig ist, fehlt es einem eigentlich an einem Lebenszweck. Nun, so machte ich mich denn am Sonntag mit all dem Geschmack, den ich besaß, an das Arrangement des Diners nebst anschließender musikalischer Abendunterhaltung. Ich selbst besorgte die meisten Einkäufe zum Essen und lud die Gäste ein. Um sechs Uhr versammelten sich die Gäste, und auch er erschien im Frack, mit brillantenen Manschettenknöpfen von schlechtem Geschmack. Er benahm sich ganz ungezwungen, gab seine Antworten rasch, mit einem Lächeln der Zustimmung und des Einverständnisses – jenem besonderen Lächeln, verstehen Sie, welches besagt, daß alles, was Sie tun oder reden mögen, gerade das ist, was er erwartet. Alles Unvornehme, das mir jetzt an ihm auffiel, vermerkte ich mit besonderem Wohlgefallen, da es mich beruhigen und mir zum Beweis dafür werden mußte, daß er für meine Frau auf einer viel zu niedrigen Stufe stand, auf die sie, wie sie sagte, sich nie herablassen könnte. Ich gestattete mir nun nicht mehr, den Eifersüchtigen zu spielen. Erstens hatte ich die Qualen dieser Leidenschaft schon zur Genüge kennen gelernt, so daß ich der Ruhe bedurfte, und zweitens wollte ich den Versicherungen meiner Frau Glauben schenken und glaubte ihnen in der Tat. Aber obschon ich nicht eifersüchtig sein wollte, war mein Benehmen beiden gegenüber doch recht unnatürlich, und während des Mittagessens wie auch während der ersten darauf folgenden Stunde, bevor noch die Vorträge begannen, hörte ich nicht auf, ihre Bewegungen und Blicke zu verfolgen.

Das Mittagessen hatte als solches etwas Langweiliges, Gespreiztes. Die musikalischen Vorträge begannen ziemlich früh. Ach, wie lebhaft mir die Einzelheiten dieses Abends noch vor Augen stehen! Ich erinnere mich, wie er die Geige hereinbrachte, den Geigenkasten abstäubte, die Decke mit Stickereien von Damenhand abnahm, das Instrument hervorholte und zu stimmen anfing. Ich erinnere mich, wie meine Frau mit erkünstelt-gleichgültiger Miene, hinter der sich, wie ich wohl merkte, eine große Ängstlichkeit wegen ihres geringen Könnens verbarg, am Klavier Platz nahm, wie vom Klavier die üblichen Pas und von der Geige das Pizzicato sich vernehmen ließen und die Noten verteilt wurden. Ich erinnere mich, wie sie dann einander ansahen und wie das Spiel begann. Er griff die ersten Akkorde. Sein Gesicht nahm einen ersten, strengen, sympathischen Ausdruck an, mit vorsichtigen Fingern tastete er über die Saiten. Das Klavier gab ihm Antwort. Und das Spiel fing an.«

Posdnyschew hielt inne und stieß ein paarmal hintereinander seinen Laut aus, wollte von neuem zu reden beginnen, brachte es jedoch nur zu einem Nasenschnauben und hielt wieder inne.

»Sie spielten Beethovens Kreutzersonate«, fuhr er dann fort. »Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es? Oh!« schrie er auf. »Oh, oh! Was für ein furchtbares Ding, diese Sonate, und zwar gerade dieser Teil! Und überhaupt die Musik – was für eine entsetzliche Sache! Was tut sie? Und warum tut sie eben das, was sie tut? Es heißt, die Musik erhebe die Seele – Unsinn, Lüge! Sie wirkt überaus stark, gewiß – ich spreche von mir – doch von einer seelischen Erhebung ist bei ihrer Wirkung nicht im geringsten die Rede; sie wirkt auf die Seele weder erhebend noch niederdrückend, sondern erregend. Wie soll ich es Ihnen sagen? Die Musik zwingt mich, mich selbst und das, was meine Wirklichkeit ist, zu vergessen, sie versetzt mich in eine andere Wirklichkeit, die nicht die meine ist; ich habe unter dem Einflusse der Musik den Eindruck, daß ich etwas fühle, was ich im Grunde genommen gar nicht fühle, etwas begreife, was ich nicht begreife, etwas vermag, was ich nicht vermag. Ich erkläre das damit, daß die Musik wie das Gähnen oder das Lachen wirkt: ich bin nicht schläfrig, doch ich gähne, wenn ich andere gähnen sehe; ich habe keinen Grund zum Lachen, doch ich lache, wenn ich andere lachen höre. Die Musik versetzt mich plötzlich, unmittelbar, in jenen seelischen Zustand, in dem sich der Urheber der Musik befunden hat. Unsere Seelen verschmelzen, und ich schwebe mit ihm zusammen aus dem einen Zustande in den andern hinüber. Warum ich das tue, weiß ich freilich nicht. Wer beispielsweise die Kreutzersonate geschrieben hat, Beethoven also – der wußte wohl, warum er sich in einen solchen veränderten Seelenzustand versetzte, er löste gewisse Handlungen bei ihm aus, und daher hatte dieser Zustandswechsel für ihn einen Sinn, für mich jedoch hat er keinen Sinn. So wirkt denn diese Musik zwar erregend, ohne aber zu einem Ergebnis zu führen. Ein Militärmarsch – nun ja, nach dem marschieren die Soldaten, damit hat diese Musik ihren Zweck erfüllt; eine Tanzmelodie – ich tanze danach, das Ergebnis ist da; der kirchliche Meßgesang – ich nehme das Abendmahl, auch hier dient die Musik einem Zweck; bei der bloßen Musik aber läuft alles nur auf die Erregung hinaus, und was in dieser Erregung getan werden soll, bleibt ungetan. Daher wirkt die Musik zuweilen so grausig, so entsetzlich. In China ist die Musik eine Staatsangelegenheit. Und das soll sie auch sein. Wie kann man zulassen, daß jeder beliebige Mensch seinen Nächsten – oder auch eine ganze Gesellschaft – hypnotisiert, um dann mit ihnen zu machen, was er will? Wie kann man vor allem zulassen, daß jeder beliebige unsittliche Mensch sich so als Hypnotiseur betätige?

Und dieses schreckliche Mittel befindet sich nun in jedermanns Händen. Nehmen wir beispielsweise eben diese Kreutzersonate, das erste Presto – darf man von Rechts wegen dieses Presto im Salon inmitten dekolletierter Damen spielen, die hinterher Beifall klatschen, Gefrorenes essen und über die letzte Skandalgeschichte plaudern? Solche Stücke sollten nur bei gewissen wichtigen, bedeutsamen Gelegenheiten gespielt werden, um gewisse, der Musik entsprechende, wichtige Handlungen auszulösen. Dem Spiel hat die Tat zu folgen, zu der die Musik begeistert hat. Die Erregung einer Gefühlsenergie jedoch, die sozusagen gegenstandslos bleibt und weder der Zeit noch dem Ort entspricht, kann nur verderblich wirken.

Auf mich wenigstens übte dieses Stück eine furchtbare Wirkung aus: es war mir, als ob sich mir neue Gefühlswelten, neue Möglichkeiten eröffneten, von denen ich bisher keine Ahnung gehabt. ›So also soll es sein – keineswegs so, wie ich bisher gedacht und gelebt, sondern so!‹ sprach gleichsam eine Stimme in meiner Seele. Was das Neue war, das ich erkannt hatte, davon vermochte ich mir noch keine Rechenschaft zu geben; doch das Bewußtsein dieses neuen Zustandes war von außerordentlich freudiger Art. Alle die Menschen ringsum, darunter auch meine Frau und er, erschienen mir in völlig neuem Lichte.

Nach diesem Presto spielten sie noch das schöne, aber nicht ungewöhnliche und nicht neue Andante mit den abgeschmackten Variationen und das ganz schwache Finale. Dann spielten sie noch auf Bitten der Gäste eine Elegie von Ernst und verschiedene andere kleine Sachen; alles das war hübsch, doch machte es auf mich nicht den hundertsten Teil des Eindrucks, den die erste Nummer des Programms hervorgebracht hatte. Alles das errang seinen Erfolg schon gleichsam auf dem Hintergrunde des Eindrucks, den das erste Stück hervorgerufen hatte. Ich war den ganzen Abend leicht und heiter gestimmt. Meine Frau hatte ich noch niemals so gesehen, wie sie an jenem Abend war: diese strahlenden Augen, dieser Ernst, dieser bedeutsame Ausdruck während des Spiels, die völlige Hingabe und das reiche, schmachtende, selige Lächeln am Ende des Spiels. Ich sah das alles, doch schrieb ich diese Wirkung derselben Ursache zu, die auch mich in ihren Bann gezogen hatte, und glaubte, daß auch ihr, wie mir, sich, gleichsam aus der Erinnerung wiedererstehend, eine Welt von neuen Gefühlen eröffnet hatte. Der Abend nahm ein gutes Ende, und die Gäste begaben sich nach Hause. Truchatschewskij wußte, daß ich zwei Tage später zur Kreisversammlung fahren mußte. Beim Abschied sagte er, daß er bei seinem nächsten Besuche in Moskau abermals das Vergnügen des heutigen Abends zu haben hoffe. Aus seinen Worten konnte ich schließen, daß er einen Besuch in meiner Abwesenheit für ausgeschlossen halte, was mir sehr erwünscht war. Da ich bis zu seiner Abreise von der Kreisversammlung nicht zurück sein konnte, sollten wir uns somit vorläufig nicht mehr sehen. Zum erstenmal drückte ich ihm mit aufrichtigem Vergnügen die Hand und dankte ihm für den mir bereiteten Genuß. Auch von meiner Frau nahm er endgültig Abschied, und ihr Abschied erschien mir als durchaus natürlich und jeder Zweideutigkeit bar. Alles war in bester Ordnung. Meine Frau war gleich mir von dem Abend sehr befriedigt.


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