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Der Kneipabend.

Obgleich ich, unter dem Einflusse Dmitrij stehend, mich noch nicht den üblichen studentischen Vergnügungen hingab, die man Kneipabende nannte, hatte ich doch schon in diesem Winter einmal Gelegenheit, einen solchen Abend mitzumachen, und ich empfing davon keinen allzu angenehmen Eindruck. Es war so:

Am Anfang des Jahres lud Baron S., ein schlanker, blonder junger Mann mit sehr ernstem Ausdrucke in dem regelmäßigen Gesichte, in einer Vorlesung uns alle zu einem Kollegenabend ein. Uns alle, d. h., alle Kommilitonen unseres Kurses, die mehr oder weniger comme il faut waren und unter denen sich natürlich weder Grapp, noch Ssemjonow, noch Operow, noch alle diese Herren befanden. Wolodja lächelte verächtlich, als er hörte, daß ich auf einen Kneipabend der Studenten des ersten Kurses ging; ich aber erwartete ein ganz ungewöhnliches und großes Vergnügen von diesem, mir noch völlig unbekannten Zeitvertreib und war pünktlich zur festgesetzten Stunde, um acht Uhr, bei Baron S.

Baron S., in offenem Gehrock und weißer Weste, empfing seine Gäste in dem erleuchteten Saal und dem Empfangszimmer des kleinen Hauses, das seine Eltern bewohnten, welche ihm für den Festabend ihre Paradezimmer überlassen hatten. Im Vorzimmer sah man die Kleider und die Köpfe neugieriger Dienstmädchen und im Speisezimmer schimmerte einmal das Kleid einer Dame auf, die ich für die Baronin selbst hielt. Es waren etwa zwanzig Gäste da, lauter Studenten außer Herrn Frost, der mit den Iwins gekommen war, und einem rotwangigen, schlanken Herrn in Zivil, der das Fest leitete und der allen als Verwandter des Barons und früherer Student der Universität Dorpat vorgestellt wurde. Die grelle Beleuchtung und die gewöhnliche, amtsmäßige Ausschmückung der Paradezimmer wirkten anfangs so erkältend auf diese ganze junge Gesellschaft, daß alle sich unwillkürlich an den Wänden herumdrückten, mit Ausnahme einiger kühner Burschen und des Dorpater Studenten, der, die Weste aufgeknöpft, zu gleicher Zeit in allen Zimmern und in jeder Ecke jedes Zimmers zu sein schien und den ganzen Raum mit seinem tönenden, angenehmen, nie verstummenden Tenor füllte. Die Kommilitonen schwiegen meist oder unterhielten sich bescheiden über die Professoren, die Studien, die Prüfungen, überhaupt über ernste und interessante Dinge. Alle ohne Ausnahme blickten auf die Tür des Speisezimmers und schienen, obgleich sie sich bemühten, das zu verbergen, sagen zu wollen: »Was ist denn? Es wäre Zeit anzufangen!« Auch ich fühlte, daß es Zeit wäre, »anzufangen«, und erwartete diesen Anfang mit freudiger Ungeduld.

Nach dem Tee, der von Lakaien umhergereicht wurde, wandte sich der Dorpater Student in russischer Sprache an Frost mit der Frage:

»Kannst du einen Punsch brauen, Frost?«

»O ja,« antwortete Frost auf deutsch, aber der Dorpater Student sagte wieder russisch:

»So mach' dich daran!« (Als Kommilitonen der Dorpater Universität sagten sie du zueinander.) Und Frost ging mit seinen ausgebogenen, muskulösen Beinen in großen Schritten aus dem Empfangs- in das Speisezimmer und wieder zurück, und bald erschien auf dem Tisch eine große Suppenschüssel, auf der, durch drei gekreuzte Studentendegen gestützt, ein zehnpfündiger Zuckerhut stand. Baron S. ging inzwischen unaufhörlich unter den Gästen, die sich im Empfangszimmer versammelt hatten und die Suppenschüssel betrachteten, umher und sagte mit unverändert ernstem Gesichte zu allen die gleichen Worte: »Nun, meine Herren, wir wollen nach Studentenart eine Runde auf Bruderschaft trinken; es fehlt ja bisher in unserem Kurse ganz an Kollegialität. Macht's euch bequem oder werft die Röcke ganz ab, so wie er.« Der Dorpater Student hatte in der Tat seinen Rock abgeworfen, die weißen Hemdärmel bis über die weißen Ellbogen zurückgestreift, stand mit gespreizten Beinen da und zündete schon den Rum in der Suppenschüssel an.

»Löscht die Lichte aus, meine Herren!« rief plötzlich der Dorpater Student so laut und scharf, als müßte er uns alle überschreien. Wir aber blickten wortlos auf die Suppenschüssel und auf die weißen Hemdärmel des Dorpater Studenten und fühlten, daß ein feierlicher Augenblick gekommen sei.

»Lösch' die Lichte aus, Frost!« rief der Dorpater Student nochmals, diesmal in deutscher Sprache, wohl weil er in Hitze geraten war. Frost und wir andern alle machten uns ans Löschen der Lichter. Im Zimmer wurde es dunkel, nur die weißen Hemdärmel und die Hände, die den Zuckerhut mit den Degen stützten, wurden von der bläulichen Flamme beleuchtet. Der laute Tenor des Dorpater Studenten war nicht mehr die einzige zu hörende Stimme, denn in allen Ecken des Zimmers ertönte jetzt Gespräch und Gelächter. Viele der Studenten warfen die Röcke ab (besonders die, welche feine und ganz frische Hemde hatten), ich tat dasselbe und begriff, daß es »angefangen« hatte. Obgleich ich es noch durchaus nicht lustig fand, war ich doch fest überzeugt, es werde herrlich werden, sobald nur jeder von uns ein Glas von dem Getränk, das da gebraut wurde, getrunken hätte.

Das Getränk war fertig. Der Dorpater Student füllte die Gläser, wobei er den ganzen Tisch mit Punsch betropfte, und schrie: »Nun los, meine Herren!« Als jeder von uns ein volles, klebriges Glas in die Hand genommen hatte, stimmten Frost und der Dorpater Student ein deutsches Lied an, in welchem der Ruf »Juchhee!« oft vorkam. Wir sangen alle im schönsten Durcheinander mit, stießen mit den Gläsern an, schrieen, lobten den Punsch und tranken uns mit dem süßen und starken Gebräu Bruderschaft zu. Es gab nichts mehr zu erwarten, das Trinkgelage war in vollem Gange. Ich hatte schon mein ganzes Glas geleert, man füllte es mir wieder aufs neue; in meinen Schläfen hämmerte es, das Licht erschien mir purpurrot; rund um mich her schrie und lachte alles, und dennoch erschien es mir nicht nur nicht lustig, sondern ich war sogar überzeugt, daß wir alle uns langweilten und es nur aus irgendwelchem Grunde für unerläßlich hielten, so zu tun, als wäre uns sehr lustig zumute. Der Dorpater Student war vielleicht der einzige, der nicht heuchelte: er wurde immer rotwangiger und allgegenwärtiger, füllte immer wieder die leeren Gläser nach und betropfte den Tisch so, daß er schließlich ganz süß und klebrig wurde. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Ereignisse jenes Abends und an deren Reihenfolge, ich weiß aber, daß ich den Dorpater Studenten und Frost sehr lieb gewann, daß ich ein deutsches Lied auswendig lernte und daß ich sie beide auf die süßklebrigen Lippen küßte; ich weiß auch noch, daß ich an jenem Abend den Dorpater Studenten haßte und einen Stuhl nach ihm schleudern wollte, mich aber bezwang; ich erinnere mich ferner, daß außer der Unbotmäßigkeit aller meiner Gliedmaßen, wie ich sie auch am Tage des Diners bei Jar empfunden hatte, Schwindel und Kopfweh sich einstellten, so daß ich die entsetzliche Angst bekam, im nächsten Moment sterben zu müssen; ich erinnere mich auch, daß wir uns alle, ich weiß nicht warum, auf den Fußboden setzten, mit den Armen durch die Luft fuchtelten, indem wir die Bewegung des Ruderns nachahmten, dazu sangen: »Stromabwärts auf Mütterchen Wolga,« und daß ich währenddessen dachte, daß wir das doch gar nicht zu tun brauchten; ich erinnere mich, daß ich, auf dem Boden liegend, Fuß an Fuß mit einem anderen, nach Zigeunerart mit ihm rang, irgend jemand den Hals verrenkte und dabei dachte, daß das nicht geschehen wäre, wenn er nicht betrunken gewesen wäre; ich erinnere mich, daß wir soupierten und etwas anderes tranken, daß ich hinausging, um mich zu erfrischen, und daß es mich am Kopfe fror; ich erinnere mich, daß es bei der Heimfahrt sehr finster war, daß das Trittbrett der Droschke schief und schlüpfrig geworden war und daß man sich an Kusjma gar nicht halten konnte, denn er war ganz schwach geworden und schwankte hin und her wie ein Fetzen; vor allem aber erinnere ich mich, daß ich während des ganzen Abends beständig fühlte, es sei sehr dumm von mir, mich so zu stellen, als fände ich's sehr lustig, als tränke ich gern so viel und als sei ich weit davon entfernt, betrunken zu sein; ich fand es auch von den anderen sehr dumm, daß sie dasselbe heuchelten. Ich glaubte, jedem einzelnen sei so unbehaglich zumute wie mir, doch in der Annahme, daß er allein dieses Unbehagen verspüre, halte ein jeder sich für verpflichtet, sich heiter zu stellen, um die allgemeine Lustigkeit nicht zu stören; außerdem – es klingt sonderbar – fühlte ich mich zu dieser Vorstellung schon deshalb verpflichtet, weil in der Suppenschüssel drei Flaschen Champagner zu 10 Rubel und zehn Flaschen Rum zu 4 Rubel enthalten waren, was ohne das Souper eine Summe von 70 Rubel ergab. Ich war so überzeugt von der allgemeinen Verstellung, daß ich am andern Tage in der Vorlesung ungemein verwundert war, als meine Kommilitonen, die den Abend bei Baron S. mitgemacht hatten, sich nicht nur nicht schämten, zu erwähnen, was sie dort getrieben hatten, sondern von dem Abend auch so erzählten, daß die andern Studenten es hören konnten. Sie behaupteten, es sei eine großartige Kneiperei gewesen, und die Dorpater seien Meister in solchen Dingen, und von zwanzig Mann seien vierzig Flaschen Rum vertrunken worden, und viele seien wie tot unter dem Tische liegen geblieben. Ich konnte es nicht begreifen, warum sie nicht nur von dem Trinkgelage sprachen, sondern sogar noch über sich selbst Lügen erzählten.


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