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Dmitrij.

Als wir vom Spaziergange ins Haus zurückkehrten, wollte Warenka nicht singen, was sie sonst des Abends zu tun pflegte, und ich war dermaßen von mir eingenommen, daß ich das auf meine Rechnung schrieb und mir einbildete, Ursache ihrer Weigerung sei das, was ich ihr auf der kleinen Brücke gesagt hatte. Die Nechljudows pflegten nicht zu soupieren und sich früh zurückzuziehen, und heute begaben ich und Dmitrij, der – wie Sofia Iwanowna vorhergesagt hatte – Zahnschmerzen bekam, uns noch früher als gewöhnlich auf sein Zimmer. Da ich überzeugt war, daß ich alles erfüllt hatte, was mein blauer Kragen und die Goldknöpfe von mir verlangten, und daß ich allen sehr gefallen hatte, befand ich mich in sehr angenehmer, selbstzufriedener Stimmung; Dmitrij dagegen war infolge des Streites und der Zahnschmerzen schweigsam und düster. Er setzte sich an den Tisch, holte seine Hefte hervor – ein Tagebuch und ein Heft, in dem er allabendlich einzutragen pflegte, was er getan hatte und was er tun wollte, – und schrieb darin recht lange unter beständigem Gesichterschneiden und Reiben der schmerzenden Backe.

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe!« schrie er das Stubenmädchen an, das im Auftrage von Sofia Iwanowna erschien, um zu fragen, wie es mit seinen Zahnschmerzen stehe, und ob er sich nicht einen heißen Umschlag machen wolle. Dann sagte er, daß mein Bett sofort hergerichtet sein werde und daß er gleich zurückkehren wolle, und ging zu Ljubow Ssergejewna.

»Wie schade, daß Warenka nicht hübsch und nicht Ssonitschka ist!« dachte ich, als ich allein geblieben war. »Wie schön wäre es doch, nach Beendigung der Universitätsstudien zu ihnen hinauszufahren und um ihre Hand anzuhalten! Ich würde sagen: Prinzessin, ich bin nicht mehr jung, ich kann nicht leidenschaftlich lieben, aber ich werde Sie immer gern haben wie eine liebe Schwester. Zur Mutter würde ich sagen: Sie achte ich sehr hoch, und zu Sofia Iwanowna: Glauben Sie mir, ich schätze Sie außerordentlich. Sagen Sie also offen und einfach, Prinzessin: wollen Sie meine Frau werden? – Ja. – Und sie würde mir die Hand reichen; ich würde die Hand drücken und sagen: Meine Liebe wird sich nicht in Worten zeigen, sondern in Taten. – »Wie aber«, ging es mir durch den Kopf, »wenn Dmitrij sich in Ljubotschka verliebte – sie ist ja auch in ihn verliebt – und sie heiraten wollte? Dann müßte einer von uns verzichten. Die griechische Kirche verbietet die Ehe zwischen verschwägerten Personen. (Anm. d. Übers.) Und das wäre vortrefflich. Dann würde ich so handeln: ich würde das sofort bemerken, aber nichts verraten, würde zu Dmitrij gehen und ihm sagen: Es wäre vergeblich, mein Freund, einander etwas verhehlen zu wollen; du weißt, daß meine Liebe zu deiner Schwester nur mit meinem Leben enden wird, aber ich weiß alles, du hast mich meiner schönsten Hoffnungen beraubt, du hast mich unglücklich gemacht; aber weißt du, wie Nikolaj Irtenjew sich für das Unglück eines ganzen Lebens rächt? Da hast du meine Schwester! – Und dabei würde ich ihm Ljubotschkas Hand reichen. Er würde sagen: Nein, nein, für nichts in der Welt! Aber ich würde antworten: Fürst Nechljudow, Sie versuchen vergeblich, großmütiger zu sein als Nikolaj Irtenjew; es gibt auf der ganzen Welt keinen Menschen, der großmütiger wäre als er! Würde mich verbeugen und gehen. Dmitrij und Ljubotschka würden mir in Tränen aufgelöst nacheilen und mich anflehen, ihr Opfer nicht zurückzuweisen. Und ich könnte es dann annehmen und könnte sehr glücklich sein, – wenn ich nur in Warenka verliebt wäre ...« Diese Träume waren mir so angenehm, daß ich große Lust hatte, sie meinem Freunde mitzuteilen, aber trotzdem wir uns gegenseitig Offenheit gelobt hatten, fühlte ich doch, daß die physische Möglichkeit fehlte, dies alles zu sagen.

Dmitrij kehrte von Ljubow Ssergejewna mit Zahntropfen zurück, die sie ihm gegeben hatte; er litt noch stärkere Schmerzen und war infolgedessen noch schlechter gelaunt. Mein Bett war noch nicht bereitet, und der Bursche, der Dmitrij bediente, kam fragen, wo ich schlafen würde.

»Scher dich zum Teufel!« schrie Dmitrij ihn an und stampfte mit dem Fuße. Aber kaum war der Bursche hinaus, als Dmitrij mit immer lauterer Stimme rief: »Waßjka! Waßjka! Waßjka! Richt' mir auf dem Fußboden ein Lager her.«

»Nein,« sagte ich, »lieber will ich auf dem Fußboden schlafen.«

»Na einerlei, bette irgendwo auf!« fuhr Dmitrij in demselben zornigen Tone fort, »Waßjka, warum machst du denn das Bett nicht?«

Aber Waßjka begriff offenbar nicht, was man von ihm verlangte, und stand unbeweglich da.

»Na, was ist denn? Mach' das Bett, das Bett! Waßjka! Waßjka!« schrie Dmitrij, der plötzlich in unsinnige Wut geriet.

Doch Waßjka verstand noch immer nicht, und blieb eingeschüchtert stehen.

»Du hast dich also verschworen, mich umzu – mich rasend zu machen?«

Und Dmitrij sprang vom Stuhle auf, rannte auf den Burschen zu und schlug ihn mehrmals mit der Faust auf den Kopf, bis Waßjka aus dem Zimmer flüchtete. An der Tür stehen bleibend, blickte Dmitrij sich nach mir um, und der Ausdruck der Wut und Grausamkeit, der einen Augenblick vorher auf seinem Gesichte gelegen hatte, wich einem so sanften, beschämten, liebevollen und kindlichen Ausdruck, daß er mir leid tat, und so gern ich mich abgewendet hätte, konnte ich's doch nicht über mich bringen, es zu tun. Er sprach kein Wort zu mir, sondern schritt lange schweigend im Zimmer auf und ab, mir hier und da einen um Verzeihung bittenden Blick zuwerfend, dann nahm er ein Heft aus der Tischlade, schrieb etwas hinein, zog seinen Rock aus, legte ihn ordentlich zusammen, trat in die Ecke, in der das Heiligenbild hing, faltete seine großen weißen Hände über der Brust und begann zu beten. Er betete so lange, daß Waßjka inzwischen Zeit hatte, eine Matratze zu bringen, und auf dem Fußboden aufbetten konnte, wie ich ihn flüsternd anwies. Ich entkleidete mich und legte mich auf das Lager am Fußboden, Dmitrij aber betete noch immer. Während ich seinen etwas gebeugten Rücken und seine Sohlen betrachtete, die sich mir gleichsam demütig zukehrten, wenn er niederkniete, liebte ich Dmitrij noch mehr als bisher und überlegte immer wieder: »Soll ich ihm erzählen oder nicht, was ich mir in Bezug auf unsere Schwestern ausgemalt habe?« – Als Dmitrij sein Gebet verrichtet hatte, legte er sich neben mir nieder, stützte den Kopf in die Hand und sah mich lange mit freundlichem, beschämtem Blick schweigend an. Das fiel ihm sichtlich schwer, aber er schien sich selbst damit strafen zu wollen. Ich sah ihn an und lächelte. Er lächelte ebenfalls.

»Warum sagst du mir denn nicht, daß ich häßlich gehandelt habe?« fragte er, »du hast doch eben daran gedacht?«

»Ja,« erwiderte ich, obgleich das nicht wahr war, aber es schien mir jetzt, als hätte ich wirklich daran gedacht; »ja, es war sehr häßlich und ich hätte das nie von dir erwartet,« sprach ich und empfand dabei ein besonderes Vergnügen, zu ihm du sagen zu dürfen. »Was machen deine Zahnschmerzen?« fügte ich hinzu.

»Die sind vorüber. – Ach Nikolenka, mein Freund,« sagte Dmitrij so weich, daß ich in seinen glänzenden Augen Tränen zu sehen meinte, »ich fühle und weiß, wie schlecht ich bin, und Gott weiß, wie ich mich danach sehne, wie ich ihn bitte, daß er mich besser mache; aber was soll ich anfangen, wenn ich so einen unglückseligen, widerwärtigen Charakter habe? Was soll ich denn anfangen? Ich gebe mir Mühe, mich zu beherrschen, mich zu bessern, aber das geht doch nicht so plötzlich und durch meine eigene Kraft. Ich brauche jemand, der mir zur Seite steht, mir hilft. Da ist nun Ljubow Ssergejewna, sie versteht mich und hat mir in dieser Beziehung schon viel geholfen. Ich weiß aus meinen Aufzeichnungen, daß ich mich im Laufe des Jahres schon sehr gebessert habe. Ach Nikolenka, mein Herz,« fuhr er mit ganz ungewohnter Zärtlichkeit und in ruhigerem Tone nach diesem Geständnis fort, »was ist es doch Großes um den Einfluß einer solchen Frau wie sie! Mein Gott, wie schön kann es werden, wenn ich erst selbständig bin, mit einer solchen Freundin zur Seite wie sie! In ihrer Gegenwart bin ich ein völlig anderer Mensch.«

Und dann begann Dmitrij, mir seine Zukunftspläne zu entwerfen: Heirat, Landleben und beständige Arbeit an sich selbst.

»Ich werde auf dem Lande leben, du wirst mich besuchen, wirst vielleicht mit Ssonitschka verheiratet sein,« sprach er, »unsere Kinder werden zusammen spielen. Das alles erscheint jetzt zwar lächerlich und dumm, kann aber doch geschehen.«

»Natürlich, sehr gut sogar!« erwiderte ich lächelnd und gleichzeitig daran denkend, daß es doch noch schöner wäre, wenn ich seine Schwester heiratete.

»Weißt du, was ich dir sagen werde,« sprach er nach kurzem Schweigen, »du bildest dir ja nur ein, daß du in Ssonitschka verliebt bist; wie ich sehe, sind das Dummheiten, und du weißt noch gar nicht, was ein echtes Gefühl ist.«

Ich antwortete nicht, da ich ihm beinahe recht gab. Wir schwiegen eine Weile.

»Du hast gewiß bemerkt, daß ich heute wieder in böser Laune war und mit Warja in häßlicher Weise stritt. Es war mir nachher entsetzlich unangenehm, besonders, weil's in deiner Gegenwart geschah. Wenn sie auch über viele Dinge falsche Ansichten hat, so ist sie doch ein prächtiges Mädchen und sehr gut; du wirst sie ja näher kennen lernen.«

Der Übergang in seinen Reden von der Bemerkung, daß ich nicht verliebt sei, zum Lobe seiner Schwester erfreute mich ungemein und ließ mich erröten, aber ich sagte ihm dennoch kein Wort über seine Schwester, und wir sprachen weiter von anderen Dingen.

So plauderten wir bis zum zweiten Hahnenschrei, und die blasse Morgenröte blickte bereits durchs Fenster, als Dmitrij sein Bett aufsuchte und das Licht auslöschte.

»Na, jetzt muß man schlafen,« sagte er.

»Ja,« antwortete ich, »nur ein Wort noch!«

»Nun?«

»Ist das Leben nicht schön?« sagte ich.

»Das Leben ist schön,« erwiderte er mit solchem Ausdruck, daß ich trotz der Dunkelheit seine fröhlichen, schmeichelnden Augen und sein kindliches Lächeln zu sehen meinte.


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