Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Universität.

Die Hochzeit sollte nach zwei Wochen stattfinden, aber unsere Vorlesungen begannen, und Wolodja und ich reisten daher anfangs September nach Moskau ab. Nechljudows kehrten ebenfalls vom Lande zurück. Dmitrij (mit dem wir beim Abschied das Versprechen gewechselt hatten, einander regelmäßig zu schreiben, natürlich ohne es auch nur ein einziges Mal getan zu haben) kam sogleich zu mir, und wir beschlossen, daß er mich am nächsten Tage in die Universität einführen sollte.

Es war ein heller, sonniger Tag.

Sobald ich den Hörsaal betrat, fühlte ich, wie meine Persönlichkeit in dieser Menge junger, fröhlicher Gesichter verschwand, in dieser Menge, die im hellen Sonnenlichte, das durch die großen Fenster fiel, lärmend durch alle Türen hereinströmte und in den Korridoren wogte. Das Bewußtsein, ein Glied dieser ungeheuren Gemeinschaft zu sein, war sehr angenehm. Aber unter all diesen Gesichtern waren nur wenige, die mir bekannt waren, und selbst bei diesen beschränkte sich die Bekanntschaft auf ein Kopfnicken und auf die Worte: »Guten Tag, Irtenjew!« Rings um mich her aber drückte man einander die Hand, stieß man sich mit den Ellenbogen an; Worte der Freundschaft, Gelächter, Scherze schwirrten von allen Seiten durch die Luft. Überall machte sich das Band bemerkbar, das diese ganze junge Schar vereinigte, und ich fühlte mit Schmerz, daß dieses Band mich nicht mit einschloß. Aber das war nur ein momentaner Eindruck, der im Verein mit dem Ärger, den er hervorrief, nur bewirkte, daß ich bald fand, es sei sehr gut, nicht zu dieser ganzen Gesellschaft zu gehören, und ich müsse einen eigenen Kreis von anständigen Leuten um mich haben; ich setzte mich daher auf die dritte Bank, auf welcher Graf B., Baron S., Fürst R., Iwin und noch ein paar Herren derselben Art saßen, von denen ich Iwin und den Grafen B. persönlich kannte. Aber auch diese Herren behandelten mich so, daß ich fühlte, ich gehöre nicht ganz zu ihrer Gesellschaft. Ich begann alles zu beobachten, was um mich her vorging. Ssemjonow mit seinem zerzausten grauen Haar und den weißen Zähnen saß in aufgeknöpftem Rock, die Arme aufgestützt, nicht weit von mir und nagte an seiner Feder. Der Gymnasiast, der die Prüfung als Erster bestanden hatte, saß in der ersten Bank; er trug immer noch eine schwarze Binde um die Wange und spielte mit dem silbernen Schlüsselchen seiner Uhr auf der Atlasweste. Ikonin, der trotz allem auch die Universität bezogen hatte, saß in blauen Beinkleidern mit einem Vorstoß, der den ganzen Stiefel bedeckte, auf der obersten Bank, lachte laut und schrie, er sitze auf dem Parnaß. Ilinka, der mich zu meiner Verwunderung nicht nur kühl, sondern sogar geringschätzig gegrüßt hatte, als wollte er mich daran erinnern, daß wir hier alle gleich seien, saß vor mir, streckte seine mageren Beine ungeniert auf die Bank (wie es mir schien, mir zum Trotz), unterhielt sich mit einem anderen Studenten und blickte nur selten zu mir herüber. Neben mir sprach Iwins Gesellschaft französisch. Diese Herren erschienen mir entsetzlich dumm. Jedes Wort, das ich von ihrem Gespräch auffing, erschien mir nicht nur sinnlos, sondern auch falsch, einfach gar nicht französisch ( ce n'est pas français, sagte ich in Gedanken zu mir selbst), die Posen, Reden und Gebärden Ssemjonows, Ilinkas und der andern dagegen erschienen mir unvornehm, unziemlich, nicht comme il faut.

Ich gehörte keiner Kameraderie an, und da ich meine Einsamkeit und meine Unfähigkeit zur Annäherung empfand, ärgerte ich mich. Ein Student auf der Bank vor mir nagte an seinen Fingernägeln, die voll roter Nietnägel waren, und das erschien mir dermaßen widerlich, daß ich sogar den Platz wechselte, um weiter entfernt von ihm zu sein. Mein Herz war an diesem ersten Tage, wie ich mich erinnere, sehr schwer.

Als der Professor eintrat und alle sich zurechtsetzten und verstummten, dehnte ich meine satirischen Betrachtungen auch auf den Professor aus, und es fiel mir auf, daß er die Vorlesung mit einer einleitenden Phrase begann, die nach meiner Meinung gar keinen Sinn hatte. Ich verlangte, die Vorlesung solle vom Anfang bis zum Ende so klug gehalten sein, daß man kein einziges Wort wegnehmen und kein einziges hinzufügen dürfte. Enttäuscht zeichnete ich sofort unter dem Titel »Erste Vorlesung« in das mitgebrachte, hübsch gebundene Heft achtzehn Profile, die sich in Form einer Blume zum Kreise vereinigten, und fuhr nur zuweilen mit der Hand über das Papier, damit der Professor (der, wie ich überzeugt war, sich viel mit mir beschäftigte), denken sollte, ich schriebe nach. Da ich in dieser Vorlesung zu dem Schlusse kam, es wäre unnötig oder sogar dumm, alles nachzuschreiben, was jeder beliebige Professor sagen würde, befolgte ich diesen Grundsatz bis zum Ende des Kurses.

In den folgenden Vorlesungen fühlte ich mich nicht mehr so einsam; ich machte viele Bekanntschaften, tauschte Händedrücke aus, plauderte, aber eine wirkliche Annäherung fand zwischen mir und den Kameraden dennoch nicht statt, und oft noch war ich im Herzen traurig und zur Heuchelei gezwungen. Mit der Gesellschaft Iwins und der Aristokraten, wie sie allgemein genannt wurden, konnte ich mich nicht befreunden, weil ich, wie ich mich noch jetzt erinnere, gegen sie grob und unhöflich war und sie nur dann grüßte, wenn sie mich zuerst grüßten, sie aber empfanden offenbar gar kein Bedürfnis nach dem Verkehr mit mir. Bei der Mehrzahl der andern lag der Grund meines Fremdseins ganz wo anders: sobald ich fühlte, daß einer der Kameraden mir freundlich gesinnt war, gab ich ihm zu verstehen, daß ich beim Fürsten Iwan Iwanowitsch dinierte und eine eigene Droschke besaß. Ich erzählte das alles nur, um mich in noch günstigerem Lichte zu zeigen und dem Kameraden noch lieber zu werden; aber anstatt dessen wurde fast jeder Kamerad, sobald er von meiner Verwandtschaft mit dem Fürsten Iwan Iwanowitsch und von meinem eigenen Wagen gehört hatte, plötzlich stolz und kühl gegen mich.

Es war da unter uns ein Student Operow, der auf Staatskosten studierte, ein bescheidener, sehr fähiger und fleißiger junger Mann, der die Hand wie ein Brett zu reichen pflegte, ohne sie zu bewegen oder die Finger zu krümmen, so daß die lustigen Brüder unter den Kameraden ihm zuweilen nachahmten und diese Art des Händereichens »das Brettchen« nannten. Ich setzte mich fast immer neben ihn und plauderte oft mit ihm. Operow gefiel mir besonders wegen der freien Ansichten, die er über die Professoren äußerte. Er präzisierte sehr klar und scharf die Vorzüge und die Mängel der Vortragsweise eines jeden Professors und machte sich zuweilen sogar lustig über sie, was auf mich besonders seltsam und überraschend wirkte, da er es mit seinem leisen, aus einem winzigen Mündchen kommenden Stimmchen sagte. Dessenungeachtet schrieb er mit seiner feinen Handschrift sorgfältig alle Vorlesungen ohne Ausnahme nach. Wir fingen schon an, uns zu befreunden, verabredeten, gemeinsam zu studieren, und seine kleinen, grauen, kurzsichtigen Äuglein blickten mir schon mit Wohlgefallen entgegen, wenn ich mich neben ihm auf meinen Platz niederließ. Aber ich hielt es für nötig, ihm einst im Gespräch mitzuteilen, daß meine Mama vor ihrem Tode meinen Vater gebeten hatte, er möge uns nicht in eine staatliche Erziehungsanstalt geben, und daß alle Zöglinge solcher Anstalten vielleicht sehr gelehrt sein können, für mich aber – durchaus nicht das Rechte seien; » Ce ne sont pas des gens comme il faut,« sagte ich stotternd und fühlte, daß ich dabei errötete. Operow antwortete nicht, grüßte mich in Zukunft aber nicht mehr zuerst, reichte mir nicht mehr sein »Brettchen«, plauderte nicht mit mir, und wenn ich mich auf meinen Platz setzte, neigte er den Kopf auf seine Hefte und tat, als lese er darin. Ich wunderte mich über seine grundlose Kälte gegen mich, aber pour un jeune homme de bonne maison hielt ich es für unpassend, einen Stipendiaten Operow auszufragen, und ließ ihn in Ruhe, obgleich, wie ich gestehe, sein verändertes Wesen mir weh tat. Einmal kam ich vor ihm, und da es die Vorlesung eines beliebten Professors war, zu der sich viele Studenten einfanden, die sonst nicht zu kommen pflegten, so daß alle Plätze besetzt waren, wählte ich mir Operows Platz, legte meine Hefte aufs Pult und ging hinaus. Als ich in den Hörsaal zurückkehrte, entdeckte ich, daß meine Hefte auf die letzte Bank gelegt waren; auf meinem Platze aber saß Operow. Ich sagte ihm, daß ich meine Hefte auf diesen Platz gelegt hätte.

»Ich weiß nichts davon,« sagte er auffahrend, ohne mich anzusehen.

»Ich sage Ihnen, ich habe meine Hefte hier hergelegt,« erklärte ich, absichtlich hitzig werdend, da ich glaubte, ihn durch meine Kühnheit einzuschüchtern; »alle haben es gesehen,« fügte ich hinzu, indem ich die andern Studenten anblickte, aber obgleich viele von ihnen mich neugierig betrachteten, antwortete doch niemand.

»Hier werden die Plätze nicht gekauft, und wer zuerst kommt, der setzt sich,« sprach Operow, sich ärgerlich zurechtsetzend und mich einen Moment lang mit empörten Blicken ansehend.

»Das heißt also, Sie sind ein unhöflicher Mensch,« sagte ich.

Ich glaube, Operow murmelte etwas, ich glaube sogar, er murmelte: »Und du bist ein dummer Bengel!« aber ich hörte es entschieden nicht. Und was hätte es denn auch genützt, wenn ich es gehört hätte? Sollten wir uns Grobheiten sagen wie xbeliebige manants und sonst nichts? (Ich liebte das Wort manants sehr, es war mir Antwort und Lösung für viele verwickelte Beziehungen.) Vielleicht hätte ich noch etwas gesagt, aber in dem Augenblick ging die Tür und der Professor schritt in blauem Frack, nach allen Seiten grüßend, aufs Katheder zu.

Vor dem Examen aber, als ich die Hefte brauchte, erinnerte Operow sich seines Versprechens, bot mir seine Hefte an und lud mich ein, mit ihm gemeinsam zu arbeiten.


 << zurück weiter >>