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Jugend.

Trotz einer gewissen Begriffsverwirrung in meinem Kopf war ich in jenem Sommer jung, unschuldig, frei und somit beinahe glücklich.

Zuweilen, und zwar recht häufig, stand ich früh auf. (Ich schlief in freier Luft auf der Terrasse, und die hellen, schrägen Strahlen der Morgensonne weckten mich.) Ich zog mich schnell an, nahm ein Handtuch und einen französischen Roman unter den Arm und ging zum Fluß hinab, um im Schatten des Birkenwäldchens zu baden, das etwa eine halbe Werst vom Hause entfernt war. Dort warf ich mich im Schatten ins Gras und las, die Augen nur selten vom Buche losreißend, um einen Blick zu werfen auf die violett beschattete Wasserfläche, die sich im Morgenwinde kräuselte, auf das Feld gelblichen Roggens am andern Ufer, auf den hellroten Schein der Morgenstrahlen, der niedriger und niedriger die weißen Stämme der Birken beleuchtete, die, sich eine hinter der andern verbergend, im fernen Waldesdickicht meinen Blicken entschwanden; ich ergötzte mich an dem Gefühl der gleichen frischen, jungen Lebenskraft, welche die Natur ringsumher atmete. Wenn am Himmel graue Morgenwölkchen standen und ich nach dem Bade fröstelte, wanderte ich oft ohne Weg und Steg durch Felder und Wälder, und fühlte mit Behagen, wie der frische Tau durch die Stiefel drang und meine Füße näßte. Dabei dachte ich lebhaft an die Helden des zuletzt gelesenen Romanes, sah mich bald als Feldherrn, bald als Minister, dann wieder als außergewöhnlichen Kraftmenschen oder als leidenschaftlichen Mann, und mit einem gewissen Bangen blickte ich fortwährend nach allen Seiten, in der Hoffnung, irgendwo auf der Waldwiese oder hinter einem Baum plötzlich sie zu entdecken. Wenn ich auf solchen Wanderungen Bauern und Bäuerinnen bei der Arbeit traf, überkam mich stets, obgleich das »einfache Volk« für mich nicht existierte, eine unbewußte, heftige Verwirrung, und ich bemühte mich, unbemerkt zu bleiben. – Wenn es schon heiß wurde, unsere Damen aber noch nicht zum Tee erschienen, ging ich oft in den Gemüse- oder Obstgarten, um die reifenden Früchte und Gemüse zu verzehren. Und diese Beschäftigung bildete für mich eines der Hauptvergnügungen. Da dringe ich denn manchmal bis in die Mitte des hohen, verwachsenen, dichten Himbeergesträuches im Obstgarten; über mir der helle, heiße Himmel, um mich herum das blaßgrüne, stechende Blattwerk der Himbeerstauden, unter die sich wildes Gesträuch und Unkraut mischt. Die dunkelgrüne Brennessel mit dem dünnen, blühenden Wipfel streckt sich schlank in die Höhe; der stachliche Distelstrauch reckt seine unnatürlich violetten, stechenden Blüten über die Himbeerbüsche und über meinen Kopf hinaus und reicht hier und da gleich den Nesseln bis zu den herabhängenden, blaßgrünen Zweigen der alten Apfelbäume, auf denen hoch oben glänzende, runde, noch grüne Äpfel in der Sonnenglut reifen. Unten schlängelt sich eine junge, fast trockene, blattlose Himbeerstaude der Sonne entgegen, frische, spitze Grashalme und junge Klettenblätter, die zwischen dem vorigjährigen Laub hervordringen, grünen, vom Tau getränkt, saftig in beständigem Schatten, als ahnten sie nichts von dem hellen Sonnenglanz auf den Blättern des Apfelbaumes.

In diesem Dickicht ist es immer feucht, riecht es nach undurchdringlichem, immerwährendem Schatten, nach Spinngewebe, nach Fallobst, das halbverfault auf der feuchten Erde umherliegt, nach Himbeeren, zuweilen auch nach Blattwanzen, die ich unversehens mit einer Beere verschlucke, worauf ich schnell eine andere Beere esse. Indem ich weiter vordringe, schrecke ich Sperlinge auf, die in diesem Dickicht nisten, ich höre ihr geschäftiges Zwitschern und das Anschlagen der kleinen schnellen Flügel an die Zweige, ich höre immer am gleichen Ort das Summen einer dicken Biene, ich höre irgendwo auf den Gartenwegen die Schritte des Gärtners, des dummen Akim, und sein ewiges Vorsichhinmurmeln. Ich denke mir: Nein! weder er noch sonst jemand auf der ganzen Welt kann mich hier finden! Mit beiden Händen, von rechts und von links, nehme ich die saftigen Beeren von den weißen, kegelförmigen Stengeln und verschlucke mit Genuß eine nach der andern. Die Füße sind mir bis übers Knie durch und durch naß, der Kopf ist voll von dem entsetzlichsten Unsinn (ich wiederhole zum Beispiel in Gedanken Tausende von Malen: zu-u-u zwa-a-an-zi-i-ig u-u-und zu-u-u sieben!), Arme und Beine sind durch die durchnäßten Kleider hindurch von Nesseln verbrannt; die senkrecht durch das Dickicht fallenden Sonnenstrahlen machen meinen Kopf glühen, ich habe längst keine Lust mehr, Beeren zu essen, sitze aber immer noch im Gebüsch, blicke um mich, horche, sinne, pflücke mechanisch die schönsten Beeren und verschlucke sie.

Gegen elf Uhr kam ich gewöhnlich in den Salon, meist nach dem Tee, wenn die Damen bereits bei ihren Arbeiten saßen. Beim ersten Fenster mit dem herabgelassenen Rouleau aus ungebleichter Leinwand, durch dessen Spalten die helle Sonne auf alles, was ihr in den Weg kommt, leuchtende Feuerringe wirft, so daß die Augen schmerzen, wenn man hinschaut, – steht ein Stickrahmen, über dessen weißes Linnen die Fliegen langsam spazieren. An diesem Rahmen sitzt Mimi, wirft immer wieder ärgerlich den Kopf zurück und rückt von einem Platz zum andern, um vor der Sonne zu flüchten, die, plötzlich hervorbrechend, bald hier bald dort feurige Streifen auf Mimis Gesicht oder Hände wirft. Durch die drei anderen Fenster zeichnen sich mit dem Schatten der Rahmen die vollen, sonnigen Vierecke auf dem ungestrichenen Fußboden ab; auf einem davon liegt ihrer alten Gewohnheit gemäß Milka und schaut, die Ohren spitzend, den auf dem hellen Viereck hin- und herkriechenden Fliegen zu. Katjenka sitzt allein auf dem Divan, häkelt oder liest und schlägt dann und wann ungeduldig mit ihren weißen, im hellen Licht durchsichtig schimmernden Händchen um sich oder schüttelt stirnrunzelnd das Köpfchen, um eine Fliege zu verjagen, die sich in das dichte Goldhaar verirrt hat. Ljubotschka geht, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab und wartet darauf, daß alle in den Garten gehen, oder sie spielt auf dem Klavier irgend ein Stück, von dem ich längst jeden Ton kenne. Ich suche mir einen beliebigen Platz, höre der Musik oder dem Vorlesen zu und warte auf den Augenblick, wo ich selbst mich ans Klavier setzen kann. – Nachmittags erweise ich den Mädchen manchmal die Ehre, mit ihnen spazieren zu reiten (zu Fuß zu gehen halte ich für unvereinbar mit meinen Jahren und meiner Stellung in der Welt), und diese Spazierritte, bei denen ich sie über ungewöhnliche Wege und durch Schluchten führe, pflegen sehr angenehm zu sein. Wir erleben manchmal Abenteuer, bei denen ich mich als tapfrer Bursche zeigen kann, die Damen loben meine Art zu reiten und meine Kühnheit und betrachten mich als ihren Beschützer. Am Abend, wenn keine Gäste da sind, nach dem Tee, den wir in der schattigen Galerie nehmen, und nach einem Rundgang durch die Wirtschaft mit Papa, nehme ich meinen alten Platz im Voltäresessel ein, höre dem Klavierspiel der Mädchen zu, lese und träume dabei wie in früheren Tagen. Zuweilen, wenn ich im Salon allein geblieben bin, während Ljubotschka irgend eine alte Melodie spielt, lasse ich unwillkürlich das Buch sinken, starre durch die offene Balkontür in die wirren, hängenden Zweige der hohen Birken, auf denen schon der Abendschatten ruht, und in den klaren Himmel, an welchem, wenn man unverwandt hinblickt, gelbliche Staubflecken plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, und lausche auf die aus dem Saal herübertönende Musik, auf das Knarren der Pforte, die Stimmen der Weiber und der heimkehrenden Herden im Dorf, und plötzlich kommt mir lebhaft die Erinnerung an Natalia Ssawischna, an maman, an Karl Iwanowitsch, und Wehmut ergreift mich. Aber meine Seele ist jetzt so voller Leben und Hoffnung, daß die Erinnerung mich nur mit leisem Flügel streift und weiterschwebt.

Nach dem Abendessen und einem jeweiligen nächtlichen Spaziergange mit irgend jemand durch den Garten – allein fürchtete ich mich durch die dunklen Alleen zu gehen – legte ich mich in der Galerie auf dem Fußboden schlafen, was mir trotz der Millionen von Nachtmücken, die mich ganz zerstachen, großes Vergnügen bereitete. Bei Vollmond verbrachte ich oft die ganzen Nächte aus meiner Matratze sitzend, Licht und Schatten beobachtend, der Stille und den einzelnen Nachttönen lauschend, allerlei Träume spinnend, besonders Träume von poesievollem, leidenschaftlichem Glück, das mir damals als das höchste Gut des Lebens erschien und das ich zu meinem Schmerz bisher nur in der Einbildung kannte. Sobald alle sich zurückgezogen hatten und das Licht aus dem Salon in die oberen Zimmer gewandert war, aus denen nun der Klang weiblicher Stimmen und das Geräusch des Schließens und Öffnens der Fenster drangen, pflegte ich mich in die Galerie zu begeben und in ihr auf- und niederzuschreiten, gierig auf jeden Laut des einschlummernden Hauses horchend.

Das Licht verlöscht in den oberen Fenstern, der Klang der Schritte und Stimmen weicht Schnarchtönen, der Nachtwächter klappert mit seinem Klapperholz, der Garten wird düsterer und doch auch heller, sobald die aus den Fenstern fallenden rötlichen Lichtstreifen verschwinden und das letzte Licht aus dem Speisezimmer in den Flur wandert, von wo es einen Lichtstreifen in den taufeuchten Garten wirft; ich erblicke durchs Fenster die gebückte Gestalt Fokas, der in einer Jacke, mit dem Licht in der Hand, auf sein Bett zuschreitet. Oft fand ich Vergnügen daran, mich im dunklen Schatten des Hauses über das feuchte Gras bis unter das Flurfenster zu schleichen und mit verhaltenem Atem dem Schnarchen des Burschen, dem Hüsteln Fokas, der sich unbeobachtet wähnte, und dem Klang seiner altersmüden Stimme zu lauschen, während er lange, lange Gebete hersagte. Endlich erlosch auch sein Licht als das letzte im Hause, ich war ganz einsam und rannte, mich scheu nach allen Seiten umblickend, ob nicht irgendwo hinter einem Blumenbeet oder hinter meinem Lager eine weiße Gestalt auftauche, im Trabe zur Galerie zurück. Dann warf ich mich auf meine Matratze, das Gesicht dem Garten zugewandt, schützte mich mit der Decke so gut es ging vor den Mücken und Fledermäusen, blickte in den Garten hinaus, horchte auf die Laute der Nacht und träumte von Liebe und Glück.

Dann erhielt alles für mich eine andere Bedeutung: die alten Birken, die von einer Seite auf dem mondhellen Himmel mit ihren wirren Zweigen glänzten, während sie auf der andern Sträucher und Wege mit ihren schwarzen Schatten bedeckten; der ruhige, prächtige, gleichmäßig werdende Glanz des Weihers, der Mondschimmer in den Tautropfen der Blumen vor der Galerie, die ihre graziösen Schatten quer über die grauen Rabatten warfen, der Wachtelschlag jenseits des Teiches und die Stimme eines Wanderers von der Landstraße her, das leise, kaum hörbare Knarren zweier alter Birken, die aneinander stießen, das Summen der Mücke an meinem Ohr unter der Decke, das Herabfallen eines Apfels auf das dürre Laub, die Sprünge der Frösche, die oft bis an die Stufen der Terrasse herangehüpft kamen und deren grünliche Rücken so geheimnisvoll im Mondlichte schimmerten, – all das bekam für mich eine seltsame Bedeutung, die Bedeutung einer überwältigenden Schönheit und eines grenzenlosen Glückes. Und ich träumte von einer wunderschönen, schwarzhaarigen, stets traurigen »Sie«, die mich liebte und bereit war, ihr Leben für mich hinzugeben. – Aber der Mond stieg höher und höher am Himmel hinauf und leuchtete heller und heller, der prächtige, gleichmäßig wie ein Ton anschwellende Glanz des Weihers wurde stärker und stärker, der Schatten dunkler und dunkler, das Licht immer durchsichtiger, und während ich das alles sah und beobachtete, sprach etwas in mir, daß »sie« noch lange nicht das eigentliche Glück, daß die Liebe zu ihr noch lange nicht das wahre Heil sei; und je länger ich den vollen, hochstehenden Mond anblickte, desto erhabener erschienen mir das eigentliche Glück und das wahre Heil, erhabener, reiner und näher zu ihm, dem Urquell alles Schönen und Guten, und Tränen einer seltsamen, unbefriedigenden, aber aufregenden Freude traten mir in die Augen.


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