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Auf dem Lande.

Am folgenden Tage fuhren Wolodja und ich mit der Post aufs Land. Unterwegs, während ich die verschiedenen Moskauer Erinnerungen in meinem Kopfe ordnete, erinnerte ich mich auch an Ssonitschka Walachin, aber erst am Abend, als wir schon fünf Stationen hinter uns hatten. »Eigentlich ist's doch sonderbar,« dachte ich, »daß ich verliebt bin und das ganz vergessen habe. Ich muß an sie denken.« Und ich begann an sie zu denken, wie man so auf der Reise zu denken pflegt, unzusammenhängend, aber lebhaft, und ich dachte mich so hinein, daß ich nach unserer Ankunft auf dem Lande es noch zwei Tage für notwendig hielt, traurig und nachdenklich vor allen Hausgenossen zu erscheinen und besonders vor Katjenka, die ich für eine große Kennerin in Sachen dieser Art hielt und der ich eine Andeutung über den Zustand machte, in dem sich mein Herz befand. Aber trotz aller Bemühungen, mich vor andern und vor mir selbst zu verstellen, trotz der absichtlichen Aneignung aller Merkmale, welche ich bei andern in verliebtem Zustande beobachtet hatte, erinnerte ich mich doch nur zwei Tage hindurch und auch da nicht beständig, sondern hauptsächlich am Abend, daß ich verliebt sei, und schließlich, sobald ich das neue Geleise des Landlebens und des Vergnügens betreten hatte, vergaß ich meine Liebe zu Ssonitschka ganz.

Wir kamen bei der Nacht in Petrowskoje an, und ich schlief so fest, daß ich weder das Haus sah, noch die Birkenallee, noch jemand von den Hausbewohnern, die sich alle schon zurückgezogen hatten und fest schliefen. Der alte Foka, gebückt und barfuß, in einer wattierten Frauenjacke, ein Licht in der Hand, schob den Türriegel zurück. Als er uns erblickte, begann er vor Freude zu zittern, küßte uns auf die Schulter, schob seine Filzdecke beiseite und kleidete sich eilig an. Den Flur und die Treppe durchschritt ich noch halb im Schlaf, aber das Türschloß im Vorzimmer, der Riegel, die schiefen Dielenbretter, die Truhe, der alte Leuchter, der mit Talg betropft war wie früher, der Schatten vom schiefen, kalten, eben erst angezündeten Dochte der Unschlittkerze, das stets staubige, nie ausgehobene Doppelfenster, unter dem, wie ich mich erinnerte, ein Vogelbeerbaum wuchs, – alles dies war mir so bekannt, so voll von Erinnerungen, so zusammengehörig, als wäre es durch einen einzigen Gedanken vereinigt, daß ich plötzlich den Zauber dieses lieben, alten Hauses fühlte. Unwillkürlich fragte ich mich: Wie konnten wir, das Haus und ich, so lange ohne einander auskommen? Und ich eilte ziellos vorwärts, um zu sehen, ob die andern Zimmer noch dieselben waren. Es war alles noch wie einst, nur schien es mir kleiner, niedriger, während ich selbst größer, schwerer und plumper geworden war; aber auch so wie ich war, nahm mich das Haus freudig auf und weckte in mir mit jedem Fenster, jedem Brett im Fußboden, jeder Treppenstufe, mit jedem Laut die Schatten der Bilder, Gefühle, Ereignisse einer unwiederbringlichen, glücklichen Vergangenheit. Wir kamen in unser früheres Schlafzimmer: alle Schrecken aus der Kinderzeit bargen sich wie einst im Dunkel der Ecken und Türen; wir gingen durch den Salon: dieselbe stille, zarte Mutterliebe lag über allen Gegenständen des Zimmers; wir durchschritten den Saal: die geräuschvolle, sorglose Kinderfröhlichkeit schien in diesem Raume zurückgeblieben zu sein und nur darauf zu warten, daß man sie wieder belebe. Im Divanzimmer, in welches uns Foka führte und wo er uns ein Lager bereitete, schien alles – der Spiegel, die Wandschirme, das alte, hölzerne Heiligenbild, jede Unebenheit der weiß tapezierten Wand, – alles schien von Leiden und Tod zu sprechen, von etwas, was nie mehr wiederkehren sollte.

Wir legten uns schlafen, und Foka verließ uns, nachdem er uns eine gute Nacht gewünscht hatte.

»In diesem Zimmer ist doch maman gestorben?« sagte Wolodja.

Ich antwortete nicht und tat, als wenn ich schliefe. Wenn ich ein Wort gesagt hätte, wäre ich in Tränen ausgebrochen.

Als ich am andern Morgen erwachte, saß Papa, noch nicht angekleidet, in Hausschuhen und Schlafrock, die Zigarre im Munde, auf Wolodjas Bett und plauderte und lachte mit ihm. Mit fröhlichem Achselzucken sprang er auf, kam zu mir, klopfte mir mit seiner großen Hand auf den Rücken, reichte mir seine Wange und drückte sie an meine Lippen.

»Nun, ausgezeichnet, Diplomat, ich danke dir,« sagte er mit der ihm eigenen scherzhaften Zärtlichkeit, mich mit seinen kleinen, glänzenden Äuglein betrachtend; »Wolodja sagt, du habest das Examen gut bestanden, als ein tüchtiger Bursche, – vortrefflich! Wenn du keine Dummheiten machst, so bist auch du mein prächtiger Zunge. Ich danke dir, Freundchen. Jetzt wollen wir hier lustig leben und im Winter übersiedeln wir vielleicht nach Petersburg. Nur schade, die Jagd ist schon zu Ende, sonst hätte ich euch ein Vergnügen gemacht; na, mit der Flinte kannst du jagen, Woldemar, Wild ist in Unmengen da, vielleicht begleite ich dich manchmal. Na und im Winter, so Gott will, ziehen wir nach Petersburg, ihr werdet Menschen kennen lernen, Beziehungen anknüpfen, ihr seid ja jetzt meine großen Jungen. Grade sagte ich zu Woldemar: ihr seid jetzt auf den Weg gebracht, und meine Pflicht ist getan, ihr könnt allein vorwärtskommen, wenn ihr euch aber mit mir beraten wollt, so tut es, ich bin jetzt nicht mehr euer Aufpasser, sondern euer Freund, wenigstens will ich euer Freund und Kamerad und Berater sein, wo ich kann, und weiter nichts. Wie gefällt das deiner Philosophie, Koko, was? gut oder schlecht, was?«

Ich sagte natürlich, das sei vortrefflich und fand es auch wirklich so. Papa hatte an jenem Tage einen ganz besonders freundlichen, heiteren, glücklichen Gesichtsausdruck; dieses neue Verhältnis zu mir wie zu einem Gleichgestellten, zu einem Kameraden, zwang mich, ihn noch mehr zu lieben.

»Na, erzähl' mir doch, warst du bei allen Verwandten? Bei Iwins? Hast du den Alten gesehen? Was hat er dir gesagt?« fuhr Papa fort mich auszufragen; »warst du beim Fürsten Iwan Iwanowitsch?«

Und wir plauderten, ohne uns anzukleiden, so lange, daß die Sonne schon die Fenster des Divanzimmers verließ, und daß Jakob (welcher immer noch ebenso alt war, immer noch ebenso die Finger auf seinem Rücken bewegte und immer noch dieselben Redensarten gebrauchte) in unser Zimmer kam und dem Papa meldete, daß die kleine Kalesche angespannt sei.

»Wohin fährst du?« fragte ich Papa.

»Ach, das hätte ich fast vergessen!« sagte Papa mit ärgerlichem Achselzucken und Hüsteln, »ich habe versprochen, heute zu den Epifanows hinüberzufahren. Erinnerst du dich noch an Fräulein Epifanow, la belle Flamande? Sie pflegte eure Mama zu besuchen. Es sind prächtige Menschen.« Und Papa ging mit einem, wie mir schien, verlegenen Achselzucken aus dem Zimmer.

Während unseres Plauderns war Ljubotschka schon mehrmals an die Tür gekommen und hatte gefragt: »Darf man zu euch hinein?« Aber jedesmal hatte Papa ihr durch die Tür zugerufen, das sei ganz unmöglich, wir seien nicht angezogen.

»Was ist denn dabei? Ich habe dich doch schon im Schlafrock gesehen!«

»Du darfst die Brüder nicht ohne die Unaussprechlichen sehen,« rief Papa zurück, »aber jeder von ihnen wird einmal an die Tür klopfen, genügt dir das? Also klopft einmal. Es wäre selbst unpassend für sie, in einem solchen Negligé mit dir zu sprechen.«

»Ach wie unausstehlich ihr seid! So kommt wenigstens schneller in den Salon, Mimi sehnt sich so, euch zu sehen!« rief Ljubotschka hinter der Tür.

Sobald Papa fort war, zog ich schnell den Studentenrock an und ging in den Salon; Wolodja dagegen beeilte sich nicht, saß lange oben und plauderte mit Jakob darüber, wo Schnepfen und Bekassinen zu treffen seien. Er fürchtete, wie schon erwähnt, nichts in der Welt so sehr wie Zärtlichkeiten gegen »Brüderchen, Schwesterchen oder Papachen«, wie er spöttelte, und verfiel, indem er jeder Art von Gefühlsäußerung aus dem Wege ging, in das andere Extrem, die Kälte, durch die er oft die Menschen, die ihren Ursprung nicht kannten, bitter kränkte. Im Vorzimmer traf ich Papa, der mit kleinen, schnellen Schrittchen seinem Wagen zueilte. Er trug seinen neuen, modernen Moskauer Gehrock und duftete nach Parfüm. Als er mich sah, nickte er mir lustig zu, als wollte er sagen: »Fein! nicht?« und wieder fiel mir der glückliche Ausdruck seiner Augen auf, den ich schon in der Frühe bemerkt hatte.

Der Salon war immer noch das helle, hohe Zimmer mit dem englischen Klavier und den großen offenen Fenstern, durch welche die grünen Bäume und die rötlichgelben Gartenwege lustig hereinschauten. Nachdem ich Mimi und Ljubotschka mit Küssen begrüßt hatte, trat ich auf Katjenka zu; da fiel mir plötzlich ein, daß es nicht mehr schicklich sei, ihr einen Kuß zu geben, und ich blieb stumm und errötend stehen. Katjenka streckte mir ohne alle Verlegenheit ihr weißes Händchen entgegen und gratulierte mir zum bestandenen Examen. Als Wolodja in den Salon kam, ging es ihm beim Wiedersehen mit Katjenka ebenso. Es war in der Tat schwer zu entscheiden, wie wir, die wir zusammen aufgewachsen waren und uns während dieser ganzen Zeit täglich gesehen hatten, uns jetzt nach der ersten Trennung gegenübertreten sollten. Katjenka errötete noch mehr als wir; Wolodja war nicht im mindesten verlegen, verbeugte sich leicht vor ihr und ging zu Ljubotschka, mit der er ein wenig plauderte, ohne etwas Ernsthaftes zu sagen, und begab sich dann aus einen einsamen Spaziergang.


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