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Ich werde heimisch.

Als ich in die Galerie zurückkehrte, sprach man dort durchaus nicht von mir, wie ich vermutet hatte; Warenka las nicht, hatte das Buch beiseite gelegt und stritt heftig mit Dmitrij, der auf und nieder schritt, seine Halsbinde durch Kopfbewegungen zurecht rückte und die Augen zusammenkniff. Der Gegenstand des Streites war angeblich Iwan Jakowlewitsch und der Aberglaube; aber der Streit war viel zu heftig, als daß der zu ergänzende Grund nicht ein anderer gewesen wäre, der der ganzen Familie näher lag. Die Fürstin und Ljubow Ssergejewna saßen schweigend da und horchten auf jedes Wort mit dem offenbaren Wunsche, sich zuweilen hineinzumischen, aber sie hielten sich zurück und überließen es, die eine – Warenka, die andere – Dmitrij, für sie zu sprechen. Als ich eintrat, blickte Warenka mich so gleichgültig an, daß ich sofort erkannte, der Streit beschäftige sie ernsthaft und es sei ihr vollkommen gleichgültig, ob ich hören würde, was sie sagte, oder nicht. Denselben Ausdruck hatte der Blick der Fürstin, die jedenfalls auf seiten Warenkas stand; Dmitrij aber begann in meiner Gegenwart noch heftiger zu streiten, während Ljubow Ssergejewna bei meinem Kommen sehr zu erschrecken schien und, ohne sich an jemand von uns direkt zu wenden, sagte: »Die alten Leute sagen ganz richtig: si jeunesse savait, si vieillesse pouvait.«

Aber dieser Ausspruch machte dem Streit kein Ende und brachte mich nur auf den Gedanken, daß Ljubow Ssergejewna und mein Freund im Unrecht waren. Obgleich es mir etwas peinlich war, einem kleinen Familienzwiste beizuwohnen, war es mir doch wieder angenehm, die wahren Verhältnisse dieser Familie kennen zu lernen, wie sie sich infolge des Streites verrieten, und zu fühlen, daß meine Anwesenheit sie an der Aussprache nicht hinderte.

Wie oft kommt es vor, daß man jahrelang eine Familie unter demselben lügenhaften Schleier des Anstandes sieht, wobei uns die wahren Beziehungen ihrer Mitglieder zueinander ein Geheimnis bleiben. (Ich habe sogar beobachtet, je undurchdringlicher und daher schöner dieser Schleier ist, desto gröber pflegen die wahren, vor uns verborgenen Verhältnisse zu sein.) Sobald aber ganz unerwartet im Kreise der Familie irgend eine, vielleicht unbedeutend scheinende Frage über eine Spitze oder einen Besuch oder über die Pferde des Hausherrn auftaucht, wird der Streit ohne jeden sichtbaren Grund immer heftiger und heftiger, unter dem Schleier wird es zu eng zur Klarstellung der Angelegenheit, und plötzlich kommen alle wahren, unzarten Verhältnisse zum Entsetzen der Streitenden selbst und zum Erstaunen der Anwesenden ans Tageslicht, und der Schleier, der nun nichts mehr verhüllt, flattert frei zwischen den kämpfenden Parteien hin und her und erinnert uns nur daran, wie lange wir durch ihn getäuscht wurden. Oft ist es nicht so schmerzlich, den Kopf mit voller Wucht irgendwo anzustoßen, als – selbst wenn es ganz leicht und leise geschieht – eine schmerzende, wunde Stelle zu berühren; und eine solche schmerzende, wunde Stelle gibt es fast in jeder Familie. In der Familie der Nechljudows war eine solche wunde Stelle die seltsame Schwärmerei Dmitrijs für Ljubow Ssergejewna, die in den Herzen der Mutter und der Schwester, wenn auch nicht grade Neid, so doch ein beleidigtes Verwandtschaftsgefühl erweckte. Daher eben hatte der Streit über Iwan Jakowlewitsch und den Aberglauben für sie alle eine ernste Bedeutung.

»Du bemühst dich immer in dem, was andere verspotten oder was alle verachten,« sagte Warenka mit ihrer klangvollen Stimme, jede Silbe deutlich betonend, »du bemühst dich, in all diesem etwas ungewöhnlich Gutes zu finden.«

»Erstens kann nur ein besonders leichtsinniger Mensch in Bezug auf einen so hervorragenden Mann wie Iwan Jakowlewitsch von Verachtung sprechen,« erwiderte Dmitrij, krampfhaft mit dem Kopfe zur Seite zuckend, »und zweitens bemühst im Gegenteil du dich, das Gute nicht zu sehen, das du vor Augen hast.«

Als Sofia Iwanowna zu uns zurückkehrte, blickte sie einige Male erschrocken bald den Neffen, bald die Nichte, bald mich an und öffnete, als wenn sie in Gedanken etwas gesagt hätte, mehrmals den Mund und seufzte schwer.

»Warja, bitte lies schnell weiter,« sagte sie, ihr das Buch reichend und ihr freundlich auf den Arm klopfend, »ich will durchaus wissen, ob er sie wiedergefunden hat.« (Ich glaube, in dem Roman war gar nicht die Rede davon, daß irgend jemand gefunden werden sollte.) »Und du, Mitja, solltest lieber etwas um die Wange binden, Freundchen, es ist kühl und du wirst wieder Zahnschmerzen bekommen,« sprach sie zum Neffen, ohne auf den unzufriedenen Blick zu achten, den er ihr zuwarf, wahrscheinlich weil sie den logischen Faden seiner Beweisführung zerrissen hatte. Die Lektüre wurde fortgesetzt.

Dieser kleine Streit störte nicht im geringsten den Familienfrieden und die vernünftige Harmonie, welche dieser Frauenkreis atmete. Dieser Kreis, welchem offenbar die Fürstin Maria Iwanowna Richtung und Charakter gab, hatte für mich etwas vollständig Neues und Anziehendes, eine gewisse Folgerichtigkeit und zugleich Einfachheit und Vornehmheit. Das alles kam zum Ausdrucke in der Schönheit, Sauberkeit und Solidität der Einrichtung – der Glocke, der Büchereinbände, der Sessel und Tische, – sowie in der geraden, aufrechten Haltung der Fürstin, in den offen zur Schau getragenen, weißen Locken und in der Art, mich gleich beim ersten Sehen Nicolas und er zu nennen, in ihren Beschäftigungen, im Lesen und Nähen und in der auffallenden Zartheit der Damenhände. (Sie hatten alle einen gemeinsamen Familienzug in den Händen, der darin bestand, daß das Weiche der Handfläche an der Außenseite von rosiger Farbe war und sich durch eine scharfe, gerade Linie von der auffallenden Weiße des anderen Teiles der Hand unterschied.) Aber am allermeisten drückte sich dieser Charakter bei allen dreien in der Art aus, wie sie vortrefflich sowohl russisch als französisch sprachen, jeden Buchstaben deutlich hervorbringend und jedes Wort und jeden Satz mit pedantischer Genauigkeit zu Ende sprechend. Alles dieses und besonders auch, daß man mich in dieser Gesellschaft einfach und ernst behandelte wie einen Erwachsenen, daß man mir Ansichten mitteilte und meine Meinungen anhörte, – ich war daran so wenig gewöhnt, daß ich trotz der glänzenden Knöpfe und der blauen Aufschläge immer noch fürchtete, man werde mir plötzlich sagen: Glauben Sie wirklich, daß man mit Ihnen ernsthaft spricht? Gehen Sie lieber lernen! – alles das bewirkte, daß ich in dieser Gesellschaft nicht die geringste Schüchternheit empfand. Ich stand auf, wechselte meinen Platz und sprach ohne Scheu mit allen, außer mit Warenka, denn es schien mir unziemlich oder gar unerlaubt, gleich beim ersten Mal mit ihr zu sprechen.

Während des Lesens, da ich ihrer angenehmen, klangvollen Stimme lauschte und bald sie betrachtete, bald den sandigen Gartenweg, auf welchem sich runde, dunkle Regenflecken gebildet hatten, bald die Linden, auf deren Blättern noch immer seltene Regentropfen aus dem blassen, blaudurchschimmerten Rande der Wolke, die uns ereilt hatte, niederklatschten, bald wieder sie, bald die letzten rosigen Strahlen der untergehenden Sonne, welche die regenfeuchten, dichtbelaubten, alten Birken beleuchtete, bald wieder Warenka, – kam mir der Gedanke, daß sie gar nicht so häßlich sei, wie sie mir anfangs erschienen war.

»Schade, daß ich schon verliebt bin,« dachte ich, »und daß Warenka nicht Ssonitschka ist. Wie schön wäre es doch, plötzlich ein Glied dieser Familie zu werden! Da hätte ich auf einmal eine Mutter, eine Tante, eine Frau.« Während ich das dachte, blickte ich unverwandt die lesende Warenka an und bildete mir ein, daß ich sie magnetisiere, und daß sie mich ansehen müsse. Warenka hob den Kopf, sah mich an und wandte sich, als ihr Blick dem meinen begegnete, wieder ab.

»Der Regen hört noch immer nicht auf,« sagte sie.

Und plötzlich hatte ich ein merkwürdiges Gefühl: es war mir, als wenn das, was jetzt mit mir vorging, die Wiederholung dessen sei, was schon einmal mit mir geschehen: daß auch damals, ganz so wie jetzt, ein leiser Regen gefallen war, daß die Sonne hinter den Birken unterging, daß ich »sie« anblickte, während sie las, daß ich sie magnetisierte und daß sie aufblickte, und ich erinnerte mich sogar, daß dies auch früher schon einmal gewesen war.

»Sollte Warenka sie sein?« dachte ich, »und fängt es jetzt vielleicht an?« Aber ich war mir bald darüber klar, daß Warenka nicht sie war und daß es nicht anfange. »Erstens ist Warenka nicht hübsch,« dachte ich, »und dann ist sie einfach ein Fräulein, mit dem ich aus die allergewöhnlichste Art bekannt geworden bin, sie aber wird etwas ganz Außergewöhnliches sein, ich werde sie an einem ganz ungewöhnlichen Orte treffen, und überhaupt,« so schloß ich, »diese Familie gefällt mir doch nur deshalb, weil ich noch nichts gesehen habe, aber Familien sind wahrscheinlich immer so, und ich werde deren noch sehr viele in meinem Leben kennen lernen.«


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