Ludwig Tieck
Victoria Accorombona
Ludwig Tieck

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Mit allen seinen Gesellen, vornehmen und geringen, begab sich der Graf Luigi Orsini in die freie Landschaft, um dem Staate, dem er sich empört hatte, so vielen Schaden zuzufügen, als in seiner Gewalt stand. Man vernahm bald die Klagen über Beschädigungen, die er an den Städten und Landbewohnern ausübte. Auch rüstete er ein Schiff aus, um die See zu beunruhigen und die Fahrzeuge, welche nach Rom segelten, aufzufangen. Auch warb er neue Banden und verstärkte sich durch Galeerensklaven, die teils ihre Strafzeit überstanden, teils sich empört und mit Gewalt befreit hatten.

Der nächste nach Luigi im Kommando der Banden war der Graf Pignatello, der grausame Mörder des Vitelli, sowie der Graf Ubaldi aus Arezzo, ebenfalls ein verwegner Mensch, der auf unwürdige Art sein Vermögen verschwendet hatte und jetzt in Verzweiflung und leichtsinniger Frechheit keine Rücksicht der Menschlichkeit mehr anerkannte.

Ein besserer Mensch war durch Verarmung und traurige Schicksale in die Gesellschaft dieser Verworfenen geraten, der Graf Francesco Montemellino. Er war von mittleren Jahren, wohlgebaut, stark, und sein Wesen hatte den Ausdruck eines edlen Mannes. Auch ihn hatte Unglück und Verzweiflung, aber nicht Bosheit diesen Banden und einem Luigi zugeführt. Es war eine von den Erscheinungen in der menschlichen Natur, welche öfter wiederkehrt, daß Orsini sich mit Vertrauen, ja Liebe an diesen besseren Mann anschloß, der ihm so unähnlich war, den er mehr achten mußte als sich selber: Graf Montemellino war ihm bald so unentbehrlich, daß er keine Stunde ohne ihn leben konnte und er in dessen Gesellschaft sogar seine Gattin und alle früheren Freunde, die ihm nicht gefolgt waren, vergaß.

Unter den Galeerensklaven hatte sich auch jener junge Camillo Mattei, der Neffe des alten Priesters Vincenz in Tivoli, eingefunden. Er wagte es nicht, nachdem er seine Strafzeit überstanden, nach Rom zu seinen Eltern zurückzukehren, da ihn Schande und Schmach bedeckte und er nicht hoffen konnte, auf irgendeine Weise in seine frühere Stellung zurückzukehren. Ein glühender Haß gegen die Familie Accoromboni war in ihm entbrannt, sowie gegen alle Vornehmen, und da er wußte, wie sehr die stolze Vittoria den Luigi Orsini verabscheute, so hatte er sich diesem und seinen Freibeutern am liebsten angeschlossen.

Von Marcello hatte man nur wenig erfahren können. Das Gerücht sagte, daß er sich beim Heere des Piccolomini befinde, welches bald in den florentinischen, bald in den neapolitanischen Staaten umstreifte und oft wieder die Grenzen des römischen Gebietes beunruhigte.

Als Flaminio sich in Rom wieder nach seiner Mutter umsah, um ihr Hülfe zu bringen, war sie ohne Spur verschwunden und jede Forschung und Nachfrage vergeblich. In der Verwirrung ihres Geistes hatte sich die unglückselige Matrone scheu und tief bekümmert von allen Menschen zurückgezogen. Sie zürnte sich und aller Welt, den Menschen wie dem Himmel, weil sie sich nicht still ergeben und fügen konnte, sondern ihr Gefühl ihr zurief, daß in ihrem Unglück ihr vom Schicksal das herbste Unrecht zugefügt sei. So ließ sie auch oft ihren liebevollen Sohn Flaminio abweisen und wollte ihn nicht sprechen, weil sie über seine weiche und charakterlose Unbestimmtheit zürnte; auch auf den Herzog Bracciano war sie erbost und wies mit schnöden Worten alle Hülfe zurück, die er ihr großmütig anbot; denn sie meinte, er hätte sich bei dieser Entwickelung der großen Begebenheit mit mehr Kraft und Kühnheit betragen sollen. Gegen den Bischof, ihren ältesten Sohn, gab sie ihren Haß offen kund; sie sah ihn nicht wieder, sooft er auch bei ihr einzudringen suchte. Selbst auf die freundlichen Botschaften und Briefe ihrer Tochter Vittoria nahm sie keine Rücksicht. So, von aller Welt verlassen und Freunden wie Feinden unsichtbar geworden, war sie nun endlich ohne Spur verschwunden. –

Auch in der Landschaft war allenthalben die Kunde erschollen von der Ermordung Vitellis, der Empörung des Orsini und der Verhaftung der Vittoria Peretti sowie von der Anklage gegen sie. Das Volk, welches sich so gern mit Märchen trägt und diese am liebsten glaubt, verband damit tausend unmögliche Bosheiten und wunderbare Zufälle: von Bezauberung, Gift, Gespenstern und Geständnissen auf der Folter war die Rede, und in der kleinen Stadt Tivoli, in welcher die Familie Accoromboni oft gewohnt hatte und in ihr gewissermaßen einheimisch war, wurde am meisten über diese neuesten Begebenheiten geschwatzt und geurteilt, verschieden und mannigfaltig, je nachdem man den Angeklagten freundlich oder feindlich gesinnt war. Doch hatte auch hier das Märchen bei den meisten Eingang gefunden, Vittoria habe durch einen Liebestrank den Herzog Bracciano bezaubert, auf dieselbe Weise den jungen Luigi Orsini unsinnig gemacht, den Gemahl Peretti durch den Bruder umbringen lassen, so wie sie den Kardinal Farnese habe vergiften wollen, und jetzt sitze sie mit der Mutter im Kastell gefangen, weil sie der Papst in kurzer Zeit beide als Hexen öffentlich wolle verbrennen lassen. –

Der alte Pfarrer Vincenz wandelte langsam durch die Stadt und überlegte sich diese tollen und törichten Erzählungen sowie so manches, was er in seinem Leben schon gesehn und erfahren hatte. »Alles«, sagte er zu sich, »gleicht diesem Teverone hier. Da oben fließt er glatt und freundlich, die Ufer mit ihren Gebüschen und Hügeln spiegeln sich in der klaren Flut, sie kommt näher und rennt und rennt immer schneller, nun stürzt sie wogend, unaufhaltsam, brausend in Klagen und Verwünschungen tief hinunter in den Abgrund. – Wie freundlich, erquicklich lebten sie hier und schienen so sicher und fest, stolz und selbständig. Und nun, – zu hoch wollten sie hinaus, – die Ebne war ihnen zu gering, und nun dieser Absturz!«

Er stand jetzt vor einem zierlichen Hause, welches einzeln lag. Er war seit lange nicht diesen Wänden, die mit Efeu bewachsen waren, vorbeigegangen. Nun ward er hier durch ein seltsames Getön festgehalten. Er hörte nämlich mit heiserer Stimme einzelne Strophen aus Volksliedern übertrieben laut und kreischend singen, dann plötzlich Stille, ohne die Melodie zu beschließen – Aufschrei, Schluchzen, – dann wieder Gesang, von lauten Flüchen und Verwünschungen unterbrochen. Jetzt tat es einen harten Fall, und nun vernahm der Alte Winseln und Schluchzen und vielfältige Klagelaute. Die Fenster waren gegen die Sonne verschlossen, er konnte nicht hineinsehn, ob sich hier ein Unglück zugetragen habe. Er näherte sich der Tür, sie war nicht verriegelt, und er trat in das freundliche Haus, welches nicht zu einem Aufenthalt des Elends bestimmt schien, mit zögernder Furcht und einem leisen Schauer. Das Winseln und Schluchzen ließ sich nach einer Pause wieder vernehmen. So öffnete er entschlossen die Tür des Zimmers, aus welchem er den Ton vernahm, und trat in das halbdunkle Gemach.

»Bedarf jemand einer menschlichen Hülfe?« frug er mit gedämpfter ängstlicher Stimme – und fuhr mit lautem Schrei, sich entsetzend, zurück, denn eine große weibliche Gestalt lag ausgestreckt auf dem Boden, die man für eine Leiche hätte halten können, wenn nicht die schwarzen feurigen Augen im kreideweißen, alten, ganz abgemagerten Gesicht sich heftig bewegt hätten. – »Wer ist da? Welcher Sterbliche?« sagte die mächtige Gestalt und erhob sich langsam vom Boden. Ihr greises langes Haar schüttete sich bei der Bewegung über das Gesicht, sie lächelte furchtbar und warf es nun ganz über das Antlitz hinüber, bückte sich nach vorn und nahm ein Gebetbuch vom Ruhebett auf, stellte sich gekrümmt so in die Mitte des Zimmers, als wenn sie in Andacht lesen wollte, und sah in dieser Gestaltung einem wilden reißenden Tiere oder einem Ungeheuer nicht unähnlich. Nun fuhr sie mit einem Sprunge auf den alten Priester los und schrie: »Nun, warum weichst du nicht dem Banne, wenn du doch ein Gespenst bist?«

»Nichts weniger,« sagte der Alte mit erzwungener Ruhe, »ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, und wollte der Himmel, daß ich Euch so betiteln könnte. Aber mir scheint, als wenn Ihr gewaltig über die Stränge geschlagen hättet. – Seid Ihr denn nicht, mit Verlaub, jene Dame Julia Accorombona, die sonst mit ihrer schönen Tochter hier in diesem Hause wohnte, das ich freilich erst jetzt wieder erkenne?«

»Meine Tochter?« rief die Wahnsinnige und setzte sich mit Majestät auf einen hohen Sessel. Sie nahm einen Kranz, von Stroh geflochten, und rückte ihn auf den grauen Scheitel zurecht, indem sie die Masse der verwirrten Haare über den Rücken warf, – »meine Tochter? Elender Sklave! wie wagst du es, diese nur zu nennen? Sie ist die weltberühmte Kaiserin Semiramis und sitzt da droben unter goldenem Baldachin, hoch, hoch in ihren schwebenden Gärten und sinnt, so wie sie die Elfenbeinhand an die glänzend weiße Stirn legt und sich mit der andern auf den goldenen Zepter stützt, auf neue Weltwunder. O solch himmlisches Bild von Schönheit, Würde und Majestät ist noch niemals auf Erden gesehen worden, und Raffael, der große Maler, hat vorgestern bei unserm Pluto um die Erlaubnis nachgesucht, daß er aus seinem Grabe kommen und die Himmlische malen dürfe.«

»Laßt die Dummheiten, liebe, unglückselige Frau Julia,« sagte der Priester, dessen Sinne halb verwirrt waren; »der Himmel hat Euch heimgesucht, fügt Euch seinem Willen in gelinder Demut, und er wird Euch Euern Verstand, der recht ansehnlich war, wiedergeben.«

»Meine Königreiche soll er mir zurückgeben!« rief sie mit Ungestüm; – »aber still – schon hat mein David, mein Sohn, den Riesen überwunden – nun geht er, der gesalbte König, mit seiner tapfern Schar und streift durch das Gebirge – sie bewirten, sie fürchten ihn, – der Herr hat ihn gesalbt durch Samuel, seinen Hohepriester – er wird den Saul überwinden, und dann wird David vor allem Volke gekrönt. Dann führt er die Mutter, die Unbekannte, Verschleierte, zu seinem Thron, und alle Völker beten sie an, die Unsterbliche, die solche Kinder zur Welt gebracht hat.«

»Was die Gottlose für Reden führt!« rief Vincenz unwillig aus. »Versündigt Euch nicht an der Schrift und dem heiligen Wort. Der verruchte Marcello soll wie David sein, der königliche Prophet, der Auserwählte des Herrn? Wo steht das geschrieben? Banditen und Mörder sind keine Heilige, mit Blut, nicht vom Samuel sind sie mit dem heiligen Öl gesalbt und getauft.«

»Was?« rief sie, sprang auf und griff den Erschrockenen heftig bei der Hand, »seid Ihr ein Levit und versteht die Gesetze und Prophezeiungen so ganz und gar nicht? Habt Ihr vom Daniel gelesen, der ein Liebling des Königs war? Seht, Einfältiger, das ist mein Sohn Flaminio, er mit dem flammenden römischen Geist, jetzt Geheimschreiber bei dem großen Tyrannen Holofernes. Und der fromme Bischof, mein Sohn, der große Kirchenpfeiler, beredter wie Chrysostomus, gelehrter als Origines, heiliger als Augustin: er wird morgen zum Papst erwählt vom Heiligen Geist.«

»Nun, das fehlte uns gerade noch«, sagte Vincenz murrend. »Sündiges Weib!« rief er, »haltet inne, ist es nicht genug, daß Ihr selber rasend seid, müßt Ihr mich auch noch toll machen?«

»Gelinde, Männchen,« erwiderte sie mit jenem furchtbaren Lächeln der Wahnwitzigen und streichelte ihn unter dem Kinn, – »sprecht nicht so mit der berühmten Cornelia, – wißt Ihr? Mein Sohn, der Cajus Gracchus, ist viel ungestümer als jener ältere, der Tiberius, er läßt Euch sogleich hinrichten, wenn ich Euch bei ihm verklage. Dann werdet Ihr vom tarpejischen Felsen, gleich hier nahebei, in den Wasserstrom hinuntergeworfen. Das haben wir hier recht bequem. – Ach!« schrie sie – und sprang plötzlich auf und rannte heulend durch das Gemach; alle Stühle und Sessel packte sie an – »Hülfe! Hülfe!« rief sie – »sie versinkt, meine Tochter! mein Kind! der Mörder, der verruchte, der schändliche Camillo, hat sie hineingestürzt!«

»Warum nicht gar!« schrie ihr der Geistliche entgegen; – »nehmt Vernunft an, kurioses, altes Weib, oder jeder Mensch muß Euch für toll halten, wenn Ihr so alberne Dinge sprecht!«

»Nun, so laß uns tanzen, Schatz!« sagte sie, »wenn es denn wirklich nicht so böse gemeint ist.« – Sie sprang auf und fiel gleich wieder in den Sessel. »Nein,« sagte sie matt, »mein Gebein ist zu schwach geworden, der Gram hat mich ausgehöhlt. Ich kann auch nicht mehr singen. Wißt Ihr meine schönen Verse? Ja, mein ›Befreites Jerusalem‹ haben sie nun auch herausgegeben und mich obenein in den Narrenturm gesperrt: Ihr seht es, mit den Verrückten, wovon Ihr einer seid, muß ich nun sprechen und poetische Akademien halten. Nun improvisiert gleich über ein Thema, das ich Euch geben will.«

»Das ginge mir ab,« sagte Vincenz, »ich verrückt und die da klug.«

»Wie Asträa die Welt so ganz und gar verlassen hat!« fuhr die Alte fort. »O über den Greuel, die Schandtat, die sich seitdem entwickelt. Wie die Unschuld nun unterdrückt wird, wie der Arme blutet, das Gesetz den Gerechten zerschneidet und Bosheit und Frevel in Purpur gekleidet geht. Den Farnese wollen sie zum Papst machen, dann wird Luigi Governador von Rom, und alle die Meinigen sind dem Untergang geweiht! Betet, daß Christus und Maria uns die Asträa wieder schicken.«

»Einen Funken Verstand sollten sie an Euch wenden,« sagte jener, »aber sie denken vielleicht, das wäre doch nur ein weggeworfenes Gut.«

Als er sah, daß die Kranke sich etwas beruhigt hatte, war es ihm auch möglich, verständiger und eindringlicher mit ihr zu reden. Sie hörte ihn an und begriff sein Wohlwollen, da jetzt nach jener Erhitzung die gute Stunde bei ihr herrschte. Sie brachte ihr Haar in Ordnung, warf einen Mantel über und versprach, mit Gelassenheit den Willen des Himmels zu tragen.

Ihre Dienerin kam, eine junge, einfältige Bauernmagd, die ihr das wenige von Speise und Trank brachte, welches sie genoß. Nur diese, die ihr nie antwortete, sich über ihre tollen Reden weder verwunderte noch sie anhörte, durfte zu ihr, sonst war vor aller Welt ihre Tür verriegelt, und niemand erfuhr es, selbst die Einwohner von Tivoli wußten es nicht, daß die Signora Julia, welche sie ehemals wohl gekannt hatten, sich in ihrer Nähe aufhielt.

So gewöhnte der redliche Vincenz die arme Kranke an seine Gegenwart, und es schien in mancher Stunde, als wenn dieser, freilich zu ihrem Schmerz, Vernunft und Bewußtsein zurückkehrte.

Oft zankten sie wieder heftig, denn er wollte es nie dulden, daß sein Neffe, der unschuldige Camillo, Ursache am Unglücke der Familie sein solle. Verglich sie wieder den abtrünnigen Marcello mit David, so geriet der Priester außer sich, so daß es in solchen Momenten schwer zu entscheiden sein mochte, wer von beiden der Törichte sei. Denn wenn er ihr die mythologischen und geschichtlichen Torheiten christlich nachsah, wenn sie sich bald diese, bald jene große Königin oder Juno, Minerva, manchmal Niobe nannte, so war er desto strenger und unerbittlicher, wenn sie in die Geheimnisse der Religion anmaßend hineingriff und sich und den Ihrigen die großen heiligen Personen der Bibel oder Legende aneignen wollte. Da sie seine Unversöhnlichkeit in diesem Punkte kennen lernte, entwöhnte sie sich auch dieses Frevels und begnügte sich mit der weltlichen Geschichte und der heidnischen Poesie. – Aber, ohnerachtet dieser Torheit, ward sie auf diesem Wege milder und selbst christlicher und vernünftiger. – »Hätte ich je von mir geglaubt,« sagte der Priester zu sich selbst, als er an einem Abend von ihr ging, »daß ich noch einmal so ein starker Heidenbekehrer werden könnte? und daß sich wirklich doch zuweilen Beelzebub durch Satan vertreiben läßt? Vielleicht haben auch andre, viel größere Männer als ich Ärmster schon ehemals diese Künste geübt und ihre heilsame Wirkung erfahren.«


 << zurück weiter >>