Ludwig Tieck
Victoria Accorombona
Ludwig Tieck

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Fünftes Buch

Erstes Kapitel

Es schien, als sollte in Rom und dem Kirchenstaate mehr Ruhe einkehren, und doch zeigte sich plötzlich eine Landplage, die, schlimmer als alle früheren, auch noch das gemeine Volk drückte und es zur Verzweiflung brachte. Eine Hungersnot brach ein, so gewaltig und furchtbar, wie man sich keiner ähnlichen erinnern konnte. Es war dem Armen, dem gemeinen Manne unmöglich, das zu erschwingen, was nur das gewöhnliche Brot, die alltäglichsten und wohlfeilsten Nahrungsmittel kosteten. In solchem Elende wird der Mensch zum Tier, und es läßt sich nichts erdenken, was der aufgereizte wütige Pöbel dann nicht für erlaubt hält: jede Schranke erscheint ihm dann als Grausamkeit und jedes Gesetz als Willkür und Wahnsinn.

Alle Welt entsetzte sich vor den Greueln, die jetzt täglich und stündlich zur Sprache kamen. Auch dem Feigsten zwang Notwehr und Verzweiflung die Waffen in die Hand. Man raubte und stahl, man ermordete sich am lichten Tage vor aller Augen, und die Gerechtigkeit war viel zu schwach, diesen Abscheulichkeiten Einhalt zu tun.

Öffentlich zogen die Banditen in großen Scharen durch die Stadt. Die Großen quartierten sie in ihren Palästen ein unter dem Vorwand, daß sie ohne diese Bewachung ihres Lebens nicht sicher sein würden. Sooft der Kardinal Farnese ausfuhr oder ritt, sei es zum Besuch, sei es zu Geschäften, so begleitete ihn zum Schutz ein Heer gemieteter und bewaffneter Banditen, deren Anblick so schreckerregend war, daß alle Welt mit Entsetzen vor ihnen floh. Auch die verschiedenen Parteien dieser Banditen gerieten zuweilen in den Straßen der Stadt ins Handgemenge, und nicht selten blieben die Erschlagenen auf den Plätzen liegen.

Der alte Papst war in Verzweiflung, als er diesen Unfug mit jedem Tage mehr anwachsen sah. Er fühlte die Abnahme seiner Kräfte und sein herannahendes Ende. Er vergoß bittere Tränen, daß alle Versuche, dem furchtbaren Unheil und der Verzweiflung des Volkes Einhalt zu tun, vergeblich waren. Alle Klugen und Verständigen seiner Umgebung, alle Entschlossenen sprach er um Rat und Hülfe an. Borromäus und der Mediceer rieten; aber alle Mittel, die versucht und aufgeboten wurden, waren zu schwach. Diese furchtbaren Banditen wurden von Grafen und Baronen angeführt, die sich verarmt und verzweifelnd zu ihnen geschlagen: sie machten aus Raub und Mord und bezahlter Rache ein ehrenvolles Gewerbe, und da sie von den größten Baronen, Herzogen und Kardinälen in der Stadt öffentlich beschützt und als Freunde anerkannt wurden, so überstieg, wie es begreiflich ist, ihre Frechheit alle Grenzen.

Auch der Sohn des Papstes, Buoncompagno, der Governador von Rom, suchte seinem ehrwürdigen Vater zu helfen und ihm Rat zu erteilen. »Glaubt mir,« sagte dieser in einer traulichen Stunde zu ihm, »dieses Übel ist mehr in der Stadt als außerhalb der Mauern. Diese Frevler und freien Banden sind alle miteinander einverstanden, sie werden dadurch reich, daß unsre armen Römer des Hungertodes sterben. Sie streifen bis vor die Tore Roms und nehmen den Landleuten die Lebensmittel, Mehl, Korn, Gemüse, alles, was diese zur Stadt führen. Dann lassen sie es durch die Ihrigen zu ungeheuren Preisen auf den Märkten verkaufen. Das Volk weiß es auch und lästert nicht diese Bösewichter, sondern die schwache Regierung. Es ist keine andre Hülfe, wir müssen einmal mit Strenge, Gewalt, ja, wenn es nicht anders möglich ist, mit Grausamkeit einschreiten. Die meisten Paläste sind mit diesem Raubgesindel angefüllt, sie wohnen sicher darin, wie in Festungen, machen ihre Ausfälle, plündern, morden und kehren öffentlich in diese zurück.«

Der Papst war selber schon längst dieser Überzeugung gewesen. Jetzt ließen er und der Gouverneur den Obersten der Häscher Roms, den Barigell Bozela, zu sich entbieten. Ihm ward strenge anbefohlen, alle Häscher um sich zu versammeln, neue anzuwerben und sie zu bewaffnen. Sein Auftrag war, alle Banditen, die sich betreffen ließen, in der Stadt zu ergreifen und diejenigen, die sich in den Palästen versteckt hielten, aus diesen mit Güte oder Gewalt herauszunehmen, weil die Gerechtigkeit des Asyls diesen Häusern schon längst von den Päpsten genommen sei, es also nur ein schändlicher Mißbrauch heiße, wenn die Adligen unter diesem nichtigen Vorwande Mördern und Räubern einen Zufluchtsort gestatten wollten.

Der Barigell folgte dem Befehl, und man hoffte, jetzt dem Übel gesteuert zu sehn. Die Hungersnot ließ endlich nach, aber aus dieser Maßregel erzeugte sich neues Unglück.

Man hatte wiederum mit dem berüchtigten Piccolomini kapitulieren müssen, der die zahlreichsten Banden, viele Herren und Edelleute unter ihnen, führte und mit Rom in einem förmlichen Kriege begriffen war. Er zog sich wieder in das florentinische Gebiet zurück, dankte für jetzt viele seiner Söldlinge ab und versprach, sich ruhig zu verhalten.

Auch mit andern Anführern wurde unterhandelt, und so konnte Rom wieder etwas freier atmen, allgemach fiel wieder der hohe Preis der Lebensmittel, und man hoffte auf Ruhe.

Jetzt glaubte man sich kräftig genug, um mit jenen Banditen, die zuzeiten sich in Rom selbst aufhielten, dreister verfahren zu können. Es war ein Haus ausgeraubt, einige der Frevler waren gefangen worden, und andre hatten sich in den Palast des Raimund Orsini gerettet, um hier eine Zuflucht zu suchen. Der Barigell, der durch die neuesten Vorfälle mehr Mut bekommen hatte und der durch den strengen Befehl des Governador wie des Papstes bevollmächtigt war, drang mit seinen Häschern in das Haus, um die Flüchtigen zu fordern und in das Gefängnis zu führen. Der Graf war abwesend und mit einigen Freunden auf einem Spazierritt begriffen. Die Diener weigerten sich, die Banditen herauszugeben, und beriefen sich auf das Recht des Asyls und die Unverletzlichkeit des Hauses. Der Anführer widersprach, das Recht sei längst aufgehoben und vernichtet, und kein Mensch dürfe sich seiner rechtmäßigen Obrigkeit widersetzen. Während dieses Streites und Zankes kam Graf Raimund mit seinen Genossen vom Spazierritt zurück. Der junge Mann war nicht ganz so wild und ungestüm wie sein Bruder Luigi, aber nicht minder stolz und hochfahrend, auf seinen Adel und die Hoheit seines Blutes eitel und unfähig, eine Beleidigung, oder was er die Verletzung seiner Rechte nannte, zu erdulden. Er erstaunte, den Obristen der Häscher mit seinem Gefolge in seinem Hause zu finden. Er zwang sich erst höflich zu sein und erkundigte sich nach der Ursache dieses Besuchs. Der Barigell antwortete, daß er auf allerhöchsten Befehl verschiedene Banditen verlange, die der Graf ihm ausliefern möge.

»Ich erstaune, Mann, über Eure Dreistigkeit,« rief Graf Raimund; »habt Ihr vergessen, wem dieser Palast gehört, und wer ich bin? Dürft Ihr mein angebornes Recht so frech verletzen und mit diesen Euren saubern Gesellen über die Schwelle meines Hauses schreiten?«

»Herr Graf,« rief ihm Bozela entgegen, »mein und Euer Gebieter ist der erlauchte Governador, von Seiner Päpstlichen Heiligkeit gar nicht einmal zu sprechen. Auf deren ausdrückliche Befehl bin ich hier, und so wie ich diesen allerhöchsten Gewalten Gehorsam leisten muß, werdet Ihr es auch.«

»Welche neue, nie erhörte Sprache!« rief der erbitterte Graf. »Woher diese Frechheit? Ich befehle Euch, augenblicks mein Haus zu räumen und jene beiden Gefangenen sogleich in Freiheit zu setzen, wenn Ihr nicht meinen Zorn und Eure Züchtigung erfahren wollt.«

»Züchtigung?« schrie jetzt im Jähzorn Bozela. »Wer seid Ihr denn eigentlich, Ihr kleines Männchen, daß Ihr also sprechen dürft?«

Jetzt machte sich der eine Begleiter des Grafen, Rusticucci, auch ein junger Mann, herbei, sowie der dritte, Graf Savelli, ein Schwager Raimunds. Sie waren besorgt, daß Orsini sich in seinem Zorn vergessen könnte, und ritten jetzt ganz nahe zu ihrem Freunde heran.

»Männchen?« schrie Raimund erbost; »wenn ich jetzt meinen Dienern dort befehle, Euch zu züchtigen, Unverschämter, so bekommt Ihr nur, was Euch gebührt. Dankt es meiner Mäßigung und Großmut, daß es nicht geschieht, weil Ihr meinem Zorne zu niedrig seid.«

Rusticucci wollte vermitteln, Savelli riet abzusteigen; aber schon hatte sich das Volk bei dem lauten Gezänk versammelt und drängte sich an das Haus; die Diener, die sich im Palast befanden, waren durch die Häscher abgeschnitten von ihren Herren und konnten nicht durchdringen, um diesen beim Absteigen zu helfen. So schrie jetzt alles durcheinander, und im Volksgedränge bemerkte man den alten gebrechlichen Montalto, der sich vergeblich bestrebte, die freie Straße zu gewinnen, um zur Kirche, die er besuchen wollte, hinzulenken. Nun hatte der Barigello auch schon alle Fassung verloren und schrie mit seiner donnernden Stimme: »Ihr, der Herr Raimund? Großmütig? Elender Wicht! Ihr seid selber ebenso schlimm wie jenes Gesindel, denn Ihr beschirmt diese Räuber und Mörder, Ihr zieht Vorteil von diesen Landflüchtigen, Ihr seid ein Empörer und Rebell gegen Eure Obrigkeit und unsern Heiligsten Vater, und wenn ich wollte, so könnte ich Euch selber als Gefangenen in den Kerker werfen, und wenn ich es jetzt nicht tue, so bin ich, als Amtsverwalter, der Großmütige gegen Euch!«

»Nichtswürdiger Hund! Bestie!« schrie der Graf, von Wut ganz außer sich; »die Canaille will wie ein Prinz reden.«

Und mit diesen Worten holte er mit der Reitpeitsche aus und schlug von oben dem nahe stehenden Barigello so heftig über das Antlitz, daß dieser im ersten Augenblick glaubte, blind zu sein. Als der plötzlich reißende Schmerz, der ihn betäubt hatte, entwichen war, sah er sich nach seinen Leuten um, winkte, und auf dies früher verabredete Zeichen donnerten zehn Schüsse aus den scharf geladenen Doppelhaken. Ein Schuß ging dicht dem Kardinal Montalto vorüber; entsetzt sprang das Volk auf die Seite, die Straße ward für den Augenblick frei. Der junge Rusticucci lag, aus der Brust blutend, seinem Rosse hintenüber, er griff ohnmächtig mit den Händen auf die Steine, als wenn er sich aufrichten wollte, das Pferd schlug hinten aus, sprang seitwärts und schleppte ihn eine Strecke über das Pflaster, bis er als Leiche niederfiel. Graf Raimund war totenbleich, er blutete stark, auch in die Brust getroffen, seine Leute hoben ihn vom Roß und trugen den Ohnmächtigen nach seinem Zimmer, andere Diener rannten nach Ärzten. Savelli hing über den Hals seines Pferdes vorn, er nannte wimmernd den Namen seines Schwagers, Luigi Orsini; ein Stallmeister empfing ihn in seinen Armen, und da er ebenfalls ohne Besinnung war, ward er auch, indem er viel Blut verlor, in den Palast getragen.

Ein stummes Entsetzen hatte sich des Volkes bemächtigt. Aber so sehr diese geringen Menschen vom Adel waren gequält und mißhandelt worden, so betrachteten sie doch mit Grauen diese blutige Tat der Häscher. Die Jünglinge, die so schmählich endigen mußten, dauerten sie so sehr, daß sie Tränen vergossen und sich nicht fassen konnten, wie sie mit ihren Augen etwas so Ungeheures erlebt und gesehn hatten, was ihnen selbst nach der Tat als etwas Unmögliches erschien.

Der Barigell führte mit seinen Häschern die Gefangenen triumphierend in das Gefängnis, denn es fiel im Hause keinem mehr ein, die Banditen zu verweigern, da sie vollauf mit ihren sterbenden Gebietern zu tun hatten.

 

Vittoria lebte völlig einsam und zurückgezogen, aber nicht als eine Gefangene im Kastell. Ihre Zimmer waren angenehm geschmückt, zwar nur mit einer Aussicht in den innern Hof, aber doch nicht unerfreulich. Der Gouverneur besuchte sie zuweilen und zeigte ihr die größte Hochachtung, dessen Leutnant Vitelli, ein jüngerer Mann, mischte einige Zärtlichkeit, ja Leidenschaft in den Ausdruck seiner Verehrung, weil er von der Schönheit Vittorias, die er früher noch niemals gesehn hatte, bezaubert war. Sie verstand recht gut, daß diese Gefangennehmung, wie sie es mit allem Anstand doch war, sie vom Herzog trennen solle, damit nicht geschehe, was die Familie und auch die Mediceer fürchteten, daß er sich mit ihr vermähle und so auf neue Erben viele von den Gütern der Bracciano übergehen möchten. Da sie aus dem ihr angedrohten Prozeß mit Triumph geschritten war, so überließ sie der Zeit, ihr künftiges Schicksal zu entwickeln. Sie war jetzt damit zufrieden, daß sie die Verlobte des Mannes war, den sie verehrte und liebte.

Daß ihre Mutter, wie man ihr sagte, nicht wohl sei, betrübte sie innigst, da es ihr unmöglich war, sie zu pflegen und zu trösten. Sonst wies sie alle Besuche, die zuweilen die Erlaubnis des Governadors erhielten, zurück; denn da sie den Herzog Bracciano nicht sehen sollte, er auch keinen Versuch machte, bei ihr einzudringen, so wollte sie kein anderes menschliches Angesicht schauen außer ihre Wächter und die alten Freunde ihrer Kindheit, Guido und Ursula, welche sie mit sich genommen hatte.

Bracciano hatte dem Papst und dem Mediceer versprechen müssen, jetzt seine Verbindung mit Vittorien aufzugeben. Unter dieser Bedingung hatte man die Anklage fallen lassen, die Gerüchte unterdrückt, keine andre Zeugen verhört und Vittoria selbst auf anständige Weise bewacht. Bracciano sah ein, daß, wenn er nicht nachgäbe und zum allgemeinen Ärgernis unmittelbar nach des Gatten Tode sich mit der Witwe vermählte, der verletzte Papst unerbittlich, seine Familie unversöhnlich sein und er alle Gunst des Volkes verlieren würde. Alles, was boshafte Feinde gegen die Accoromboni aufbringen konnten, erhielt dann eine große Wahrscheinlichkeit, und da nur die äußere Tatsache erschien und die innersten geistigen Ursachen, das moralische Getriebe verborgen bleiben mußten: so setzten sich beide dem allgemeinen Abscheu aus, und es entstand dann die Frage, ob der Herzog, trotz seiner Stellung, mächtig genug sei, der Kabale gegenüber Vittorien vor Schande, Einkerkerung, vielleicht gar schimpflichem Tod zu schützen, ja ob er nicht selbst, überwältigt, den Sturz teilen würde. So waren es denn doch die Umstände, welchen diese beiden starken Naturen nachgeben mußten. Sie beugten nur ungern den stolzen Nacken, aber das Schicksal, das sie selbst herbeigerufen hatten, bezwang sie dennoch.

In dieser ruhigen, fast anmutigen Einsamkeit war alle Bitterkeit aus dem Gemüt Vittorias verschwunden. Sie erlebte jetzt den Zustand, in welchem auch der starke Geist sich nicht ungern einer unbedingten Passivität hingibt. Dies ist kein Verzagen, Sichaufgeben oder ohnmächtiges Verzweifeln, sondern die Seele taucht sich willig, wie in einen erquickenden Schlaf, in ein behagliches Vergessen unter, um wieder neue Kräfte für andre, vielleicht nahe Stürme zu sammeln.

Nur einmal war ihr Zorn in seiner ganzen Stärke wieder aufgewacht. Der älteste Bruder, Ottavio, hatte sich, mit Erlaubnis des Gouverneurs, bei ihr melden lassen und dringend ein Gespräch verlangt. Sie war nicht zufrieden damit, ihn kurz abzuweisen, sondern schickte ihm noch ein Billett voll Bitterkeit durch den Diener, in welchem sie ihm von neuem seine Schlechtigkeit vorwarf. Man sagte ihr, daß er mit sehr bekümmerten Mienen sich entfernt habe.


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