Ludwig Tieck
Victoria Accorombona
Ludwig Tieck

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Sechstes Kapitel

Nach kurzer Zeit, nachdem Graf Pepoli nach Rom zurückgekommen war, machte er sich mit dem freigewordenen Ascanio auf den Weg nach den sabinischen Bergen. Als sie im Felde waren, sagte der Freigewordene: »Nur zwei Arten von Menschen wissen das Glück der Luft, der Landschaft und des hellen Wetters zu würdigen, der Kranke, der eine tödliche Krankheit in seinem Bette überstanden hat und sich nun wieder erholt, um die Natur nach langer Zeit mit neu anwachsenden Kräften zu begrüßen, und der Gefangene, der monatelang im dumpfen Kerker schmachtete. Ach, welches Glück, Licht und Luft zu genießen! Wen sie so in die freie Landschaft hinaushängen, der ist auf keinen Fall so übel daran, als dem sie in einem engen Gefängnishofe den Kopf abschlagen.«

»Habt Ihr nun Hoffnung,« fragte der Graf, »daß wir unser Geschäft bald vollenden und sogleich den armen Alten werden befreien können?«

»Wenn ich aufrichtig sprechen soll,« erwiderte jener, »so habe ich dazu die Hoffnung immer mehr und mehr aufgegeben, je mehr ich mir die Sache und ihre Schwierigkeiten überlegt habe. Denn ich sehe ein, sie haben seit meiner Gefangenschaft das ehemalige Zutrauen zu mir verloren; viele Dinge müssen sich geändert haben, daß jener Antonio mit Euch so barsch verfahren durfte. Wenn Ihr mir also mißtraut, mein Wohltäter, oder wenn Ihr irgend zagen wollt, da ich selbst nicht mehr weiß, wie ich mit jenen ruchlosen Menschen stehe, so mögen sich hier unsere Wege auf immer trennen, und ich werde mich ewig Eurer Wohltat erinnern, die ich Euch nicht habe vergelten können.«

»Und jener arme Gefangene?« rief Graf Pepoli aus, »dessen einzige Hülfe und Hoffnung ich auf Erden bin? Nein, mein guter Ascanio, laßt uns beide das Letzte, das Äußerste versuchen. Wenn man nur den Mut nicht verliert, so gestalten sich die Sachen immer besser, als man es erst erwarten konnte.«

»Ich wandle mit Euch,« rief jener, »und wenn es in den Tod ginge.«

Sie näherten sich dem Gebirge, und Ascanio fand es jetzt notwendig, sein Antlitz und seine Tracht zu verstellen. So kamen sie nach Subiaco, und ohne sich beim Apotheker aufzuhalten, begaben sie sich in das Haus des Barigello. Der Kleine lächelte verschmitzt, als er ihnen die Tür öffnete. Oben saß in einem andern Zimmer als jenem leeren das Oberhaupt der Häscher. »Richtig,« rief ihnen dieser entgegen, »heute haben wir Neumond, und ihr seid weder zu früh noch zu spät gekommen. Wir gehn hinauf nach dem Gebirge, denn die Versammlung ist dort; Ihr, Ascanio, kennt den Ort wohl: dort ist schon manches Urteil gesprochen worden, dort hat sich auch schon manche Strafe und Hinrichtung vollstreckt.«

Antonio hatte indessen auch eine gewöhnliche Tracht angelegt, und unten im Hause trafen sie vier Sbirren, welche als Bauern gekleidet waren. Ascanio betrachtete diese Anstalten mit großen Augen, denn sie schienen ihm nichts Gutes zu verkündigen, und der Graf, der die Angst seines Reisegefährten wohl bemerkte, fing auch an, unruhig zu werden.

In der Einsamkeit, als sie den Hügel überstiegen hatten, begegneten ihnen immer mehr und mehr Menschen, die sich ihnen anschlossen, so daß nach einiger Zeit ihr Zug ein sehr ansehnlicher war. Ascanio schaute ängstlich um sich, redete diesen und jenen an, da ihm aber keiner antwortete, so schwieg er endlich verlegen und überließ sich gefaßt und stumm seinem Schicksale.

Jetzt waren sie mitten im Walde, weit abgelenkt von der gewöhnlichen Straße. Sie standen auf einem runden, grasbewachsenen Platze, der mit hohen Felsenstücken steil umgeben war. Hier wurde haltgemacht, und hinter den Felsen traten mehrere Gestalten hervor, die dem Ascanio sehr wohl bekannt waren, die aber alle beim ersten Auftreten sich so fremd gegen ihn stellten, als wenn sie ihn niemals gesehen hätten. Plötzlich sprang ein großer, rüstiger Mann in ihre Mitte und rief: »Jetzt sind wir beisammen, um Gericht zu halten.«

Derjenige, der so rief, war in seiner Gestalt und seinem Antlitz auffallend genug. Er war ganz schwarz gekleidet: ein breiter Hut bedeckte sein Gesicht, auf welchem eine schwarze Feder schwankte. Sein Gesicht hatte den Ausdruck ungeheurer Wildheit, von einer großen Narbe, die quer über die linke Wange lief, noch mehr entstellt; in seinen Gebärden wie in seinen Reden war er sehr hastig, so daß er in seiner Eile oft stotterte und manche Worte nur undeutlich zu vernehmen gab.

»Hierher, Ascanio!« schrie dieser unbändige schlanke Mann, »Rechenschaft wird abgelegt, wen du von uns verraten hast und warum du mit einem ganz fremden Mann ein Komplott geschmiedet hast, um uns alle an das Messer zu liefern!«

Ascanio erzählte alles genau und umständlich: seine zufällige Gefangennehmung, wie man ihn von den übrigen getrennt und auf die Engelsburg gesetzt habe, ein Ereignis, das ganz gewiß von den Anführern der Brüderschaft selber herrühre. Nun sei der bekannte Strada zum Tode verdammt, dieser habe dem Grafen Pepoli, der sich um den Gefangenen aus Subiaco großmütig bemüht, zuerst den Ascanio genannt, weil dieser vielleicht Mittel und Wege angeben könne, den wohltätigen Zweck zu erreichen. Sei irgendein Verrat vorgefallen oder etwas dem Ähnliches, so sei einzig und allein dieser Verbrecher zu schelten. »Es war wohl natürlich,« endete der Sprechende, »daß ich meine Freiheit wünschte und die Gelegenheit ergriff, die mir ein edler Mann anbot, und ihr solltet alle jubeln darüber, weil ich nicht weiß, was die Schwäche meiner menschlichen Natur auf der Folter oder die Furcht vor dieser möchte ausgesagt haben. Nun seid ihr dieser Besorgnis los, und es gilt nur noch, wegen des alten Gefangenen mit dem Grafen zu unterhandeln und dabei überdies ein ansehnliches Geld zu verdienen.«

»Nein!« rief der große, wilde Mensch und stampfte dazu mit den Füßen; »keine Auslösung, wenn es nach mir geht! Wozu haben wir den alten Graubart dort seinem weichen Bett entrissen? Um ein Beispiel aufzustellen, um die Gerichtshöfe, Häscher und Soldaten einzuschüchtern, daß keiner allzu dreist uns in die Zügel zu greifen wage. Der Preis, den wir festgesetzt, sollte nur dienen, Überkluge, Vorwitzige herbeizulocken und die kennen zu lernen, die uns etwa jetzt oder in Zukunft gefährlich werden könnten. Auch diese wollten wir verderben und nachher die Glieder des Alten, zum Schrecken und Entsetzen der Gerichte und Häscher, in den Städten und Dörfern als Denkmal unsrer Macht und unerbittlichen Grausamkeit aufstecken. Nun soll alles dies durch Wort und Rede eines schwächlichen Verräters und auf sein Ansinnen vergeblich sein und widerrufen werden? Nein, ihr meine männlichen, starken Freunde, laßt euch nicht so arg von einer glatten Zunge betören. Der Fremde, der so vorwitzig unsere Kreise betrat, er falle zuerst, zum abschreckenden Beispiel anderer Überklugen und Anmaßlichen. Nachher mögen wir untersuchen, ob uns Ascanios Leben oder Sterben nützlicher sei, denn er weiß allerdings zu viel, als daß wir ihn nicht als eines der bedeutendsten Glieder unseres Bundes betrachten sollten. So zieht denn die Schwerter!«

Mit einem wilden, tierischen Geschrei waren mehr als hundert Waffen entblößt. Bei diesem Anblick sprang Ascanio wie rasend von seinen Begleitern fort und stellte sich dem Redenden gegenüber. »Halt!« schrie er, so laut er es vermochte, »seid ihr unsinnig? Bist du, Hauptmann, trunken? Diesen Großmütigen, den harmlosen Fremden wollt ihr in eurer tierischen Wut aufopfern? Und ich soll ihn auf die Schlachtbank geliefert haben? Ich, der Befreite, seinen Wohltäter? Wenn ihr denn nicht Mensch, wenn ihr denn rohes Vieh sein wollt, so nehmt mein Blut zuerst, so treu ich euch und dem Bunde immer war, schlachtet mich zu eurer Sicherheit, der ich um alle eure Geheimnisse weiß, aber ihn, den edlen Mann, laßt zu seiner Heimat sicher und ungefährdet zurückkehren. Das sei das letzte Zeichen eures Wohlwollens für mich, eures ehemaligen Vertrauens, daß ihr mich statt seiner als freiwilliges Opfer annehmt.«

»So seis fürs erste!« schrie der Unbändige mit schäumendem Munde, und so war es in einer Sekunde um Ascanio und wohl auch um den Grafen geschehn, wenn nicht in demselben Augenblick, schnell wie ein Blitz vorspringend, ein schöner schlanker Jüngling vor dem Wütenden gestanden hätte. – »Steckt eure Degen und Dolche ein,« rief er mit lauter, wohlklingender, aber doch gebietender Stimme; »ich habe alle eure Reden vernommen, ich war noch kürzlich selbst in der Stadt und kenne die Umstände genau; ich weiß, Ascanio ist unschuldig und ganz im Recht, ihr wart im Begriff, einen Mord zu begehn, anstatt ein Strafurteil zu vollziehen Willst du, Ascanio, nun wieder zu uns treten, oder darfst du es wagen, für dich selbst dein Leben zu führen, uns unbekannt und keinen kennend, wer dir auch von uns jemals wieder erscheinen wird?«

»Das letzte ist mein Wunsch, edler Hauptmann«, sagte Ascanio mit bittender Stimme.

»Und Ihr, Graf,« fuhr der Jüngling fort, »wünscht Euren alten Vetter wieder zu haben und selbst ungefährdet aus diesem zornigen Kreise zurückzukehren?«

»So ist es«, antwortete Pepoli.

Der junge Mann entfernte sich hierauf mit dem Grafen tiefer in den Wald, wo sie von niemand gehört werden konnten. »Ihr seid mir dankbar,« fing er an, »wenn ich Euern Wunsch erfülle?«

»Ohne Zweifel.«

»Und was tätet Ihr wohl, wenn das alles in Freundschaft und selbst ohne das mindeste Lösegeld erfüllt würde?«

»Alles«, antwortete der Graf und sah ihn mit Verwunderung an.

»Es geschehe,« fuhr jener fort, »wenn Ihr mir Euer Ehrenwort gebt, niemals von allem, was Ihr gesehn und gehört, zu irgend jemand zu sprechen, keinen von uns zu kennen, wo Ihr ihn auch wieder treffen mögt, oder ihn gar auf diese Begebenheiten anzureden, – und zweitens, wenn Euch jemand diese Chiffre bringt, ihn anzunehmen, einige Stunden zu verbergen und heimlich und sicher weiterzuschaffen. Wenn Euch diese Kleinigkeit ein Äquivalent ist für jenes Alten und Euer eigenes Leben, so reicht mir die Hand an Eides Statt, daß Ihr diese nicht schweren Bedingungen erfüllen wollt.«

Der Graf gelobte.

»So geht denn mit Eurem Ascanio zur kleinen Stadt zurück, ruht und erholt Euch dort im Gasthofe, binnen einer Stunde wird der Alte, der so lange entfernt war, bei Euch sein.«

So geschah es. Der Alte ward zu seinem Verwandten, der um ihn so viel gewagt hatte, unbeschädigt und ziemlich wohl hingeführt: die Freude, sich wiederzusehn, wurde von beiden nicht ohne Tränen gefeiert. Man machte Anstalten, bequem nach Rom zu reisen, Ascanio aber, der eine Sehnsucht zu den Seinigen hatte, die im Florentinischen lebten, wollte auf dem kürzesten Wege zu diesen eilen. Der Graf gab ihm die ganze Summe zum Geschenk mit, die er für die Auslösung seines Verwandten bestimmt hatte.

Langsam und bequem ward jetzt mit dem kränkelnden Alten die Reise nach Rom unternommen. In der Nähe der Stadt stieg der Graf vom Wagen, um zu Fuß durch das Tor zu gehn. –

Am frühsten Morgen schon hatte Donna Julia den feinsten und zierlichsten Brief vom Kardinal Farnese empfangen. Er sagte in diesem: der sicherste Beweis, welche Leidenschaft ihn schon seit lange für Vittoria entzündet habe, sei die rohe Ungezogenheit, zu welcher er sich in seinem vorgerückten Alter habe hinreißen lassen, wodurch er sich und seinen Stand entwürdigt sowie seine liebste und teuerste Freundin gekränkt und verletzt habe. Wie es aber edlen Seelen anstehe, dergleichen traurige Augenblicke, in welchen wir uns nicht selbst angehören, zu vergessen, so sei er auch überzeugt, die Großmütige habe ihm schon vergeben, und sein Bestreben solle sein, durch alle nur irgend möglichen Beweise der Freundschaft sie auch diese schwarze Stunde vergessen zu machen. Erhoffe also, als ein Zeichen der Vergebung die Erlaubnis erneuert zu sehen, ihr Haus besuchen zu dürfen, um Zeuge des Glückes zu sein und seinen Geist, wie es immer geschehe, an diesen herrlichen Gemütern der beiden Frauen zu erheben und zu erfrischen. –

Es war beschlossen, das Fest der Vermählung nur mit wenigen der vertrautesten Freunde zu feiern. Der Kardinal fühlte sich zu unwohl, um zugegen sein zu können, doch war der alte Caporale eingeladen, einige Edelleute mit ihren Frauen und der Graf Pepoli, von dem man aber erfuhr, daß er verreist sei und keiner den Tag seiner Wiederkehr bestimmen könne. Jetzt trat aber Graf Pepoli umgekleidet vor die Kirchentür, indem der Zug der Hochzeiter sich aus dem übervollen Tempel drängte, denn Adel und Unadel waren zugegen gewesen, um die Zeremonie anzusehen. Der Graf begrüßte die Mutter nicht ohne Bewegung, indem er sagte: »Wie glücklich ist dieser junge Bräutigam, wie sehr könnte ich ihn beneiden!« – Die Mutter flüsterte ihm entgegen: »Wenn Ihr mir früher im Ernst so gesprochen hättet, wäre ich auch wohl glücklich.« – Pepoli stutzte. Geputzt, mit dem frischesten Ansehn der Gesundheit zeigte sich Marcello mit dem Bruder Flaminio. Die Braut erschien als ein Wunder, so groß und glänzend, daß der kleinere Bräutigam neben ihr sich als unmündig und beinahe lächerlich zeigte. – »Ich werde es Euch gedenken!« sagte eine Stimme halbleise hinter Vittoria; »ein Ehemann, dessen Ihr Euch schämen müßt! Wir sprechen uns, trotz aller Verbote, doch wohl ein andermal wieder.« – Sie sah sich scheu um – der wilde Luigi Orsini stand hinter ihr.

Der Zug stieg die Treppe hinab. Ein Tumult erhob sich auf der Straße. »Sie führen die Galeerensklaven vorüber«, sagte ein Bürger. Man hörte das Getöse und Klirren der Ketten. Alle verweilten, um den Zug vorüberzulassen. – »Ha! Fluch! Fluch euch!« schrie eine laute Stimme in Verzweiflung. Virginia war einer Ohnmacht nahe, denn sie erkannte in dem Gefesselten Camillo. – »Du Braut!« schrie dieser wieder, »Marcello neben dir mit Edelsteinen, und ich in Ketten! Ja, der Himmel, alle Heiligen verfluchen diese sündliche Ehe! Die Hölle jauchzt, und die Teufel steigen frohlockend aus dem Abgrund, dir den Brautkranz, die süße Myrte aufzudrücken!«

Alle entsetzten sich. Die Geißel der treibenden Häscher schwirrte, und tosend, klappernd zog die gefesselte Bande vorüber; viele in dieser lachten laut, schadenfroh, andere grinseten boshaft und wiesen im tückischen Lächeln die weißen Zähne. Die Hochzeit begab sich nach dem aufgeschmückten Hause und zum festlichen Mahl.


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