Ludwig Thoma
Münchnerinnen
Ludwig Thoma

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Auf der Straße fiel ihr ein, wie leicht der Brief zu öffnen war; aber es stand doch nichts darin, was ihn oder sie bloßstellen konnte.

Sie überlegte, ob sie nicht doch in einem Laden einen andern Brief schreiben sollte, und ohne daß sie sich dazu entschlossen hatte, trat sie, wie unter einem Zwange handelnd, bei einem Buchbinder ein und schrieb einen längeren Brief voll ängstlicher Fragen, Bitten und wieder Fragen. Nun hatte sie einen Grund, gleich wieder zu seiner Wohnung zurückzukehren. Als sie zum Nationalmuseum kam, sah sie Franz um die Ecke biegen. Sie eilte nach und kam fast ins Laufen; ein paar Arbeiter riefen ihr nach. »Hö... Muckerl... pressiert's so?...«

Nun war sie ihm bis auf wenige Schritte nachgekommen.

»Franz!«

Er drehte sich hastig um. Er war überrascht, verlegen.

»Du bist's?«

»Ja, ich war bei dir.«

»Aber ich hab dir doch geschrieben...«

»Deswegen bin ich zu dir. Willst du mir's verbieten, daß ich zu dir nauf komm?«

Sie war auffallend blaß, und ihre Augen flackerten.

»Nein... Warum soll ich dir's verbieten? Ich hab dir doch in deinem Interesse geschrieben, daß ich möglicherweise Besuch bekomme, daß Tante Lies meine Bude ansehen will...«

»Vor ein paar Wochen hätt'st du kein B'such ang'nommen...«

»Aber...«

»Nein, das weiß ich.«

Er hatte Mitleid gefühlt, aber nun regte sich wieder der Unmut in ihm.

»Was kann denn ich dafür? Entschuldige halt, daß sich meine Leute daheim noch um mich kümmern. Vielleicht grad deswegen, weil ich dir zulieb nicht heimg'fahren bin. Soll ich vielleicht...?«

»Red nicht so! Bitte, bitte, red nicht so! Ich muß sonst laut hinausweinen.«

»Warum soll ich nicht reden? Ich muß dir doch sagen...« Sie blieb stehen und fing leise zu wimmern an. Wie im Krampf zog es sie zusammen.

»So nimm doch Vernunft an! Da kommen Leute...«

»Ich kann nix dafür... ich kann nix dafür...«

»Paula... wir sind auf der Straße ich bitte dich...«

»Es ist alles aus... alles... alles...«

»Also, das geht nicht...«

Herr Studiosus von Riggauer war in der peinlichsten Verlegenheit. Eine solche Szene auf offener Straße!

Ein Herr, der den besten Ständen anzugehören schien, hatte sie im Vorübergehen sehr befremdet und unmutig angesehen. Er hatte sogar so etwas wie Skandal vor sich hingemurmelt. Zwei ältere Damen hatten von der anderen Seite der Straße scharfe Blicke herübergeworfen. Und eben näherten sich wieder einige Leute.

Da war ja das, was er seit kurzer Zeit befürchtete, was drohend vor ihm gestanden war. Die Bloßstellung, die Gefährdung seiner Existenz, die Vernichtung, ja die auch, die Vernichtung von Hoffnungen, die sich gerade in ihm geregt hatten.

Natürlich dauerte sie ihn; aber das war nicht das stärkste Gefühl in ihm. Eine jämmerliche Angst kam über ihn.

Sollte sich das, was er seit ein paar Tagen eine Torheit nannte, an ihm rächen?

Nahm sie nicht die geringste Rücksicht auf ihn?

Er stampfte zornig den Fuß auf, aber ein Blick auf sie zeigte ihm, daß er nur mit gütlichem Zureden etwas ausrichten konnte.

»Paula... ich bitte dich wirklich... du kannst doch nicht auf der Straße so weinen... komm zu mir hinauf!«

»Du willst doch nicht, daß ich... ich darf doch nicht... nicht mehr...«

»Ich bitte, komm! Es geht nicht, daß wir da stehen. Willst du nicht?«

»Ja...«

»Also, dann gehen wir...«

»Ja... mir ist so schwindlig... darf ich mich einhängen?«

Sie fragte es ängstlich, fast demütig... Herr von Riggauer zögerte einen Augenblick. Es war möglich, daß jemand kam, der ihn kannte. Aber dann war es unangenehmer, wenn der die Szene beobachtete. Er bot Paula den Arm an.

»Häng dich nur ein!«

Sie stützte sich fest auf ihn.

»Du mußt entschuldigen... meine Füß zittern so...«

»Nimm dich nur zusammen, es geht schon, aber...«

»Was meinst?«

»Ich dachte mir, wegen der Hausfrau... Du sollst dich nicht zu stark gehen lassen... bei mir oben...«

»Ich kann doch nix dafür...«

»Ich sag's nicht als Vorwurf... ich möcht nur nicht, daß die Person weiß Gott was herum erzählt...«

Er sah ein, daß er behutsam sein mußte; sie konnte einen neuen Anfall bekommen. Er ging nun schweigend neben ihr her, und wie er immer in Angst vor einer neuen Szene beinahe die Schritte zählte, die er noch gehen mußte, sagte er in sich hinein: »Das ist einfach nicht mehr möglich... das ist einfach nicht mehr möglich.«

Er atmete auf, als sie vor seinem Hause anlangten.

»Wart einen Moment... ich geh rasch hinauf und laß die Tür offen...«

»Ja...«

Sie sagte es ganz mechanisch.

Sie wehrte sich kaum mehr gegen das trostlose Gefühl, das seine Worte wie sein Schweigen bestärkt hatten.

Was wollte sie noch? Es war doch aus.

Aber sie wollte es von ihm hören; so weg gehen und in Ungewißheit bleiben, schien ihr unerträglich.

Der Studiosus von Riggauer ging nicht rasch die Treppe hinauf, er nahm mürrisch und nachdenklich Stufe für Stufe.

»Also das ist einfach unmöglich...« Diesmal sagte er es halblaut vor sich hin. War das keine Zwangslage, daß sie da unten stand und dann herauf kam und erst recht wieder eine Szene machte? Um halb acht Uhr sollte er bei der Generalin sein, bei der nun Fanny wohnte. Ob er weg konnte? Ob er Paula dazu brachte, daß sie sich beruhigte und heimging? »Also das...« Er seufzte, als er die Türe aufschloß. Die Hausfrau rief aus der Küche:

»Herr Baron... es liegt a Briaf für Eahna drin...«

»Ja... is schon recht«, sagte er verdrossen.

»A Frauenzimmer hat'n bei mir in da Kuchl g'schrieb'n... i hab ihr an Briafbogen geb'n müass'n...« Frau Schinnagl kam in den Gang heraus und war zu einem Gespräche aufgelegt.

»Sie, Herr Baron, i sag Eahna, wia de z'rupft ausgschaugt hat...«

Er ging in sein Zimmer, ohne ihr eine Antwort zu geben, und die Schinnaglin wollte schon die Küchentüre schließen, als sie die Wohnungstüre zuklappen hörte.

Sie spähte hinaus und sah Paula, die erst zögernd vor dem Zimmer stehen blieb, vor sie hineinging.

»Ah so... hat s' 'n abpaßt...«

Herr von Riggauer war nervös, und sein Unbehagen steigerte sich, als Paula im Zimmer stand und an ihm vorüber zum Fenster hinsah.

Die kahlen Äste eines Kastanienbaumes schwankten draußen im Winde. Damals, als sie das erste Mal hier war, standen noch verspätete rote Blütenkerzen zwischen den Blättern.

Dachte sie daran?

Sie blieb unbeweglich stehen und schwieg. Sie wußte, wenn sie ein Wort sprechen, wenn sie ihre eigene Stimme hier in diesem Raume hören würde, könnte sie sich nicht mehr aufrecht halten. Diese Stille war peinigend.

»Willst du dich nicht setzen?«

Paula schüttelte den Kopf.

»Also, dann bitte, sag mir, was du mir sagen wolltest...«

»Ich dir?«

»Ja... du wolltest doch zu mir... und hast mir auch geschrieben.« Er nahm ihren Brief vom Tische und öffnete ihn.

Er hatte ihn also vorher gar nicht beachtet.

»Da... du schreibst ja: Ich muß dich sprechen...«

»Das war vorher.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Nein; ich weiß auch so alles...«

»Was weißt du?«

»So quäl mich doch net so!« schrie sie hinaus.

»Entweder du wolltest mir etwas sagen, schön... ich bin mit dir hergegangen, ich hab dich gebeten, heraufzukommen – oder«, Herr von Riggauer wurde lehrhaft, »oder du wolltest nicht mit mir reden, dann verstehe ich nicht, warum du so darauf bestanden hast...«

»Das verstehst du nicht?«

»Nein. Wirklich nicht. Ich verstehe auch nicht, warum du mir eine solche Szene gemacht hast. Auf der Straße.«

Sie sah ihn an.

War das wirklich der gleiche Mensch, der ihr in diesem Zimmer hundert törichte, verliebte Dinge gesagt hatte?

Er stand vorne am Fenster und lehnte sich an die Brüstung. Dabei sah er zur Feuermauer des Nachbarhauses hin und vermied es, ihrem Blicke zu begegnen.

Es beruhigte seine Nervosität, wenn er sprach.

»Was war denn eigentlich? Ich hab Besuch bekommen von einer Familie, mit der meine Leute sehr gut stehen, die mich von Jugend auf kennt. Hätt ich sagen sollen: Adjö, tut mir leid, ich hab keine Zeit für Euch? Meine Mutter hat ihrer besten Freundin den speziellen Auftrag gegeben, sich nach mir umzusehen. Natürlich war das überflüssig, weiß ich schon, aber am Ende kann ich nicht zu der Dame sagen: sparen Sie sich Ihre Bemühungen, ich habe was Besseres zu tun, oder so ähnlich. Ob es mir angenehm war oder nicht, jedenfalls ich mußte das dankbar annehmen, und ich mußte ganz einfach die Dame bitten, zu mir zu kommen und mein Zimmer anzusehen. Und wenn das so war, dann blieb mir nichts anderes übrig; das war doch logisch – ein drittes gab es einfach nicht –, daß ich an dich schrieb: Sei so gut und komm nicht, meine Bude ist momentan nicht sturmfrei, ich kann Besuch bekommen, du kannst Begegnungen ausgesetzt sein, die für dich peinlich wären, et cetera. Ich meine, das war doch logisch und außerdem meine Pflicht gegen dich. Und ich gestehe dir ganz offen, mir selbst wäre es sehr unangenehm, wenn die Leute zu Hause erzählten, sie hätten bei mir Damenbesuch angetroffen. Abgesehen davon, daß sie das als Beleidigung auffassen können. Gewisse Rücksichten habe ich ganz einfach zu nehmen; tut mir leid, daß es dich momentan kränkt, aber ich kanns nicht ändern. Und du kommst doch in der Voraussetzung zu mir, daß du absolut sicher bist, und für diese Sicherheit habe eo ipso ich zu sorgen. Wenn ich dann schreiben muß: Heute ist diese Sicherheit nicht gegeben, liegt doch darin keine Kränkung. Das ist Vorsicht für dich, allerdings auch für mich, und ob das nun angenehm ist oder nicht, das spielt doch keine Rolle im Vergleich zu...«

Das Türschloß klinkte zu.

Franz, der bei seiner wohlgesetzten Rede auf und ab schritt, wandte sich um.

Paula war fort, war weggegangen, als sich ein Grund logisch aus dem andern entwickelte.

So... so? Man wollte die Trotzige spielen? Oder faktisch Schluß machen?

Er horchte und öffnete leise die Türe; sie war wirklich weggegangen. Auch gut. Oder nein, desto besser. Er stellte sich vor den Spiegel und runzelte die Stirne.

Seine Augen zeigten einen tiefen Ernst.

Es gibt Dinge, die man einfach durchfechten muß. Das Leben verlangt manchmal unbeugsame Härte, und... außerdem, es war einfach nicht mehr möglich.


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