Ludwig Thoma
Münchnerinnen
Ludwig Thoma

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Eines Tages sagte Tscharlie auf und verließ Haus und Firma Globerger, um die Witwe eines Mühldorfer Kaufmanns zu heiraten.

Es waren unangenehme Zeiten für Benno, der nunmehr die Unzuverlässigkeit der neuzeitlich verbildeten Angestellten, ihre hohen Ansprüche, ihren Mangel an Kenntnissen, ihr taktloses Benehmen, ihre Undankbarkeit so gründlich kennen lernte, daß er darüber die lehrreichsten Gespräche in der Weinstube führen konnte.

Selbst diese Erholung wäre ihm beinahe durch den ständigen Wechsel der Ladendiener verkümmert worden, und mehr wie einmal hatte er den Hut wieder an den Nagel gehängt, um bis zur Mittagszeit zu bleiben und dem neuen Kommis ein Beispiel der Pflichttreue zu geben.

Aber zuletzt siegte stets der unwiderstehliche Trieb in ihm, und er fand auch Mittel, den Neuling zu täuschen, indem er laut nach dem Postauslauf fragte, oder ein Bankgeschäft telephonisch anrief und ihm seinen sofortigen Besuch in Aussicht stellte, oder sich irgendwie mit Widerstreben, unter Seufzen über Zeitverlust, durch dringlichste Angelegenheiten bewegen ließ, einen Gang zu machen.

Zuweilen füllte er ein Geldkuvert mit leeren Briefbögen an, petschierte es sorgfältig an den vier Ecken und in der Mitte mit Siegellack und hantierte damit so auffällig im Laden, daß der neue Kommis den Geldbrief sehen und an eine wichtige Postsendung glauben mußte.

Allein es war zumeist überflüssig, daß der grinsende Lehrling den Neuling über die wahre Natur der Geschäftsgänge aufklärte.

Wenn Angestellte von der Natur noch so kümmerlich mit geistigen Gaben bedacht sind, sie besitzen doch einen ungemein sicheren Instinkt für die Fehler und Schwächen ihrer Prinzipale.

Ein paar tüchtige junge Leute sahen darin die Unmöglichkeit, Nützliches zu leisten, und gingen, so schnell sich's machen ließ; einige Taugenichtse mißbrauchten sie schon nach einigen Tagen so plump, daß man sie entlassen mußte.

Das Ladengeschäft wurde zusehends schlechter und Benno immer verdrießlicher.

Als sechster in der Reihenfolge meldete sich ein junger Mann aus Innsbruck, Sebastian Rubatscher, der wenig Aussicht auf den Posten gehabt hätte, wenn nicht so viele Enttäuschungen vorausgegangen wären.

Er war ein vierschrötiger Mensch, langsam und bedächtig in jeder Bewegung und von einer unerschütterlichen Gemütsruhe.

Antreibende oder heftige Worte erwiderte er mit einem wohlwollenden Lächeln, zu dem er den Mund kaum eigens verziehen mußte, denn es saß immer um seine Lippen.

Zuweilen sagte er auch: »Woll, woll, Herr Ch... Chloberger«, und die in tiefen Kehllauten gesprochenen Silben kamen eine nach der andern mühsam hervor.

Seine Arbeit erledigte er willig, und es ließ sich ihm kein Versehen nachweisen, nur durften ihm nervenschwache Menschen nicht zusehen, wie er etwa Kaffee abwog oder die Waren in Papier einschlug oder Zigarren in die Tüten steckte, denn die Langsamkeit seiner übergroßen Hände wirkte aufpeitschend.

Und wenn er dazu, den Kopf seitlich geneigt, etwas träumerisch ins Leere schaute und vor sich hinlächelte, konnten reizbare Kunden in Wut geraten.

Aber da der Andrang nicht stärker wurde, ging die Sache von Woche zu Woche ihren ruhigen Gang; der Prinzipal bemerkte mit Wohlgefallen, daß sein Kommis immer gleich dienstfertig blieb und ehrerbietig zuhorchte, wenn er nach dem Präsentieren eines Wechsels über die unglaubliche Insolenz der Lieferanten und über das Schwinden aller reellen Prinzipien loszog.

Rubatscher machte zustimmende Gebärden und raffte sich sogar zu einer Bemerkung auf.

»Es sein höllische Facken«, sagte er.

»Was?«

»Höllische Facken sein s', sölle Lieferanten.«

»Dieser betreffende Wechsel da, der wo gestern in meiner Abwesenheit präsentiert worn is, bezieht sich auf eine Kaffeelieferung«, erklärte Benno. »Ich hab sofort reklamieren lassen, weil ich eine solchene Ware meinen Kunden nicht vorsetzen kann, ich hab auch Order geben, daß er auf der Stell der betreffenden Firma zur Verfügung gestellt werd. Natürlich, der Pilzweyer, Ihr Vorgänger, hat die Sache wieder einmal verschlampt. Aber die Tatsache, daß ich reklamiert habe, bleibt bestehen. Eine solche Firma hätte einem langjährigen Primakunden, von dem sie Tausende verdient hat, ganz einfach schreiben müssen: Soundso, wir bedauern Vorgefallenes und berechnen das Kilo mit soundso viel weniger und hoffen mit nächster Sendung geneigtes Wohlwollen oder Zufriedenheit oder so erwerben zu können. Das wäre kulant gewesen. Aber das gibt's ja nimmer, im Zeitalter der Warenhäuser und Schwindelfirmen! Schickt mir ganz einfach den Wisch, aber ich werde dieser Firma Dudenbostel und Kompagnie ein Licht aufstecken. Vielleicht werden die Herrschaften begreifen, mit wem sie es zu tun haben.«

Rubatscher legte sich auch innerlich nicht die Frage vor, warum der Herr Prinzipal den Wechsel ausgestellt habe, wenn und so weiter...

Er machte eine ernste Miene zu der unbegreiflichen Rücksichtslosigkeit der Firma Dudenbostel, und Benno ging als Sieger ab, um im Kontor einen beißenden Brief mit Weglassung aller Höflichkeitsformeln zu schreiben.

»Eigentlich kein übler Mensch«, sagte der Prinzipal zu sich selber. »Langsam und ein bissel dumm und ein echter tiroler Wastel, aber der Mensch versteht wenigstens, was ma der Autorität schuldig is. So was gfallt mir...«

Den Dienstmädeln in der Nachbarschaft gefiel Rubatscher auch; an der Joppe trug er auf der linken Achsel eine doppelte geflochtene grüne Schnur, die wie eine Epaulette aussah; wenn er sich auf der Straße sehen ließ, hatte er einen Steyrerhut schief auf dem Kopfe sitzen, und darüber ragte kerzengerade ein Gemsbart in die Luft.

Er hatte etwas Gebirglerisches an sich; man dachte gleich an romantische Alpenlandschaften und an treuherzige Menschen, wenn man ihn erblickte.

Einige erzählten, daß er wunderschön auf der Zither spiele und dazu singe; in den Abendstunden hörte man die anheimelnden Klänge, wenn sich Rubatscher in seinem Dachzimmer am offenen Fenster hören ließ:

»Drunt im tiaf'n Toll
Rauscht a Wossafoll...«

oder

»Zillachtoll, du bischt mei Freid!«

Das weibliche Gemüt neigt sich dem Ungewöhnlichen zu und ist dankbar für alles, was die Phantasie anregt.

Und die beschäftigte sich gerne mit dem Lande, in das man sich hineinträumen konnte, wenn man in klaren Herbsttagen von der Sendlingerhöhe aus die verschneiten Berge sah; aus Theaterstücken und Romanen wußte man, wie bieder und herzig die Leute dort sind, und wie sich das Leben dort viel ergreifender abspielt als in flachen Gegenden.

Von der erträumten Herrlichkeit, die stärker wirkt. als jede Wirklichkeit, fiel ein Schimmer auf Sebastian Rubatscher und verschonte ihn – was notwendig war, denn sein unreiner Teint, seine schadhaften Zähne und sein spärlicher Haarwuchs hätten streng urteilende Mädchen abstoßen müssen.

Die junge Frau Globerger hatte Augen für diese Mängel, und da angedichtete Romantik nur auf Entfernung standhält, im täglichen Umgange aber sogleich verblaßt, fand sie an dem neuen Ladendiener nichts, was ihr gefallen konnte.

Ganz abgeneigt war ihm die alte Frau, weil sein ungestümer Appetit eine Gefahr für den Haushalt bedeutete und, wenn man ihn nicht befriedigte, Grund zu schlimmen Befürchtungen gab.

Im Ofenloche in Rubatschers Zimmer hatte die rüstige Alte Häute von Zervelat- und Salamiwürsten entdeckt, auch in der Dachrinne lagen etliche neben einer Sardinenbüchse. Sie hinterbrachte das Ergebnis ihrer durchdringenden Forschungen sogleich Benno, der aber von der Aufforderung, den Sohn der Berge zu inquirieren, gar nicht angenehm berührt war.

Jemanden zur Rede stellen, lag nicht in seiner Natur.

So unzufrieden, ja so wütend er über die Vorgänger Rubatschers oft gewesen war, er hatte keinem seine Meinung gesagt.

Im Kontor hatte er vor seinem Pulte erregte Selbstgespräche gehalten und mit dem Lineal wütende Hiebe in die Luft geführt.

»Was wollen Sie? Frech wollen Sie sein? Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie unverschämter Flegel... Mich hintergehen, betrügen, faul sein, und noch 's Maul anhängen. Marsch hinaus!« Wenn er dann in den Laden ging, murrte er unverständliche Worte vor sich hin, öffnete hier eine Kiste, dort eine Büchse, schlug die Deckel geräuschvoll zu, hustete und zog sich ins Kontor zurück, um gleich wieder eine wohlgesetzte Rede zu halten:

»Also das verstehen Sie unter Ihren Pflichten und Aufgaben? Das ist Ihre Auffassung? Und ich habe sie einfach hinzunehmen? Meinen Sie? Nicht genug – schweigen Sie! jetzt rede ich! –, nicht genug, daß Sie mir die Sachen verderben lassen, daß Sie mir die Kunden vertreiben, kommen Sie mir auch noch so! Sie irren sich, Verehrtester... Es ist jetzt« – Benno zog die Uhr und blickte so energisch in den leeren Raum wie ein Feldherr oder ein oberster Richter – »es ist jetzt viertel über zehn... wenn Sie in einer Stunde noch im Hause sind, lasse ich Sie hinauswerfen... in einer Stunde, habe ich gesagt...«

Wenn er sich dann nach diesen gewalttätigen Selbstgesprächen etwas beruhigt hatte, schrieb er die Kündigung in höflicher Form nieder und steckte sie in ein Kuvert, das er dem Ladendiener oben im Stübchen auf den Tisch legte.

Am darauf folgenden Tage vermied es Benno geflissentlich, mit dem Menschen allein zu sein; er ließ den Lehrling ins Kontor kommen und gab ihm, um den er sich sonst nie kümmerte, allerlei schriftliche Aufgaben, sprach lehrhaft und gütig mit ihm und zeigte nebenher sein unbekümmertes Gemüt dadurch an, daß er vor sich hinträllerte. So wie Kinder singen, wenn sie im Dunkeln sitzen oder durch einen unheimlichen Wald gehen.

Wie hätte er nun Rubatscher ins Gebet nehmen, ihm einen peinlichen Verdacht ins Gesicht schleudern sollen? Das ging nicht, aber er wollte auch seinem Ansehen bei der Mutter nicht durch eine Weigerung schaden.

Er brummte mürrisch, daß er schon achtgeben wolle, und er ging auch einige Male ins Lager und zählte die Würste ab, die an Stangen hingen.

Zweiundzwanzig Salami, tags zuvor waren es vierundzwanzig gewesen.

Die Hände in den Hosentaschen, arglos vor sich hinpfeifend, ging er ein paarmal durch den Laden, blieb dann stehen und sagte:

»Apropos, daß i net vergiß, der Verkauf von Salami is jetzt wieder lebhafter, net wahr?«

»Söll woll, Herr Ch... Chloberger«, antwortete der Ladendiener, als müsse er seine Freude über das Aufblühen des Geschäftes zeigen.

»Nach meiner Berechnung müssen gestern allein zwei bis drei weggegangen sein... waren's größere oder mittlere?« fragte Benno.

»Sie wern nit gar so machtig gwösen sein...«

»So... No, jedenfalls wer i nach Verona dös Weitere veranlassen, daß uns der Vorrat net ausgeht.«

Benno ging ins Kontor, pfiff sein Lied zu Ende und trällerte ein paar Töne vor sich hin, warf aber doch einen versteckten und recht mißtrauischen Blick auf den Ladendiener hinaus, der gerade eine Tüte aufbließ und sehr mühsam einige Zigarren hineinsteckte.

»Hm... tra... lala...
Denn so wie du...
So lieblich und so schön...«

Der Prinzipal schloß die Türe zwischen Laden und Kontor, wippte das Lineal nachdenklich auf und ab, und plötzlich nahm sein Gesicht einen forschenden, durchdringenden Ausdruck an.

Er sah im Geiste vor sich den tirolischen Jüngling und hielt ein Selbstgespräch an ihn:

»Rubatscher, ich bin gewohnt, Vertrauen zu haben. Wenn ich aber einmal anfange, mißtrauisch zu werden, habe ich auch schon aufgehört damit. Denn in diesem Augenblick, in diesem Moment, a tempo – verstengan Sie? – is's aus. Radikal. Da gibt's kein Zurück mehr. Grad weil ich meinen Ehrenstandpunkt darein setze, zu vertrauen, weil es mir gegen die Natur geht – verstengan Sie? –, reagier ich auf die leiseste Verletzung dieses Vertrauens. Ich führe heute noch den etwas unnatürlichen Verbrauch von Salami auf zufällige Bedürfnisse der Kundschaft zurück... heute noch... Verstengan Sie? Ob ich es morgen noch kann, weiß ich nicht. In dem Augenblicke, wo ich nicht mehr das Recht habe, zu vertrauen, hört jede Rücksichtnahme auf: das erfordert meine Stellung als Chef. Ich denke, wir haben uns verstanden, Herr Rubatscher?...«

Benno blickte noch eine Weile durchbohrend, die Stirne ernst in Falten gezogen, gegen die Wand hin. Dann ging er zur Türe und öffnete sie, als hätte er sie nur aus Versehen oder zufällig geschlossen.

Er trällerte an seinem Liede weiter:

»... so lieblich und so schön...
Kind, glaube mi-hir...
War keine der Feen.«

Der Tiroler aber schaute, leicht angelehnt an die Ladenbudel, mit seitlich geneigtem Haupte zum Fenster hinaus und lächelte milde wie ein geschnitzter Heiliger im Dorfkirchlein.

Dabei sagte er halblaut vor sich hin: »Hot der höllische Deifel, söller Drachen, das Malafizweibsstück, was geschpannt.«


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