Ludwig Thoma
Münchnerinnen
Ludwig Thoma

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Am Gartentor läutete es.

Die alte Magd stand mühsam auf und sah hinaus. Gott sei Dank! Da kam der Herr Reindl, aber schon wie gerufen! Sie ging, so rasch sie konnte, über den Kiesweg zum Eingange und öffnete:

»Ihna hat heut unser Herrgott g'schickt«, sagte sie.

»No... no... no... felt was?«

»I woaß net, mit unserer Frau is was...«

»Ja waar net übi... is s' krank?«

»Sie sagt Na.«

»No, mir wer'n amal schaug'n...«

Herr Simon Reindl war nämlich der einzige überlebende Freund des alten Hartwig, ein quieszierter Bräumeister und, dem Äußern nach zu schließen, recht wohl geeignet, mit Lebensmut und Frische ansteckend zu wirken.

Im Alter mochte er der Frau Sephi wenig nachgeben, eher drüber als drunter sein, aber man sah es weder seiner gedrungenen Gestalt, noch dem von Gesundheit geröteten Gesichte an. Seine weißen Haare bildeten eine dünne, aber ausreichende Decke für den Schädel, und sie waren an den Seiten sorgfältig nach vorne gestrichen.

Seine lustigen, viel Schlauheit verratenden Augen waren auch völlig klar, und Simmerl schrieb das dem Umstand zu, daß er Ohrringe, oder vielmehr kleine goldene Sterne, in den gut entwickelten Ohrlappen trug.

Der lange braune Rock, den er anhatte, und die brokatne, geblümte Weste hatten alten Schnitt und zeigten, daß der Herr Bräumeister noch immer was auf sein Äußeres hielt.

Er erzählte gerne und oft von der Zeit, wo er Pfannenbursche beim Pschorr gewesen war.

Da hatte ein berühmter Ringer, ein Franzose, ein Musje, sagte Simmerl, eine Ankündigung gemacht, er wolle mit dem stärksten Mann in München ringen und soundso viel hundert Gulden geben, wenn er geschmissen werde.

Es meldeten sich gleich drei Bräuburschen, alle vom Pschorr, der ordentlich stolz drauf war, und der dritte war Simon Reindl, gebürtig aus Lenggries.

Aber leider kam er nicht zum Ringen, denn der erste Bräubursche schmiß auf der Bühne des Hoftheaters, wo der Kampf vor einem dichtgedrängten Publikum ausgetragen wurde, den Musje mit den ersten paar Griffen auf die Bretter, daß ihm Hören und Sehen verging.

»Es war schad«, setzte Simmerl jedesmal bei, »daß mir andern zwoa net z' toa kemma san... Mir hätt'n an grad a so hi'g'schmissen...«

Mit Hartwig war er gemeinsam bei der münchner Landwehr gewesen, beim Artillerie-Korps. Zu mancher Parade waren sie ausgerückt, und wie sie Gefallen aneinander gefunden hatten, war Simmerl ein gern gesehener Gast im Hause und ein treuer Freund geworden.

»Mir wern amal schau'n«, sagte der Herr Bräumeister und schritt bedächtig zum Hause hin, denn Hastigkeit mochte er nicht.

Er stellte seinen polierten Spazierstock mit der silbernen Kugel darauf in den Schirmständer und stand bald in der Wohnstube, wo er zu seinem Erstaunen Frau Sephi mit verweinten Augen am Fenster sitzen sah.

Es gelang ihr nicht wie sonst, freundlich zu lächeln, sie nickte nur mit dem Kopfe.

»Ja, was waar denn jetzt dös? Sephi, mir scheint gar, du hast gwoant... hat ma d' Resi scho g'sagt...«

»Ah! De muaß allaweil tratschen...«

»Scheint aber, sie hat recht. Bei dir feit was...«

Der Anblick des alten Freundes stimmte Frau Sephi wieder recht wehmütig, und sie hatte Mühe, ihre Tränen abzutrocknen.

»No... no... no... geh! Was is denn?«

»Nix is mehr... so alt hat ma wer'n müss'n, daß ma dös no derlebt! Waar i vor mein Xaver g'storbn, oder do vor a paar Jahr, nacha hätt i dös net erfahrn müss'n...«

»Ah was... sterb'n! Dös kimmt auf d' letzt, jetzt sag mir amal, was g'schehg'n is...«

Sephi erzählte, und Simmerl unterbrach sie oft mit einem: »Ja, was sagst mir denn da?... Ja, was waar denn net dös?«

»Die Stadt dehnt sich ins Weite, hat der Rat zu mir g'sagt, das Leben verlangt sein Recht... sagt er... Siehgst, Simmerl, da hab i mir denkt, seiner Lebtag hat ma de Stadt als Hoamat betracht und hat s' gern g'habt, und jetzt hätt ma net amal als Toter an Platz drin, und wo is denn 's Recht von de Lebendigen, wenn ma net amal dös g'wiß hat, daß ma sei Ruah im Grab find't, und daß ma bei seine Leut lieg'n derf?«

»Dös woll'n wir amal sehgn, ob a solchene Gemeinheit existiern derf«, sagte Simmerl und strich sich zornig über die Haare. »Da hört si na do scho alls auf! Ma is nacha do Bürger seit fufzg Jahr und länger, und koa herg'laufene Bagasch, und daß d' Frau neb'n an Mo begrab'n g'hört, dös Recht is am End do älter als wia de neumodische Gaudi. Müassen s' am End an Zirkus außi bau'n oder a Großmarkthalle oder an Ausstellung oder an andern Schmarrn? Aber da muaß nacha do de ganz Bürgerschaft hi'steh' und muaß amal sag'n, was der Brauch g'wen is, und was da Brauch bleib'n muaß. Daß ma no a sogenannte Pietät aa braucht, net bloß Warenhäuser und Schwindel überanand. Laß da Zeit, Sephi, allssammt kinnan de Leut net umstöß'n...«

»Aber der Rat hat mir gar koa Hoffnung g'macht...«

»Ko scho sei. Is vielleicht aa so a neumodischer, so oana, der für d' Amerikaner Buckerln macha muaß und d' Zigeuner herzügeln muaß. Aber da werd's nacha wen geb'n, der wo ober eahm is, und wenn ma bis zum Regenten geh müass'n, da lass'n mir net aus... Was tat denn da Xaverl sag'n, wann er di net daneb'n hätt, wenn amal Zeit is zum Aufsteh? Müaßt a no als seliger Geist auf Schwabing oba, und gang net amal a Tramway!«

Simmerl hielt einen Spaß für das beste Mittel gegen Traurigkeit, und Sephi tat ihm auch den Gefallen und versuchte es, zu lächeln. Sie seufzte ein bißchen erleichtert auf.

»Da muaß 's doch a Hilf geb'n... moanst net?«

»Natürli gibt 's oane; höher gang 's nacha do scho nimma, als daß ma oan so an selbstverständliche Recht nehmat...«

»Du kunnt'st mir do aa behülfli sei, Simmerl. Geh, i bitt di schö, denk an mein Xaver...«

»Braucht koa Bitt'n, Sepherl... dös versteht si von selber... i muaß mir de G'schicht überleg'n wia mir dös am g'scheitest'n o'pack'n. Mein Vettern sei Bua, an Ringler Toni, kennst d' ja, dem sei Ältester is Advokat, und bei dem wer i amal z'erscht frag'n...«

»Sei halt so guat!«

»I bin scho so guat, und jetzt hör auf mit'n Woana und schaug a bissel auf mi. Übers Ei'grab'nwern muaßt d' 's Lebendi fei net vergess'n... i hätt a bissel an Durscht kriagt...«

»Ja, gel? Und i laß di da sitz'n und frag net... Resi!«

Die alte Magd mußte aus der nächsten Wirtschaft Bier herüber holen, zum Vespern gab es etliche gute Sachen, und der Simmerl blieb noch lange sitzen.

Er redete von alten, schönen Zeiten, und natürlich kam auch die Geschichte vom Ringkampf im Hoftheater daran, und da Sephi so aufmerksam zuhörte, als wäre sie ihr neu, wurde er heiter und gesprächig.

Beim Abschied fand er noch tröstliche Worte.

»Du werst sehg'n, du kriagst dei Platzerl hintern Sendlingertor draußd. Aber net, daß dir nacha recht pressiert, wenn i dir de Wohnung verschaff'. Dös bitt i mir aus...«

»Gar z' lang mag i nimmer wart'n...«

»Auf mi wartst, Sepherl. I mach dir an Vorreiter und sag di beim Xaverl o...«

»Du denkst no lang net ans Geh'n, Simmerl...«

»Sag dös net! Mir kimmt 's öfter so vor, als waar i scho viel z' lang blieb'n. Waar ma liaba g'wen, i hätt 's net derlebt, wia dös alte München verschwindt... I hab mir 's heut wieder denkt, wia'r i zu dir her ganga bin... Hinter'n Siegestor siecht ma koan Münchna mehr. Nix wia Schlawiner, lauter Schlawiner. Und drin in da Stadt is net viel besser; seit vierasechz'g Jahr bin i do, na, wart amal, seit fünfasechz'g... selbigsmal bin i beim Gilgenrainerbräu ei'g'standen in der Sendlingergassen. Du liabe Zeit, alls werd mehra, d' Leut wer'n mehra, 's Geld werd mehra, bloß de Bräuer san weniger wor'n. Um d' Sendlingergass'n und d' Neuhausergass'n rum hat 's selbigsmal mehra Bräu geb'n wia jetzt in der großmächtig'n Stadt. Wo san s' denn, der Hascherbräu, der Schleibinger, der Loderbräu, der Menterbräu, da Hallmayer, da Büchlbräu? All's weg und verschwund'n. Nix mehr als wia a paar große Bierfabriken. Fünfasechz'g Jahr... und jetzt kenn i mi in da Stadt nimmer aus. Alle Bäch san zuadeckt, alle Wies'n und Gärt'n san überbaut... all's is anderst, und nix is schöner wor'n... Sag 's amal, Sepherl, g'fallt 's dir no?«

»Mir scho lang nimmer...«

»Gel... und wann mir uns z'ruckziahg'n woll'n untern Boden, weil 's uns drob'n nimmer paßt, müaßt ma si um de paar Schuah Erden no streit'n... is dös aa no a Menschheit? Aber dös derstreit'n mir dennerscht no... pfüat di Good!«

*

Paula saß mit einem verdrossenen Gesichte auf ihrem Karussellpferde; ihre Miene paßte gar nicht zu dem heiteren Walzer, den die Orgel dröhnend und pfeifend spielte, indes sich Pferde, Schwäne, Schlitten in immer rascherem Schwunge drehten. Ihre Augen blickten finster, ihr Mund war zu einem Schmollen verzogen, und während sich vor ihr und hinter ihr lustige Paare lachend und kreischend dem kindlichen Vergnügen hingaben, schaute sie düster vor sich hin.

Das Karussell hielt. Paula stieg langsam ab und ging zu Franz, der verstimmt oder gelangweilt dem Treiben zugesehen hatte.

»Also, jetzt sei net so fad und tu halt mit! Warum verdirbst mir denn das bissel Freud'?«

»Ich fahr nicht am Tag. Prinzipiell nicht. Ich hab dir 's schon g'sagt...«

»Allaweil prinzipiell. De andern Leut sin lustig, und du bist prinzipiell fad...«

»Mit den Dienstbot'n da herumkutschieren, das tu ich nicht.«

»Früher warst d' anders...«

»Ach bitte...«

»Ja, dös is amal wahr. Da wärst halt auch naufg'sess'n und wärst lusti gewes'n, wie die andern Leut. Aber i kenn 's scho lang...«

»Du hättest ja warten können. Ich hab dir am Herweg gesagt... jawohl, wortwörtlich hab i dir 's g'sagt: unter Tags setz ich mich nicht in ein Karussell. Ich hab meine Gründe dafür...«

»Vielleicht schinierst dich mit mir...«

»Ich genier' mich mit der Gesellschaft da... jetzt fahren andere Leute als wie abends...«

»Na muß i halt heimgeh'n...«

Paula drehte sich um und ging weg. Am liebsten hätte sie laut hinausgeschrieen.

Es war nicht wegen der Kinderei, o nein! Deswegen war's wirklich nicht.

Er zeigte ihr mit seinen Launen, daß er abgekühlt war; sie fühlte es so deutlich, sie merkte es an allem, was er sagte und was er nicht mehr sagte. Ja, daran ans meisten.

Er redete oft wie ein Schulmeister und korrigierte an ihr herum.

Wenn sie zusammen ausgingen, mußte sie acht haben auf ihre Worte und ihre Bewegungen; gleich war ihm etwas zu auffallend oder zu zärtlich.

Sie hatte ihre Scheu beinahe überwunden, wo sie doch viel mehr zu fürchten hatte wie er, und jetzt weigerte er sich oft, mit ihr Arm in Arm zu gehen, und predigte Vernunft.

Und einmal war sie rasch vom Hause weg zu ihm gekommen, und vielleicht waren ihre Haare wirklich nicht ganz in Ordnung gewesen. Wer sieht denn so was?

Einer, der wirklich verliebt ist, paßt auf solche Kleinigkeiten nicht auf.

Aber er hatte gleich die Stirne gerunzelt und ihr einen Vortrag gehalten, daß man sich nicht gehen lassen solle, wenn man sich länger kenne, und daß er prinzipiell gegen solche Nachlässigkeiten sei. Er wisse schon, viele Frauen hätten das so, daß sie glaubten, man müsse sich nicht mehr voreinander genieren, aber die Art von Vertraulichkeit könne er gar nicht vertragen.

Und so rechthaberisch wurde er. Früher, da war er immer entzückt gewesen und hatte nichts wie lauter Schönes und Gutes an ihr gesehen.

Das war jetzt alles anders. Heute hatte sie ihm vorgeschwärmt von ihrer Freude am Karussellfahren, und da war er gleich wieder der Schulmeister gewesen. Erstens sei es überhaupt kein Vergnügen für Erwachsene, und zweitens, wenn man so was schon mitmache, müsse man in Stimmung sein. Ach! Die Ohren taten ihr oft weh, wenn er so anfing. Und dann fuhr sie doch, und er bockte, wie er's oft machte.

Wegen solchen Läppereien konnte er Streit suchen, ihr den Tag verderben! Nein, da war's gleich gescheiter, es war alles auf einmal aus.

Aber wie sie es nur dachte, wußte sie auch, daß ihr die Liebe zu ihm alles geworden war. Sie sah ins Leere; da war doch nichts mehr, gar nichts mehr, wenn das nicht mehr war.

Tränen verdunkelten ihren Blick... aber sie ging von ihm weg.

Sie wollte nicht bleiben und seine guten Lehren anhören...

Franz sah ihr nach.

Einen Augenblick hielt er noch an seinem Trotze fest. »Man muß Frauen nicht immer nachgeben«, sagte er altklug zu sich selber. Sie sollte sehen, daß er seinen Willen behielt.

Als er bemerkte, wie ihr Schritt unsicher war, wie sie den Kopf sinken ließ und die Schultern nach vorne zog, ergriff ihn tiefes Mitleid, und er eilte ihr nach.

»Paulimutsch... du! Sei wieder gut!«

Sie sah ihn von unten auf an wie ein Kind, und um den Mund zuckte ein heftiges Weinen.

»Ich war doch net...« Sie konnte nicht weiter reden und klappte hastig ihre Handtasche auf, um ihr Sacktuch herauszuholen. »I war doch net bös...«

»Aber ich? Gelt? Wein net, guts, liebs Mädel! Ich war so verdrießlich, so dumm, i weiß ja selber...«

»So garstig bist d' jetzt oft mit mir... Dös halt i net aus... wenn's d' mi nimmer magst, sag mir's do lieber glei ganz!«

»Geh, wie magst d' so red'n?... Du weißt doch...«

»Na... dös weiß i oft nimmer...«

»Daß i di gern hab? Dös weißt du net? Geh, Paulimutsch... Das fühlst du doch...«

»Wenn man ein' gern hat, plagt ma'n doch net.«

»O ja... erst recht... Da steigt's ei'm oft so in 'n Kopf, da bitzelt all's an ei'm... ma muß ei'm weh tun...«

»Ich kunnt's net... g'wiß net...«

»Du freilich net... du bist so gut... aber schau, vielleicht war's Eifersucht, weil i net mag, daß dich die andern Leut ausg'lass'n seh'n...«

»Was is denn dabei? Schau, i bin als Kind scho so gern Karussell g 'fahr'n, und jetzt, 's erste Mal auf der Festwies'n mit dir...«

»Du hast ja recht... und jetzt geh'n mir zum Schottenhammel, und darnach fahrn mir mitsamm...«

»Na... fahr'n tu i nimmer... dös – möcht i net nomal hamm«

»I fahr ja mit, und recht lusti woll'n mir sei...«

»Jessas!« Paula drehte sich hastig um.

Auf der anderen Seite der Straße stand Rubatscher mit einem jungen, ziemlich aufgedonnerten Frauenzimmer, das eben zu überlegen schien, wie es durch den aufgeweichten Schmutz kommen könne.

»Was hast du?« fragte Franz.

»Tu so, als ob d' net zu mir g'hören tätst«, antwortete Paula ziemlich aufgeregt.

Sie schien angelegentlich die Photographien zu betrachten, die in einem Auslagekasten hingen, Franz ging etliche Schritte von ihr weg.

Der Budenbesitzer schrie ihm nach:

»Kommen Sie herein, mein Herr! Lassen Sie sich aufnehmen mit Ihrer reizenden Gemahlin! Es wird ein bezauberndes Bild geben. Es wird für Ihre Kinder ein liebliches Andenken sein... Nur ein paar Minuten, meine Dame!«

Paula war erschrocken; es waren in der frühen Nachmittagsstunde so wenig Menschen auf dem Festplatze, daß sie von Rubatscher gesehen werden mußte. Und das Geschrei des Photographen konnte er kaum überhören.

Sie nahm sich zusammen und ging rasch, als hätte sie einen bestimmten Gang zu machen, an Franz vorbei.

»Komm mir unauffällig nach!« murmelte sie ihm zu.


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