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6. Unser Boot spurlos verschwunden

»Nun wird es aber Zeit, daß wir aufbrechen!« sagte ich zu Valdemar. »Bis nach Schweden ist noch ein weiter Weg. Meinst du nicht, wir sollen gleich gehen?«

»Ja, Nonni. Aber leider hat sich jetzt der Wind gelegt, wir werden tüchtig rudern müssen.«

»O, das macht nichts! Wir haben ja gegessen und getrunken und sind jetzt wieder stark.«

Wir suchten sogleich alle unsere Sachen zusammen und sahen genau nach, ob uns nichts fehle. Zuletzt trugen wir noch die Tür an ihren alten Platz in die Ecke und gingen dann hinunter zum Strand.

Als wir aber an die Stelle kamen, wo wir das Boot zurückgelassen hatten, da wurde uns eine Überraschung zuteil, die uns in den größten Schrecken versetzte.

Ganz verwirrt und sprachlos schauten wir einander an.

Was war hier geschehen? – Unser Boot, auf dem wir kurz vorher an dieser Stelle gelandet waren und das wir mit so großer Mühe auf den trockenen Sand hinaufgezogen hatten, war spurlos verschwunden! Nur das Ruder, das ich in den losen Sand gesteckt und woran ich den Kahn festgebunden hatte, lag noch am Ufer da. Der Kahn jedoch war nirgends zu sehen!

Ich erkannte sofort die ganze Furchtbarkeit unserer Lage. Wir befanden uns mitten im Meere auf einer unbewohnten, einsamen Insel. War unser Schifflein verloren, dann gab es keine Möglichkeit, sie wieder zu verlassen!

Das war unheimlich, entsetzlich für uns zwei Knaben!

Den großen Schiffen draußen auf dem Sund konnten wir von hier aus kein Zeichen geben, denn es war keines in der Nähe, und Valdemar sagte, sie könnten wegen der Untiefen niemals nahe an die Insel herankommen. Und bis vielleicht die Eigentümer der Schafe uns Hilfe brächten, das konnte tage-, ja wochenlang dauern!

Was aber würde unterdessen aus uns werden?!

Solche und ähnliche Gedanken schossen mir in der ersten Bestürzung durch den Kopf.

»Wie kann doch nur das Boot weggekommen sein, Valdemar?« fing ich endlich zu reden an.

»Ich weiß nicht, Nonni.«

»Es wird's doch niemand gestohlen haben, als wir bei den Schafen waren?«

Das war freilich nicht anzunehmen, denn es lag ja noch ein Ruder da. Ein Dieb aber hätte das Ruder wohl nicht liegen lassen.

Je länger ich darüber nachdachte, um so rätselhafter kam mir alles vor, und es wurde mir immer unheimlicher zumute.

Was sollten wir tun?

Ich überlegte und fand keinen Rat. Ich sah keinen Ausweg aus unserer verzweifelten Lage.

Der kleine Valdemar stand da mit Tränen in den Augen. Wenn ich ihn fragte, was wir anfangen sollten, antwortete er nur: »Ich weiß nicht, Nonni.«

Um ihn zu trösten, nahm ich ihn bei der Hand und sagte:

»Du mußt nicht weinen, Valdemar. Ich glaube sicher, daß wir den Kahn wiederfinden. Wenn ihn jemand gestohlen hat, dann muß er noch irgendwo hier in der Nähe sein. Komm, wir wollen einmal sehen.«

Wir liefen zu einem großen Steinblock, der aus dem Sand hervorragte, sprangen hinauf und schauten nach allen Richtungen umher. Mir spähten und suchten mit angestrengten Augen draußen auf dem Meer, soweit wir sehen konnten. Doch von dem Kahn war keine Spur zu entdecken.

Da kam mir ein neuer Gedanke. »Valdemar«, sagte ich, »am Ende ist der Dieb um die Nordspitze der Insel herumgefahren nach der dänischen Küste zu.«

»Richtig, das wäre möglich, Nonni. Dann müssen wir aber gleich dahin gehen.«

Wir sprangen von dem Stein herunter und liefen den Strand entlang gegen Norden, immer auf das Meer hinausschauend.

Bald kamen wir an ein kleines Gebüsch, das uns bis jetzt die Aussicht nach dem Norden versperrt hatte. Wir gingen schnell hindurch.

Auf der andern Seite blieben wir ein wenig stehen und hielten von neuem Umschau. Aber nirgends sahen wir den Kahn.

Links nach dem Meere zu stand dichtes Strauchwerk. Da konnte gut ein Versteck sein!

Wir gingen behutsam vorwärts um das Gesträuch herum. »Vielleicht finden wir ihn hier«, sagte ich leise zu Valdemar. – Doch wir suchten vergebens.

Jenseits des Gesträuches lag frei vor uns wieder das Meer. – Erwartungsvoll blickten wir hinaus – – und siehe da: nicht weit vom Lande entfernt – schaukelte einsam und ruhig unser Schifflein auf dem Wasser!

»Unser Kahn!« riefen wir beide wie aus einem Mund.

Wir waren gerettet!

Etwas anderes dachten wir in diesem Augenblick noch nicht.

Der Kahn schwamm nur ganz langsam: er schien sich kaum von seiner Stelle zu bewegen.

»Das ist aber merkwürdig«, sagte Valdemar, »es ist ja niemand drin zu sehen.«

Ich antwortete: »Vielleicht liegt der Dieb unter den Ruderbänken und schläft. Komm, laß uns einmal rufen.«

Wir liefen bis dicht ans Wasser hinunter, klatschten in die Hände und riefen beide, so laut wir konnten:

»Hallo! Hallo! Wer da?«

Doch niemand zeigte sich.

»Jetzt glaube ich, daß du recht hast, Valdemar«, sagte ich. »Es ist wahrscheinlich niemand drin.«

»Aber wie ist dann der Kahn fortgekommen?'

Wir vermochten uns das noch immer nicht zu erklären.

Endlich fiel mir der richtige Grund ein. Ganz erfreut darüber, rief ich aus:

»Valdemar, jetzt weiß ich, wer der Dieb war!«

Der Kleine sah mich erstaunt an.

»Rat einmal«, sagte ich.

Valdemar dachte nach.

»Es ist gar kein Dieb gewesen«, fuhr ich fort.

»Wer dann?«

»Kannst du es nicht erraten?«

»Nein, Nonni.«

»Dann will ich es dir sagen: »Es war die Flut! – Ganz gewiß! Wir sind lange fortgewesen, da ist die Flut eingetreten, und das Wasser ist immer höher und höher aufs Ufer gestiegen und hat den Kahn weggeschwemmt!«

»Ja, so ist es sicher gewesen, Nonni. – Und jetzt weiß ich auch, warum vorher drüben am andern Ufer der Kahn fast ganz im Wasser gelegen ist.«

»Ja, dort war es auch die Flut, Valdemar.«

»Aber du hattest doch damals den Kahn ans Ruder festgebunden, Nonni!«

»Das schon; aber ich habe ihn wahrscheinlich nicht fest genug angebunden.«

Erst jetzt, nachdem wir diese Erklärung für das Verschwinden unseres Schiffleins gefunden hatten, stellten wir uns die viel wichtigere und schwerere Frage: Wie sollten wir nun den Kahn wieder vom Meere hereinbringen?

Ich überlegte. Dann sagte ich: »Ich kann gut schwimmen, Valdemar. Meinst du nicht, ich soll bis zum Kahn hinausschwimmen und ihn holen?«

»Nein, Nonni! nein! Das darfst du nicht! Du könntest ja ertrinken!« wehrte voll Angst der Kleine ab.

»Ertrinken?! – O nein, ich glaube, daß ich den Kahn doch hereinbringen könnte.«

»Ja, aber denk, wie kalt jetzt das Wasser noch ist! Du würdest das nicht aushalten! Nein, du darfst nicht hinausschwimmen! Ich bitte dich, tu es nicht!«

»Wie sollen wir aber dann unsern Kahn wiederbekommen?« fragte ich.

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Valdemar kleinlaut. »Vielleicht finden wir ein anderes Mittel.«

»Ja, aber welches? – Sieh doch, der Kahn treibt ja immer weiter von der Insel weg! Es ist eine Strömung da! Er geht nach Norden zu!«

Wieder überlegten wir. Ich schaute suchend um uns her: die Küste entlang, nach dem nahen Gebüsch hin, dann wieder ängstlich zu dem Kahn hinaus.

Allmählich bekam ich das Gefühl, als ob ich schon fast ein Rettungsmittel wüßte, es aber bloß noch nicht bestimmt nennen könnte.

Auf einmal fand ich es.

Meine Gedanken waren zur Hütte hingeflogen. Da fiel mir plötzlich das Richtige ein. – »Valdemar!« rief ich voll Begeisterung, »ich habe ein Mittel gefunden! Jetzt werden wir den Kahn bald wieder haben!«

»Aber ohne daß du hinausschwimmst, Nonni?« fragte der Kleine schnell.

»Ja, es ist ganz einfach. – Wir machen ein Floß, »Valdemar!«

»Ein Floß?«

»Ja, und darauf werde ich mit dem Ruder, das wir noch haben, hinausfahren und den Kahn holen!«

Dieser Plan gefiel Valdemar sofort. – »Aber wovon sollen wir ein Floß machen?« sagte er. »Meinst du, wir können Äste und Zweige von den Bäumen abhauen und damit ein Floß bauen?«

»O nein, das würde uns zuviel Zeit nehmen, und so ein Floß wäre auch zu schwerfällig, das brächte ich allein gar nicht vorwärts.«

»Aber wovon willst du es denn machen?«

»Ich brauche keines zu machen! Es ist schon fertig, Valdemar! Du hast es selbst schon gesehen!«

»Ich? – Wo?«

»In der Holzhütte! Die alte Tür dort in der Ecke! Die kann man gut als Floß gebrauchen!«

»Ja, richtig, Nonni, das kann man! O, das ist ein ausgezeichneter Einfall! Komm, wir wollen gleich hingehen und die Tür holen!«

Wir liefen unverzüglich zur Hütte zurück, nahmen beide die Tür und schleppten sie zum Meere hinunter. Hier schoben wir sie vorsichtig ins Wasser hinein, und mit dem Ruder in der Hand stellte ich mich darauf.

Aber ach! die alte Tür war zu klein. Als ich auf sie trat, tauchte sie unter; sie konnte mich nicht tragen.

Schnell zogen wir sie wieder aus dem Wasser heraus und liefen nochmals zur Hütte. Wir holten die alten Bretter dort und die Nägel und Hammer herbei.

Das »Floß« mußte vergrößert werden.

Von den Brettern legten wir die dicksten und längsten nebeneinander auf den trockenen Sand und die Tür darauf. Dann wurde gehämmert und genagelt, bis sie fest auf den Brettern saß.

Nun aber begann eine mühsame Arbeit: das vergrößerte Floß ins Wasser hineinzuschieben! Es war so schwer geworden, daß wir es kaum von der Stelle rücken konnten. Und als wir es endlich mit der größten Anstrengung vom Ufer herunter halb ins Wasser gebracht hatten, mußten wir Schuhe und Strümpfe ausziehen und selber ins Meer hineinwaten, um es vollends hineinzuziehen.

Dann zog ich schnell wieder am Strand meine Schuhe und Strümpfe an, nahm das Ruder, sprang auf das jetzt freischwimmende Floß und stieß vom Ufer ab.

»Hurra! Jetzt geht es!« rief Valdemar. »Gib aber um Gottes willen acht, Nonni, daß du nicht ins Wasser fällst! Bleib immer in der Mitte! Geh nicht an den Rand hinaus, sonst kippt es um!«

»Hab nur keine Angst, ich gebe schon acht!« rief ich zurück.

Bald merkte ich selbst, daß Valdemar recht gehabt hatte: Ich durfte mich nicht von der Mitte des kleinen Floßes entfernen, sonst neigte es sich so stark auf die Seite, daß ich in Gefahr kam, das Gleichgewicht zu verlieren. In der Mitte aber trug es mich ganz gut.

Das Rudern in meiner Lage war nicht leicht. Ich mußte mit dem Ruder wricken und hatte Mühe, mich vorwärts zu arbeiten und auf den Kahn zuzusteuern.

Etwa von der Hälfte des Weges an wurden die Wellen größer. Das Floß legte sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite und lag zuweilen ganz schief im Wasser.

Valdemar, der dies vom Ufer aus bemerkte, rief in seiner Angst wieder mit lauter Stimme:

»Nonni! knie doch nieder! – Du fällst sonst um! – Das Floß steht ja ganz schief! – Knie nieder, Nonni! knie nieder!«

Ich folgte sofort seinem Rat und kniete mitten auf das Floß hin. So war ich wenigstens in größerer Sicherheit. Das Wricken und Rudern freilich ging jetzt etwas schwerer, aber dies machte nicht so viel aus; ich kam trotzdem noch immer vorwärts, immer näher und näher an unser Schifflein heran.

Als endlich mein schwimmendes Fahrzeug gegen das Boot stieß, stand ich langsam auf. Ich überlegte, wie ich wohl am besten von dem wackeligen Floß in den Kahn hinüber gelangen könnte. Denn jetzt, im letzten Augenblick vor der Rettung, galt es, nur ja keine Unvorsichtigkeit zu begehen.

Ich mußte, wenn ich mit der Hand das Boot erfassen wollte, bis zum Rand des Floßes hinaustreten. Das war gefährlich. Entfernte ich mich nämlich von der Mitte, dann sank sofort die eine Seite hinunter, so daß ich in die größte Gefahr kam, ins Wasser zu fallen. Näher an das Boot hin aber durfte ich auch nicht rudern, weil die Bretter, worauf die schmale Tür genagelt war, weit über diese hinausragten und darum bei jedem Ruck vorwärts das Boot von mir wegstießen.

Es war in der Tat viel schwieriger, als ich mir vorgestellt hatte, unser Schifflein wieder einzufangen. Mein Floß berührte zwar den rettenden Kahn, doch war es mir unmöglich, die wenigen Schritte zu machen, die mich von ihm trennten: ich wäre sonst ganz gewiß ins Meer gefallen.

Valdemar mußte drüben am Ufer meine gefährliche Lage erkannt haben, denn ich hörte ihn laut rufen; aber ich verstand nicht, was er sagte.

Eine Weile stand ich still und überlegte, was zu tun sei. Da erblickte ich vorn am Booksrand das kleine Tau, welches an einem eisernen Ring festgebunden war, und dessen freies Ende ins Wasser herunter hing.

Mit Hilfe des Ruders gelang es mir, das Tau in meine Nähe zu bringen. Ich ergriff es und zog nun den Kahn so kräftig gegen mich, daß er ein wenig aus dem Wasser emporkam und sich über den Rand des gesenkten Floßes heraufschob.

Dadurch neigte sich zwar das Floß noch stärker nach vorn, aber ich brachte auch den Kahn immer näher an mich heran.

Endlich konnte ich es wagen, das Ruder ins Boot hinüberzuwerfen und dann mit einem Sprung nachzusetzen.

Der Sprung glückte. Nur meine Beine gerieten dabei tief ins Wasser hinein.

Ich hatte mit den Händen den Bootsrand erreicht und kletterte nun schnell darüber hinweg in den sicher bergenden Schoß des Schiffleins.

Ohne mich um meine nassen Beine zu kümmern, sprang ich sofort auf eine Ruderbank hinauf, schwenkte die Mütze und rief, so laut ich konnte, nach dem Ufer hin:

»Hurra, Valdemar! Jetzt komme ich gleich zu dir zurück!«

Auch Valdemar rief mir zu und schwenkte mit der Mütze. Sein Rufen konnte ich aber wieder nicht verstehen; es verhallte und verlor sich in dem offenen weiten Meeresraum, im Rauschen von Wind und Wasser, das plätschernd gegen das Floß und den Kahn schlug.

Ich sprang nun wieder von der Ruderbank hinab, löste das Bootstau von dem Ring, band das eine Ende an das Floß und befestigte das andere hinten am Boot. Dann begann ich voll Freude unser gerettetes Schifflein mit starken Ruderschlägen nach dem Ufer zurückzuführen.

Wegen des nachschleppenden schweren Floßes kam ich nur langsam voran. Auch mußte ich jetzt gegen die Strömung rudern.

In Schweiß gebadet und noch ganz naß an den Füßen, erreichte ich endlich den Strand. Ich sprang aus dem Kahn, zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte sie zum Trocknen in die Sonne.

Die Freude des kleinen Valdemar war unbeschreiblich. Mit kindlicher Ergriffenheit faßte und drückte er meine Hände und rief aus:

»O, wie war ich doch bange um dich, Nonni! Und wie glücklich bin ich jetzt, daß du wieder da bist!«

Nun mußte aber das Floß ans Land gezogen und auseinandergenommen werden.

In unserer Freude über die Wiedererlangung unseres Bootes griffen wir beide sogleich munter an. Ich nahm den Hammer und schlug nacheinander alle Bretter von der Türe los, Valdemar zog sie ans Ufer hinauf.

So waren wir bald mit der ganzen Arbeit fertig.

Tür und Bretter und Hammer brachten wir in die Hütte zurück und stellten dort alles an seinen Ort, wo es gewesen war. Die eigenen Sachen trugen wir dann zum Ufer hinunter und legten sie ins Boot hinein.

Meine Schuhe und Strümpfe waren noch nicht trocken geworden. Ich entschloß mich daher, vorläufig barfuß weiterzureisen.

siehe Bildunterschrift

»Mit Hilfe des Ruders gelang es mir, das Tau in meine Hände zu bringen.« (S. 265.)


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