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7. Professor Gisli Brynjúlfsson

Als wir wieder auf die Straße hinaustraten, zeigte mir Herr Foß, dem Runden Turm gerade gegenüber, einen großen, alten Bau und fragte mich:

»Was meinst du, Nonni, was das ist?«

»Ich weiß nicht, Herr Kapitän.«

»Das glaube ich wohl«, sagte er. »Aber du würdest große Augen machen, wenn du es wüßtest. Dieses Gebäude hat nämlich eine besondere Beziehung zu Island.«

»O, dann sagen Sie mir doch, bitte, Herr Kapitän, was es ist!«

Herr Foß lächelte. Er schien mich absichtlich ein wenig hinhalten zu wollen.

Endlich antwortete er: »Nun, weil du so gespannt bist, mein Freund, so will ich es dir sagen: »Das Haus ist die Regens. Darin wohnen die isländischen Studenten, die hier an der Kopenhagener Universität studieren.«

Bei diesen Worten ergriff mich helle Begeisterung. Ich wollte sofort hineingehen und den isländischen Studenten einen Besuch machen. Da ich aber keinen von ihnen kannte, meinte Herr Foß, ich solle das lieber später einmal tun; jetzt hätten wir keine Zeit mehr übrig, wir müßten endlich zum Herrn Professor Brynjúlfsson kommen.

Das war mir sehr leid, aber ich konnte dem Kapitän nicht widersprechen. Ich nahm mir deshalb im stillen vor, so bald wie möglich meine studierenden Landsleute zu begrüßen und ihnen zu erzählen, daß ich auf dem Wege nach Frankreich sei und auch ein Student werden wolle.

Während ich noch die Regens betrachtete, war Herr Foß bereits ein Stück weit vorangegangen. Ich holte ihn aber schnell wieder ein, und nun gingen wir ohne Aufenthalt den großen Kopenhagener Seen zu, an deren Ufer die Dossering liegt.

Schon nach kurzer Zeit erblickten wir in einiger Entfernung einen wunderschönen See, und hinter ihm eine mächtige, schnurgerade Häuserreihe. Seine spiegelglatte Wasserfläche erglänzte im Sonnenschein.

Am jenseitigen Ufer hin dehnte sich, soweit das Auge reichen konnte, eine doppelte Reihe prächtiger Bäume. Das Laub schimmerte auch hier in den feurigsten Herbstfarben.

Als wir zum Wasser hinkamen, sagte Herr Foß: »Hier sind die Seen, von denen ich dir schon erzählt habe.«

»Ich sehe aber nur einen See, Herr Kapitän«, erwiderte ich. »Gibt es denn mehrere solche Seen hier mitten in der Stadt?«

»Ja, Nonni. Hier sieht man freilich nur den ersten. Die übrigen ziehen sich durch die Stadt weit hinaus bis nach der ›Vesterbro‹ (Westbrücke). Sie sind alle miteinander verbunden. Die Stelle, wo wir jetzt stehen, heißt ›Österbro‹ (Ostbrücke). – Und nun paß auf, Nonni: Siehst du dort drüben über dem Wasser die großen Häuser?«

»Ja, Herr Kapitän.«

»Gut. In einem dieser Häuser wohnt dein Landsmann, der Herr Professor Gisli Brynjúlfsson.«

»O, dann sind wir ja hier auf der Dossering!« rief ich aus.

»Ja, wir werden gleich da sein. Das jenseitige Ufer des Sees heißt die Dossering.«

Der Name »Dossering« stimmte mich mit einemmal ganz wehmütig. Wir waren jetzt am Ziel unserer Wanderung angelangt, und ich sollte nun bald den Herrn Professor Brynjúlfsson sehen und Abschied nehmen von Kapitän Foß, den ich auf unserer langen Seereise von Island bis nach Dänemark so liebgewonnen hatte – Abschied wahrscheinlich für immer!

Mein fröhliches Plaudern hörte wie von selbst auf, und ich ging schweigend neben dem Kapitän einher.

Als wir um das nördliche Ende des Sees herum auf das andere Ufer nach der Dossering hinübergingen, begann ich in meinen Taschen zu suchen und fand bald wieder das Empfehlungsschreiben meiner Mutter an Professor Brynjúlfsson.

Bei einem großen Gebäude auf der Dossering, vor dem ein schönes, wohlgepflegtes Gärtchen war, blieb der Kapitän stehen. »Hier muß es sein«, sagte er, indem er die Hausnummer las.

Er öffnete die Gartentür, und durch einen kurzen Gang von kleinen Zierbäumen gingen wir bis an das Haus hin.

Da kam soeben ein Briefträger in hellroten Kleidern heraus. Der Kapitän fragte ihn:

»Können Sie uns sagen, ob in diesem Hause der Herr Professor Brynjúlfsson wohnt?«

»Gewiß, mein Herr, der wohnt hier; oben im ersten Stock.«

»Danke bestens.«

Der freundliche Briefträger ließ uns durch die offengehaltene Tür eintreten.

Wir gingen leise die Treppe hinauf, die zu einem herrschaftlich ausgestatteten Vorraum führte. An einer der Türen stand der Name des isländischen Professors angeschrieben, in dessen Hände ich nun durch Kapitän Foß übergeben werden sollte.

Herr Foß läutete.

Drinnen im Gang wurden sofort Schritte hörbar, und ein junges Dienstmädchen öffnete.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Kapitän, »ist der Herr Professor zu Hause?«

»Ich denke, ja. Darf ich Sie nach Ihrem geehrten Namen fragen?«

»Ich bin Kapitän Foß und bringe hier einen Knaben aus Island, den ich dem Herrn Professor übergeben soll.«

Das Mädchen schaute mich aufmerksam an und sagte dann zum Kapitän: »Ich will Sie beim Herrn Professor anmelden.«

Darauf wollte sie wieder hineingehen.

»Einen Augenblick«, sagte Herr Foß zu ihr, indem er mir den Empfehlungsbrief meiner Mutter aus der Hand nahm; »bringen Sie, bitte, dem Herrn Professor diesen Brief. Er weiß dann, um was es sich handelt.«

Das Mädchen nahm höflich den Brief entgegen und sagte: »Ich werde ihn sofort abgeben. Der Herr Professor wird dann wohl gleich selber kommen.«

Als sie wieder hineingegangen war, meinte Herr Foß, der Herr Professor werde jedenfalls sehr beschäftigt sein. Bei solchen Herren sollte man sich eigentlich vorher anmelden.

Ich wurde jetzt etwas ängstlich und sagte: »Vielleicht wird der Herr Professor mich nun gar nicht empfangen, Herr Kapitän?«

»Da sei nur ohne Sorge, Nonni«, beruhigte mich Herr Foß. »Wenn er den Brief deiner Mutter gelesen hat, dann wird er schon kommen, und du wirst sehen, wie liebenswürdig er gegen dich ist.«

Nach einer kleinen Weile hörten wir wieder Schritte im inneren Gang. – »Das ist der Professor«, bemerkte ganz still Herr Foß.

Die Tür ging auf, und Professor Gisli Brynjúlfsson, ein vornehmer, stattlicher Mann, stand vor uns.

»Willkommen! Herzlich Willkommen!« rief er mit der größten Liebenswürdigkeit und streckte uns beide Hände entgegen.

Wir reichten ebenfalls unsere Hände hin und grüßten höflich.

»Aber wie freundlich von Ihnen, Herr Kapitän!« fuhr er fort. »Sie bringen mir ja da einen ganz lieben kleinen Landsmann! Bitte, kommen Sie doch beide herein!«

Der Professor nahm dem Kapitän Hut und Stock ab, bat mich um meine Mütze, und als er die Sachen im Gang aufgehängt hatte, führte er uns in einen großen, schönen Salon.

Gleich darauf kamen aus einem anstoßenden Gemach zwei Damen herein, die eine von ihnen klein und alt, die andere noch jugendlich, aber groß und schlank.

»Meine Mutter und meine Frau«, sagte der Professor.

Ich erinnerte mich jetzt, daß meine Mutter vor meiner Abreise in Island mir erzählt hatte, Professor Gisli Brynjúlfsson habe sich mit einer jungen Dänin verheiratet. »Diese Frau ist ein wahrer Engel«, hatte meine Mutter noch besonders hinzugesetzt.

Auch mir kam sie jetzt wie ein Engel vor, so gut und freundlich sah sie aus.

Wir grüßten die beiden Damen ehrerbietig und sagten ihnen unsere Namen. Darauf wurden wir auch von ihnen aufs herzlichste willkommen geheißen und mußten auf einem Sofa des Salons Platz nehmen.

»Meine Frau«, begann jetzt der Herr Professor wieder, »ist eine Dänin, also eine Landsmännin von Ihnen, Herr Kapitän.«

»Und du, mein kleiner Freund, und ich, wir sind auch Landsleute!« sagte auf isländisch seine alte Mutter zu mir, indem sie sich neben mich setzte und meine Hand in die ihrige nahm.

»O, Sie sprechen ja Isländisch!« rief ich vor Freude aus, als ich diese Worte vernahm. »Ich habe schon fünf Wochen lang kein Isländisch mehr gehört!«

»Unsere Mutter spricht nicht nur Isländisch«, bemerkte auf dänisch die junge Frau Professor, »sondern sie trägt auch immer die isländische Tracht.«

Jetzt erst wurde ich darauf aufmerksam, daß sie auf dem Kopf die kleine isländische Mütze trug, von deren Spitze eine schwarze Seidenquaste über ihre rechte Wange niederhing. An der Mütze wie auch an der eng anschließenden schwarzen Jacke waren einige Schmucksachen aus Silber angebracht. Das meiste davon war echte isländische Filigranarbeit.

Ich war entzückt und fühlte mich wieder fast wie zu Hause.

Als die Rede auf die isländische Tracht gekommen war, sagte Herr Foß lächelnd zu der neben mir sitzenden Mutter des Professors:

»Ihr kleiner Landsmann hat auch etwas echt Isländisches an.«

Sofort wurde ich von allen Seiten betrachtet, aber man fand zunächst nichts an mir.

Auf einmal jedoch entdeckte die Frau Professor meine kleinen Schaflederschuhe.

»O, da haben wir's!« rief sie lachend aus. Und nun mußte ich meine beiden Füße zeigen.

Die alte Dame kniete sogar auf den Boden nieder und untersuchte sorgfältig mein Fußzeug. Sie fand, daß einer meiner Schuhriemen nicht in Ordnung war. Gleich sagte sie: »Da muß ich aber helfen!«

Sie ging in das Zimmer nebenan und kam nach wenigen Augenblicken mit einem isländischen Lederschuhriemen zurück.

Und wie wenn sie meine eigene Mutter gewesen wäre, kniete sie wieder auf den Boden hin, befestigte den Riemen an meinem Schuh, wand ihn nach isländischer Art ein paarmal um meine Knöchel herum und band ihn fest.

»Sie machen es geradeso wie meine Mutter«, sagte ich, nachdem ich ihr für ihre Freundlichkeit gedankt hatte.

Bald darauf trat das Dienstmädchen ein und brachte Erfrischungen. Sie stellte eine schöne Platte auf den Tisch mit einigen ganz kleinen Gläsern darauf und einer zierlichen Flasche, die mit einem goldbraunen Wein gefüllt war, und dazu noch eine große, silberne Schale, voll von süßem Backwerk.

Die junge Frau Professor schenkte von dem köstlichen goldbraunen Wein in die kleinen Gläser ein. Der Kapitän und ich mußten jeder ein Glas nehmen. Von dem Backwerk bekam ich das meiste.

Während dieser feinen Bewirtung wurde ich fortwährend über unsere Reise von Island nach Kopenhagen ausgefragt. Ich mußte erzählen von dem Orkan, von den Eisbergen, von den Bären, von dem verwundeten Matrosen, von dem großen Fisch, der mich beinahe zu sich ins Wasser hinuntergezogen hätte, von meinen Freunden Owe und dem Steuermann.

Wenn ich mich vertat oder etwas übertrieb, kam mir der Kapitän zu Hilfe.

Auf diese Weise gab es eine frischfröhliche Unterhaltung, und am Ende lobten sie alle meinen Reisebericht.

Als ich fertig war, erhob sich Herr Foß, um Abschied zu nehmen. Da sagte der Professor:

»Aber Herr Kapitän, ich darf Sie doch bitten, bei uns zu Mittag zu bleiben!«

»Danke, Herr Professor«, entgegnete der Kapitän, »das ist mir leider unmöglich, ich habe mich schon auf dem Wege durch die Stadt zu sehr aufgehalten; ich muß wieder zu meinem Schiff zurück.«

Hierauf wandte er sich zu mir:

»Also, mein lieber Nonni, ich muß jetzt gehen.«

Ich sprang sogleich auf, faßte seine Hand und sagte:

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, für alles Gute, das Sie mir getan haben, und ich bitte Sie, einen schönen Gruß von mir an Owe und den Steuermann und an alle Matrosen zu bringen!«

Herr Foß nahm dann Abschied von den beiden Damen. Der Professor begleitete ihn hinaus auf den äußeren Gang und versprach ihm dort, daß er gut für mich sorgen wolle. Ich selbst durfte mit dem Kapitän die Treppe hinuntergehen.

Erst jetzt, da meine Trennung von ihm so nahe war, fing ich an, diesen Abschied tiefer zu empfinden. Ich wurde sehr traurig und konnte kaum mehr ein Wort sprechen.

Trotz des freundlichen Empfanges bei Herrn Professor Brynjúlfsson schoß mir nun wie ein Blitz der Gedanke durch die Seele: Mit dem Fortgehen des Herrn Foß ist der letzte Faden, der mich mit meinem bisherigen Leben verband, durchschnitten.

Als wir unten bei der Haustür anlangten, sagte ich: »Herr Kapitän, Sie sind auf der ganzen Reise immer so gut gegen mich gewesen. Es tut mir sehr leid, daß Sie jetzt von mir fortgehen.«

Herr Foß schien ebenfalls ergriffen zu sein. Er antwortete: »Nonni, es war mir eine große Freude, daß ich dich von Island hierher bringen durfte.« Dann drückte er mir fest die Hand und sagte: »Nun leb wohl! Gott behüte dich! Vielleicht sehen wir uns wieder.«

Damit öffnete er rasch die Tür und ging hinaus. Nach einer kleinen Weile war er auf der Straße meinen Blicken entschwunden.

So war mein Abschied von dem guten Kapitän Foß. Ich habe ihn nie mehr gesehen.

Ich machte nun die große Haustüre zu und blieb eine Zeitlang unten an der Treppe stehen.

Ein unsäglich schweres Gefühl der Verlassenheit kam über mich. – Jetzt bin ich allein unter fremden Menschen, so sprach es in meinem Innern. Ich bin von allem getrennt, was mir in diesem Leben teuer ist. Von diesem Augenblick fängt für mich ein neues, unbekanntes Leben an.

»O Gott«, seufzte ich, »wie wird es mir wohl gehen?«

Ich fühlte, daß mir Tränen in die Augen kamen.

Da niemand hier unten in der Nähe war und mich sehen konnte, warf ich mich in einem kleinen Winkel hinter der Tür auf die Knie, faltete die Hände und sprach mit Inbrunst das kurze Gebet:

»O Gott, jetzt bin ich ganz allein! Verlaß mich nicht und hilf mir, daß ich ein braver Knabe werde!«

Dann stand ich auf, trocknete sorgfältig mein Gesicht ab und ging, nun etwas beruhigt, die Treppe langsam wieder hinauf.

Droben stand die Tür zum innern Gang noch offen, und als ich mich ihr näherte, kam der Herr Professor mir entgegen. Er faßte mich bei der Hand und sagte freundlich: »So, mein kleiner Landsmann, nun bist du ja wieder da!« Und während er mich in den Salon hineinführte, fuhr er fort:

»Es freut mich sehr, Nonni, daß deine Mutter dich zu mir geschickt hat. Du mußt jetzt den ganzen Tag bei uns bleiben, zum Mittagessen und auch noch zum Abendessen. Vor abends spät lassen wir dich gar nicht fort!«

Dann rief er: »Maria!« und sofort kam die junge Frau Professor wieder in den Salon herein.

»Maria«, sagte er, »hier übergebe ich dir unsern kleinen Gast von Island; ich habe noch einiges zu besorgen. – Auf Wiedersehen, Nonni, bei Tisch!«

»Auf Wiedersehen, Herr Professor!«

Die liebenswürdige dänische Frau nahm mich gleich bei der Hand und zog mich, auf einen Stuhl sich setzend, mit mütterlicher Zärtlichkeit zu sich hin. Sie sagte ebenso wie der Herr Professor, ich dürfe nun den ganzen Tag nicht mehr fortgehen. Und dann mußte ich ihr wieder erzählen von meiner Reise, von Island, von meinen Eltern und Geschwistern, und wie es sich mit meinem künftigen Studium in Frankreich verhalte.

Nach einiger Zeit ging die Tür auf, und die Mutter des Professors in ihrer isländischen Kleidung trat wieder in den Salon herein. Sie teilte der jungen Frau mit, daß jemand gekommen sei und mit ihr zu sprechen wünsche.

Die junge Dame stand sogleich auf. Sie drückte mir beide Hände und übergab mich mit freundlichen Worten der Mutter des Professors.

Wie liebevoll auch diese gegen mich war, kann ich gar nicht beschreiben. Sie schaute jetzt meine Kleider nach. Wo etwas fehlte, besserte sie es sorgfältig aus und brachte alles in Ordnung.

Auf einmal entdeckte sie die kleine blaue Beule in meinem Gesicht.

»Aber was ist denn das, mein Kind!« rief sie besorgt aus.

»O, das ist gar nichts!« erwiderte ich. »Da hat mich nur ein großer dänischer Junge auf dem Wege hierher ein wenig hingeschlagen.«

»Wie, Kind! Ein Junge hat dich geschlagen! Wie kam denn das?«

Ich erzählte ihr mein Abenteuer auf den Wällen bei den Schulkindern: wie ich dem kleinen Valdemar hatte helfen wollen, und wie ich mit Karl dadurch in Streit geriet.

Die gute alte Dame hörte gespannt zu. Dann sagte sie:

»Das war edel von dir, Nonni, daß du dem Kleinen geholfen hast. Aber in Zukunft mußt du dich sehr in acht nehmen vor den hiesigen Jungen, die könnten dir sonst einmal etwas Böses antun.«

Ich versprach der guten Frau, daß ich ihren Rat befolgen wolle, wenn ich auch nicht begreifen konnte, inwiefern so ein Kampf zwischen Knaben etwas gar so Schlimmes sei.

Währenddessen kam die junge Frau Professor wieder zu uns in den Salon zurück. Sie bat uns jetzt zum Mittagessen ins Speisezimmer.

An der feinen Tafel wurde für mich gesorgt, wie wenn alles sich nur um mich drehte. Ja ich wurde so mit Liebe und Güte überhäuft, daß ich nunmehr ganz sicher glaubte, Gott habe angefangen, sich meiner auf besondere Weise anzunehmen, und daß es so sei, wie meine Mutter gesagt hatte: Gott werde immer für mich sorgen und mich überall in seiner Hand halten.

Unter anderm wurde bei Tisch auch über den großen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gesprochen.

»Herr Professor«, fragte ich, »glauben Sie, daß ich bald nach Frankreich reisen kann?«

»Was das angeht, mein Lieber«, erwiderte der Professor, »so denke ich, daß es mit deiner Reise noch gute Weile hat ein Jahr wird der Krieg wohl zum wenigsten noch dauern.«

»Noch ein ganzes Jahr, Herr Professor?«

»Ja, ja, Nonni. Den Franzosen ist es bis jetzt gar nicht gut gegangen. Die Deutschen stehen schon weit in Frankreich drin. Es ist daher ganz ausgeschlossen, daß du so bald nach Frankreich reisen kannst.«

»Aber Herr Professor, die Matrosen auf dem Schiff haben mir gesagt, die Franzosen hätten die Deutschen absichtlich ins Land hineingelockt, um sie besser schlagen zu können!«

Der Professor lachte. »Da haben die Matrosen sich wohl geirrt, mein Freund! Den Franzosen geht es tatsächlich schlecht. Sie werden fast überall von den Deutschen überrumpelt und müssen sich fortwährend zurückziehen. – Sicher, du kannst darauf rechnen, daß du noch lange in Kopenhagen bleiben mutzt.«

»Und da kommst du dann immer recht fleißig zu uns auf Besuch, nicht wahr, Nonni?« fügte gleich die Frau des Professors bei. »Und dann erzählst du uns, wie es dir hier in Kopenhagen bei uns Dänen gefällt. Kopenhagen ist eine große, schöne Stadt, da gibt es so viel Neues für dich zu sehen, daß du ein ganzes Jahr lang nicht damit fertig wirst.«

»Mir gefällt Kopenhagen schon seht sehr gut«, erwiderte ich. »Ich habe heute mit dem Herrn Kapitän schon vieles in der Stadt gesehen.«

»So? Was war das zum Beispiel?« fragte Herr Brynjúlfsson.

»Ich habe den Herrn Dr. Grüder gesehen, bei dem ich wohnen soll, und viele Schulkinder, wie sie droben auf den Stadtwällen gespielt haben, und dann auch Briefträger in schönen roten Kleidern, und Soldaten und Polizisten mit glänzenden Helmen, und viele Wagen und Pferde und Menschen. In einer Anlage habe ich prachtvolle Blumen und Bäume und lebendiges Laub gesehen. Zuletzt war ich auch auf dem Runden Turm.«

»Das waren allerdings bedeutende Sehenswürdigkeiten«, schmunzelte der Professor; »wenigstens für dich, mein Lieber. In Kopenhagen gibt es aber noch manches andere zu sehen, glaubst du nicht?«

»Ja, Herr Professor, ich weiß etwas!« sagte ich schnell darauf: »die Statuen von Thorwaldsen! Die sind hier in einem großen Haus aufbewahrt!«

Der Professor erwiderte: »Du meinst das Thorwaldsen-Museum, Nonni. Aber für den Besuch dieses Museums bist du noch zu klein. Wir gehen lieber einmal in den Dom mit dir, dort kannst du die Christus- und die Apostelstatuen von unserm Landsmann Thorwaldsen sehen.«

»Sind die schön?« fragte ich.

»Ja, sie sind aus lauter weißem Marmor gemacht. – Und für so kleine Kunstliebhaber, wie du bist«, fügte er lächelnd hinzu, »passen sie auch besser.«

Damit wurde die Tischunterhaltung geschlossen.

Nach dem Mittagessen mußte der Herr Professor einen Gang in die Stadt machen, und so wurde ich wieder der mütterlichen Sorge der beiden Damen überlassen.

Zu meinem Zeitvertreib am Nachmittag hatten sie etwas Neues erdacht. Zuerst zeigten sie mir im Salon viele schöne Bilder, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Dann, als wir damit zu Ende waren, sagte die Frau Professor ein wenig scherzhaft zu mir:

»Nun wollen wir aber unsern kleinen Gast nicht länger im Zimmer einsperren. – Nicht wahr, Nonni, du bist gern draußen im Freien? Hast du vielleicht Lust, drunten in unserm Garten mit Kindern zu spielen? – mit lauter netten, lieben Kopenhagener Kindern?«

»O ja, das möchte ich! Aber es sind ja keine Kinder hier!«

»Keine Kinder, Nonni!?« fiel die alte Mutter ein. »Dann wirst du aber bald sehen, wie du da im Irrtum bist!« Und die Frau Professor fügte hinzu: »Ja, ja, kleiner Freund, an Spielkameraden für dich fehlt es nicht.«

Sie rief das Dienstmädchen und schickte es sogleich in ein benachbartes Haus, dis Kinder einer Familie von dem Freundeskreis des Professors einzuladen.

Nach einiger Zeit hörten wir viele hurtige Schritte und ein lebhaftes Plaudern draußen auf dem Gang.

»Da sind sie ja schon!« sagten die beiden Damen.

Ich lief zur Türe hin und machte auf: und wie der Wind sprangen lustig in den Salon herein fünf frische, fröhliche dänische Kinder: zwei Knaben, ungefähr zehn bis zwölf Jahre alt, und ihre drei etwas jüngeren Schwesterchen. Sie waren alle voll Lebendigkeit, ihre Augen leuchteten vor Freude.

Mit feinem Anstand, aber zugleich fröhlich und munter, grüßten sie uns. Dann wurde ich ihnen vorgestellt.

»Wißt ihr, woher dieser Knabe ist?« fing die Frau Professor an.

»Nein«, antworteten die Kinder alle auf einmal und schauten mich neugierig an.

»Wollt ihr raten?«

Die Kinder warfen forschende Blicke auf mich.

»Ist er kein Däne?« fragte der älteste Knabe.

»Nein, Kinder, er kommt aus einem fernen Land.«

»Dann ist er wahrscheinlich ein Norweger!« rief der jüngere Bruder.

»Nein.«

»Ein Schwede?«

»Auch nicht.«

»Ein Finnländer!« sagte eines der Mädchen.

»Nein.«

»Ein Deutscher!« rief das zweite.

»Nein.«

Das kleinste Mädchen hatte noch nicht geraten. »Vielleicht findest du es«, sagte die Mutter des Professors zu ihm.

Die Kleine überlegte ein wenig. – »Dann muß er ein Engländer sein!« meinte sie.

»Auch das nicht.«

Jetzt war die Verlegenheit groß. Die Kinder wurden immer mehr gespannt. Sie dachten weiter nach, strengten ihre kleinen Köpfe an und rieten von neuem.

»Ein Franzose?«

»Nein.«

»Ein Russe?«

»Nein.«

»Ein Schweizer?«

»Nein.«

»Ein Holländer?«

»Nein.«

Schließlich gaben sie das Raten auf. Sie umringten mich und baten voll Ungestüm:

»Jetzt sag uns aber selber, woher du bist!«

Ich schaute die beiden Damen an, ob ich es sagen dürfe. Sie nickten mir zu, und so entdeckte ich mich selbst den aufhorchenden Kindern:

»Ich bin aus Island und heiße Nonni.«

»Aus Island!« riefen sie alle voll Verwunderung. »Das ist doch nicht möglich! Du machst nur Spaß!«

»Nein, Kinder, Nonni ist wirklich ein Isländer«, sagte die Frau Professor. »Er ist ein kleiner, junger Landsmann von unserer Mutter hier.«

Als die Kinder merkten, daß es kein Spaß, sondern Wahrheit sei, schwiegen sie zuerst ganz still. Sie wurden feierlich ernst und verschlangen mich fast mit ihren großen Augen. Das kleinste Mädchen steckte in seiner Verwunderung sogar den Zeigefinger in den Mund.

»Das hätten wir nie erraten können«, sagten sie zueinander.

Jetzt schlugen die Damen vor, daß wir alle in den Garten hinter dem Hause hinuntergehen und uns nach Herzenslust dort herumtummeln sollten.

»Drunten könnt ihr dann euern kleinen isländischen Freund ausfragen über sein Heimatland und über alles, wie ihr wollt«, sagte die alte Mutter.

Der Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen, und sofort ging es hellauf zum Zimmer hinaus und die Treppen hinunter.

Die beiden Knaben nahmen mich zwischen sich in die Mitte, die kleinen Mädchen drängten sich an uns heran, so nahe sie konnten, und gleich begann wie um die Wette ein eifriges gegenseitiges Ausfragen.

Als wir vom Haus in den großen, schönen Garten hinaustraten, waren wir schon alle durch das rasche Plaudern auf der Treppe so miteinander bekannt geworden, daß es uns vorkam, als seien wir immer in unserm Leben beisammen gewesen.

In dem Garten war es unbeschreiblich schön. An wohlgepflegten schmalen Wegen hin standen ganze Bäumchen von roten, duftenden Rosen. In abgeteilten runden und viereckigen kleinen Feldern sah man die verschiedensten Blumen und Zierpflanzen, alles von dem lichten Schimmer der freundlich strahlenden Sonne umflossen.

Auf einem der lauschigen Gartenwege kam man zu einem offenen, runden Häuschen von lebendigem Laub.

Ich glaubte da vor einem Märchen zu stehen. Nie in meinem Leben hatte ich etwas Ähnliches gesehen. Es war ein richtiges kleines Häuschen, von grün- und goldfarbigem herbstlichem Laub gebildet. Die Wände, mit einer Reihe der schönsten Blumen ringsum und das zierliche gewölbte Dach mit einer weiten runden Öffnung oben in der Mitte bestanden wahrhaftig aus lauter lebendigem Laub, in welchem die Sonnenstrahlen ihr geheimnisvolles, zitteriges Spiel trieben.

Mitten in der Wunderlaube befand sich ein rundes, steinernes Becken, mit durchsichtigem Wasser bis oben an den Rand gefüllt. Ein stattlicher weißer Schwan, der aber nicht lebendig war, schien auf der Oberfläche des kleinen Sees zu schwimmen. Auf seinem Rücken saß wie zu Pferd ein lustiges, drolliges Knäblein, das ihn am Halse festhielt und seinen Kopf nach oben zu richten zwang. Aus dem offenen Schnabel des großen Vogels schoß ein Strahl kristallklaren Wassers hoch in die Luft und fiel wie ein Regen von glitzernden Perlen und Diamanten plätschernd wieder in das runde Becken hinab. Drinnen in dem hellklaren Wasser schwamm eine Menge kleiner Goldfische hin und her.

Was mich aber seltsam berührte, das war die Teilnahmlosigkeit meiner kleinen dänischen Freunde und Freundinnen gegenüber all dieser bezaubernden Schönheit. Als ich voll Entzücken ausrief: »O, wie ist das doch prächtig!« da schauten sie mich an, und der älteste Knabe fragte mich:

»Du meinst wohl den Schwan?«

Diese Frage schien mir ganz sinnlos zu sein. Aber ich nickte in meiner Ratlosigkeit, als ob es so sei.

Ich meinte natürlich nicht nur den Schwan, sondern auch die duftenden Rosen, das grüne Laub, den goldnen Sonnenschein, den lustig plätschernden Springbrunnen – und alles, alles, was mich hier umgab.

Der Knabe fuhr fort: »Er ist auch ganz nett; er ist erst kürzlich hier aufgestellt worden.«

Wie kalt und verständnislos kamen mir diese Worte vor! Doch die Kinder waren wohl an alles das so gewöhnt, daß sie nicht mehr darauf achteten.

Nachdem ich für mich allein diese zaubervolle Schönheit eine Weile bewundert hatte, gingen wir alle in das reizvolle grüne Häuschen hinein, setzten uns dicht zusammen auf Bänke und Stühle und fingen an, über Island zu plaudern.

Wir sprachen hauptsächlich von den Spielen der isländischen Kinder, von Schnee und Eis, von Stürmen und Räubern und Geächteten und den vielen Merkwürdigkeiten der fernen Insel.

»Ist es in Island schön?« fragte eines der kleinen Mädchen.

»Ja, es ist sehr schön dort, aber ganz anders als hier.«

»Wie sieht es denn dort aus?«

»Man sieht überall hohe Berge und schneeweiße Gletscher und viele Schluchten und Felswände, und in den Felsen sind Höhlen und dunkle Gänge. Und dann sind auch Täler dort und Flüsse und Wasserfälle, die machen so viel Geräusch, daß man in der Nähe gar nichts mehr hören kann vor lauter Sausen und Brausen.

»Und überall auf den Bergen sieht man viele Schafe und auch zuweilen wilde Stiere, die sich dort den ganzen Sommer im Freien aufhalten.«

»Auf den Bergen gibt es auch viele süße Beeren, da kann man pflücken und essen, soviel man will; besonders Heidelbeeren und wilde Erdbeeren; die löschen den Durst und schmecken sehr gut.«

»Dann sind auch viele kleine Pferde dort, aber sie sind kaum halb so groß wie die Pferde hier. Sie grasen in Freiheit überall herum oben auf den Hängen und Halden. Sie sind sehr stark und laufen schnell wie der Wind und können auf den Felsen klettern wie die Gemsen. Auf ihnen kann man reiten, so oft man Lust hat.«

So erzählte ich weiter, und die Kinder hörten aufmerksam zu.

»O, das muß aber schön sein!« rief das kleinste Mädchen aus. »Kannst du auch reiten, Nonni?«

»Ja, in Island können alle Knaben und Mädchen reiten. Ich habe schon zu reiten angefangen, als ich sieben Jahre alt war.«

Die Kinder schauten einander verwundert an. Es schien, daß sie mir nicht recht glauben wollten. Der ältere Knabe sagte:

»Mit sieben Jahren hast du schon zu reiten angefangen? Ist das auch wirklich wahr, Nonni?«

»Aber ganz sicher. In Island können fast alle Knaben schon reiten, wenn sie in diesem Alter sind.«

»Dann ist es ja in Island ganz anders als hier!« riefen die Kinder aus.

Ich wunderte mich, daß sie das so merkwürdig fanden, und fragte sie daher:

»Aber könnt ihr denn nicht auch reiten?«

»Nein«, antwortete der Knabe, »wenigstens nicht auf richtigen Pferden.«

»Nicht auf richtigen Pferden? – Worauf reitet ihr dann?« fragte ich.

»Wir reiten nur auf Schaukelpferden«, sagte lachend das kleinste Mädchen.

»Oder im Karussell«, fügte ein anderes hinzu.

Ich fragte: »Was sind das für Pferde? Von denen habe ich noch nichts gehört.«

»Wie, du kennst kein Schaukelpferd, Nonni?«

»Nein.«

»Und auch kein Karussell?«

»Nein, ich kenne nur die richtigen Pferde.«

»Dann will ich dir sagen, was ein Schaukelpferd ist«, erwiderte lebhaft der größere Knabe. – »Ein Schaukelpferd ist ein Pferd aus Holz, darauf kann man reiten im Zimmer drin. Aber es kann nicht laufen, es bleibt immer auf dem gleichen Platz. Man muß sich immer nach vorn neigen und wieder zurück, dann schaukelt es.«

»Und die Pferde im Karussell«, erklärte mir eines von den kleinen Mädchen, »die laufen draußen durch die Luft und immer in einem Kreis herum.«

»Die Pferde im Karussell sind aber dann wohl lebendig, wenn sie durch die Luft laufen können?« fragte ich.

»Nein«, sagte das Mädchen, »sie sind auch aus Holz. Eigentlich laufen sie nicht auf den Beinen, sie werden nur durch die Luft rundherum getrieben, und es ist immer Musik dabei.«

Jetzt war die Reihe an mir, erstaunt zu sein, denn trotz dieser Erklärungen blieben doch diese Pferde ein großes Rätsel für mich. Ich fragte weiter:

»Aber warum reitet ihr denn nicht auf richtigen Pferden?«

»O, das geht nicht so leicht hier, Nonni«, sagte der ältere Knabe. »Das wäre zu teuer. Wirkliche Pferde zu halten kostet viel Geld. Man muß einen Stall für sie haben und einen Pferdeknecht und vieles andere.«

»Das ist aber sonderbar«, bemerkte ich. »In Island kostet es fast nichts, Pferde zu halten, man hat sie immer bei der Hand.«

»Stehen sie denn bei euch nicht in Ställen?« fragte der Knabe.

»Nein, sie bleiben die ganze Zeit draußen auf der Weide. Nur wenn es im Winter sehr kalt wird und alles von Schnee bedeckt ist, dann kommen sie in einen Stall hinein. Das kostet aber nicht viel.«

»Bist du oft auf einem Pferd geritten, Nonni?« fragte jetzt der jüngere Knabe.

»Ja, sehr oft; so oft, wie ich Lust hatte. Meine Eltern hatten immer Reitpferde, und darauf konnte ich reiten, soviel ich wollte. Ich bin auch oft zusammen mit andern Knaben geritten, am meisten mit meinem kleinen Bruder Manni.«

»Und wohin seid ihr dann geritten?«

»Entweder auf die Berge hinauf in die Erdbeeren und Heidelbeeren, oder durch die Täler und über die Berghänge und Halden, wo die großen Weideplätze sind. Oft habe ich auch Besuche gemacht auf den Höfen bei Verwandten und Bekannten. Da war es dann immer sehr nett zusammen mit den Kindern.«

Für meine kleinen dänischen Freunde, die Knaben und die Mädchen, schien das alles etwas ganz Fremdes zu sein. Ich fragte sie daher:

»Kann man denn hier in Dänemark nicht so herumreiten?«

»Nein, das kann man hier nicht«, sagten sie.

»Muß man dann zu Fuß gehen, wenn man irgendwohin reisen will?«

»Das nicht«, erklärte mir der ältere Junge. »Man fährt mit der Eisenbahn oder mit einem Fuhrwerk. Nur die allerreichsten Leute haben Reitpferde.«

War aber das eine Enttäuschung für mich!

Ich sollte also auf keinem Pferd mehr reiten können draußen in der großen freien Natur! Sollte diese schönste Freude, die ich gehabt hatte, nun ganz entbehren müssen!

Ich wurde beinahe traurig gestimmt. Da fiel mir ein:

»Aber einen Kahn habt ihr doch gewiß, mit dem ihr aufs Meer hinausrudern könnt? – auf den Öresund. Dort muß es sehr schön sein.«

Die Kinder sagten wieder nein: sie hätten keinen eigenen Kahn und kämen nur wenig auf das Meer hinaus.

Jetzt stieg in mir die bange Ahnung auf, daß die wundervolle, märchenhafte Welt, in die ich hier gekommen war, vielleicht doch einige Schattenseiten haben könne. – Weder Pferd noch Kahn! Weder Reiten noch Rudern! Kein frisches, fröhliches Herumtummeln mehr in einer großen, freien Bergwelt! Nie mehr kühn hinaussegeln auf das unermeßliche blaue Meer! – O, es kam mir schwer vor, auf dieses sonnige, freie Leben, an das ich so sehr gewöhnt war, verzichten zu müssen.

»Hattest du denn deinen eigenen Kahn auf Island?« fragten die Kinder.

»Ja, und ich konnte damit Ruder- und Segelfahrten machen auf dem Meere draußen, so oft ich wollte. Warum kann man das denn hier nicht?«

»Man kann es schon hie und da«, sagte der große Knabe, »aber die Eltern erlauben es nicht gern, weil es auf dem Meere so gefährlich ist. Wir spielen deshalb fast immer hier in unserm Garten, und wenn wir etwas weiter fortgehen wollen, dann gehen Erwachsene mit.«

Diese Antwort betrübte mich. – Fast immer zu Hause! – Oder wenn man ein wenig hinaus wollte, dann immer Erwachsene dabei! – Ich fand das sehr merkwürdig und ganz gegen meine gewohnte goldene Freiheit draußen in der unbegrenzten, weiten, herrlichen Natur.

Sinnend warf ich einen Blick auf die Kinder, wie sie da in der prachtvollen Laube um mich herum saßen. Sie sahen alle sehr zart und hübsch aus, hatten schöne Kleider an und waren auch überaus lieb und freundlich. Doch es schien mir, daß ihnen eines fehlte: Körperkraft und das etwas urwüchsige Selbstgefühl meiner bisherigen Spielkameraden daheim in Island. – Sie würden wohl nicht leicht anstrengende Ritte in einer wilden Gebirgswelt aushalten können, dachte ich, und auch keine stürmischen Seefahrten auf den Meereswellen, wenn sie aufgeregt sind und schäumen und wogen. Dafür waren ihre Muskeln nicht fest und hart genug: sie waren zart und weich, weil sie immer zu Hause bleiben mußten.

Ich konnte aber nicht lange so nachdenken, denn gleich fragte wieder eines der Kinder:

»Nonni, was macht man bei euch im Winter? Gibt es viel Schnee in Island?«

»Ja, oft ungeheuer viel. Dann läuft man Ski und rodelt auf kleinen Schlitten von den Höhen herunter. Das ist immer sehr lustig. Und wenn bei uns viel Schnee um das Haus herumlag, dann sind wir Kinder auf das Dach hinaufgestiegen und haben uns in den tiefen Schnee hineingeworfen, daß wir uns kaum mehr herausbrachten.«

»Manchmal kommen auch ganz große Schneestürme: da werden alle Häuser unter dem Schnee begraben. Dann wird es finster in allen Stuben, und man muß überall Lichter anzünden. Und wenn dann der Schneesturm vorüber ist, muß man sich aus dem Schnee herausgraben. Das ist am allerspassigsten.«

Den kleinen Mädchen kam es zuletzt, wie mir schien, etwas unheimlich vor. Das kleinste von ihnen sagte:

»Dann ist es aber doch besser hier in der Stadt, Nonni, da wird man nie im Schnee begraben.«

Schließlich wurden wir alle davon überzeugt, daß Island und Dänemark zwei sehr verschiedene Länder seien. Ich selbst aber empfand große Freude, daß mich Gott zu so liebenswürdigen, artigen Kindern hatte kommen lassen. –

Jetzt gingen wir aus der Laube hinaus und fingen an zu spielen. Wir benutzten dazu den ganzen Garten, der sich hinter den Häusern bis zur Wohnung meiner kleinen dänischen Freunde hin ausdehnte. Wir spielten Versteck und Räuber und noch andere Spiele, die mir bisher alle unbekannt waren. Sie gefielen mir aber sehr gut und machten mir viel Spaß.

Zuletzt führten die Kinder mich auch in ihren eigenen Garten hinein. Wir setzten uns dort an einen Tisch, der im Freien stand, und ruhten ein wenig aus.

Als wir uns gesetzt hatten, flüsterte der ältere Knabe einer seiner kleinen Schwestern etwas ins Ohr. Das Mädchen lief sofort ins Haus hinein. Nach wenigen Minuten kam es zurück und brachte eine schöne Schachtel und eine kleine, zierliche Metallbüchse mit.

Ich sollte nun raten, sagten die Kinder, was in der Schachtel und in dem Büchschen enthalten sei; aber ich konnte es natürlich nicht.

Da nahm zuerst das kleine Mädchen die Metallbüchse, öffnete sie und holte daraus eine kleine, graue, behaarte Maus hervor und stellte sie auf den Tisch.

»Ist die nicht nett, Nonni?« rief es freudig aus und klatschte in die Hände.

Das niedliche Tierchen sah einer wirklichen Maus so ähnlich, daß ich zuerst ganz erschrocken zurückwich.

Die Kinder lachten. »O, du brauchst gar nicht bange zu sein«, sagten sie, »sie tut dir nichts.«

Dann nahm das Mädchen die Maus in die Hand, drehte einen kleinen Messingzapfen, der an ihrer Brust angebracht war, einige Male um, stellte das Tierchen wieder auf die Tischplatte, und nun geschah etwas Wunderbares:

Die Maus wurde lebendig und fing an, lustig auf dem Tisch hin und her zu spazieren!

Ich stieß einen Schrei aus und sprang ein Stück weit fort.

Da gab es wieder ein lautes Gelächter bei den Kindern. »Nonni hat Angst!« riefen sie mir zu. »Komm doch, sie tut dir ja nichts!«

Zögernd wagte ich mich wieder zum Tisch hin und sah nun, wie die Maus allmählich ihren Lauf mäßigte, dann einen eigentümlichen metallischen Laut von sich gab und im nächsten Augenblick ganz stillestand.

»Jetzt ist sie müde geworden und kann nicht mehr laufen«, sagte schelmisch lächelnd das kleine Mädchen.

Die Kinder zeigten und erklärten mir nun die Einrichtung des drolligen Mäuschens. Es war in der Tat ein vollständig ungefährliches, künstliches Tierchen, und ich fühlte mich etwas beschämt, daß ich mich so untapfer benommen hatte.

Als wir lange genug mit der Maus gespielt hatten, nahm der ältere Knabe die Schachtel auf dem Tisch in beide Hände, hielt sie gegen seine Brust und sagte:

»Nonni, kennst du Zinnsoldaten?«

»Wie sind die?« fragte ich.

»Hast du noch keine gesehen?«

»Nein.«

»Dann paß einmal auf, gleich werden ein paar Reihen hier auf dem Tisch stehen«, sagte er bedeutungsvoll, indem er die Schachtel wieder hinstellte und behutsam, wie wenn etwas Lebendiges darin wäre, den Deckel entfernte.

Ich schaute vorsichtig hin und sah zu meiner Verwunderung, wie er eine ganze Anzahl kleiner, buntfarbiger Figürchen herausnahm und sie reihenweise in zwei Abteilungen einander gegenüber auf die Tischplatte stellte.

»Diese hier mit den roten Hosen und den weißen Gamaschen«, sagte er, »das sind die Franzosen; und die Blauen hier mit den Pickelhauben, das sind die Deutschen. Solche Soldaten kämpfen jetzt drüben in Frankreich miteinander. Es sind aber dort lauter richtige.«

Ganz verblüfft betrachtete ich die netten lackierten Zinnsoldaten mit ihren kleinen Armen und Beinen und Köpfen und den ebenso kleinen Gewehren, mit denen sie taten, als wollten sie gerade schießen.

Ich fragte den Knaben, wie man mit diesen Soldaten spielen könne.

»Jetzt stehen sie in der Schlachtordnung«, erklärte er mir eifrig. »Man kann sie aber auch anders aufstellen. – Diese hier (er deutete auf einige mit sehr feinen Uniformen), das sind die Feldherren und die Offiziere, die kommandieren, wenn die Soldaten angreifen müssen. Weil sie aber nicht sprechen können, muß man das selbst tun. – Eine großartige Schlacht gibt es, wenn man die Maus gegen die Soldaten laufen läßt. Da paß einmal auf, Nonni, was für ein Blutbad dies geben wird!«

Im Nu hatte das kleine Mädchen die Maus wieder aufgezogen und stellte sie nun in der Richtung gegen die Soldaten auf die Tischplatte hin. Wir blickten alle mit Spannung auf das Mäuschen, das sich wieder von selbst in Bewegung setzte und wie ein wahres Ungeheuer gegen die Schlachtreihe vorlief.

»Hurra!« riefen die Kinder, und im nächsten Augenblick rannte die Maus sämtliche Soldaten über den Haufen, daß sie nur so durcheinander purzelten.

Wir lachten alle laut auf und freuten uns köstlich über diesen glänzenden Sieg des winzigen Mäuschens gegen zwei ganze feindliche Heere. –

Mitten in diesem fröhlichen Lachen vernahm ich plötzlich hinter mir eine Stimme:

»Ist das aber eine Freundschaft und ein Vergnügen!«

Ich wandte mich um, da standen vor mir, freundlich lächelnd, die Frau und die Mutter des Professors Brynjúlfsson. Sie waren, ohne daß wir sie bemerkten, zu uns herangekommen und hatten uns wohl schon eine Weile beobachtet.

Sie sagten, es sei jetzt Zeit zum Abendessen, wir könnten ja ein anderes Mal wieder zusammen spielen.

»O, das wird fein!« riefen die Kinder lebhaft aus. »Nonni darf also bald wieder zu uns kommen, nicht wahr?«

»Ja, gern, das darf er«, erwiderte freundlich die junge Frau Professor. »Fürs erstemal habt ihr nun aber lange genug miteinander gespielt. Ich sehe, ihr seid schon sehr gute Freunde geworden. Das ist hübsch von euch. Jetzt aber ist es Zeit für euch alle zum Abendessen.«

Ich nahm herzlichen Abschied von den Kindern, versprach ihnen, daß ich bald wiederkommen wolle, und ging dann mit den beiden Damen durch den schönen Garten zurück nach dem Hause des Professors Brynjúlfsson.

»Auf Wiedersehen, Nonni!« riefen die Kinder mir nach und winkten mit den Händen.

»Auf Wiedersehen!« winkte ich zurück.

Als wir in das Haus hineingingen, begann die Mutter des Professors mir eine überraschende Neuigkeit zu erzählen. Sie sagte:

»Weißt du auch, Nonni, daß wir Besuch bekommen haben, während du bei den Kindern warst?«

»Ist ein Fremder da?« fragte ich.

»Ja, aber einer, den du gut kennst.«

Ich schaute die alte Dame mit großen Augen an.

»Er ist noch hier«, fuhr sie fort, »und sitzt oben bei meinem Sohn in seinem Arbeitszimmer.«

Die junge Frau Professor sagte, ich solle einmal nachdenken, wer es wohl sein könne. Allein ich konnte es unmöglich erraten.

Meine Spannung stieg immer mehr und mehr.

»Nun, ich will es dir sagen«, kam mir endlich die alte Mutter zu Hilfe: »Es ist Gunnar Einarsson, der andere isländische Knabe, der mit dir nach Frankreich reisen soll. Er hat heute nachmittag von Herrn Dr. Grüder gehört, daß du hier seiest, drum ist er gekommen und will dich abholen.«

Ich wäre jetzt am liebsten gleich die Treppe hinaufgesprungen, um meinen Landsmann zu begrüßen, doch wegen der beiden Damen wäre mir das unschicklich vorgekommen. Ich folgte ihnen daher langsam mit gemäßigten Schritten in den oberen Stock hinauf und ging mit ihnen zunächst wieder in den Salon hinein.

Kaum waren wir dort eingetreten, da ging nebenan die Tür des Arbeitszimmers auf, und herein kam der Herr Professor mit meinem Freund und Landsmann Gunnar Einarsson von dem Hofe Nes im Eyjafjörður!

Voll Freude eilte ich zu Gunnar hin und grüßte ihn herzlich.

Gunnar war etwas größer als ich: er war auch mehrere Jahre älter.

»Wie geht es dir, Gunnar?« fragte ich, »und wie gefällt es dir in der Breitstraße?«

»Ganz ausgezeichnet, Nonni! Dr. Grüder hat mich hierher geschickt. Er erwartet dich heute abend. Unser Zimmer ist schon gerichtet.«

»Kommen wir beide zusammen in ein Zimmer, Gunnar?«

»Ja, oben im dritten Stock, Dr. Grüder wohnt im zweiten Stock, gerade unter uns.«

»Ist das an dem dunklen Treppengang …?«

»Ja, gerade die Treppe hinauf, wo du heute morgen eingebrochen bist!« unterbrach mich lachend Gunnar.

»So, weißt du das auch schon!« erwiderte ich etwas verlegen. – »Aber, Gunnar, es ist doch herrlich, daß wir beide zusammen in das gleiche Zimmer kommen!«

»Ja, da könnt ihr dann in der Breitstraße so eine kleine isländische Kolonie für euch bilden«, bemerkte scherzend der Herr Professor.

Die Mitteilungen Gunnars erfüllten mich mit großer Freude. Ich sollte also nicht, wie ich gefürchtet hatte, ganz allein unter lauter fremden Menschen sein, sondern gleich mit einem isländischen Kameraden eine gemeinsame Wohnung beziehen.

Der Professor sagte nun: »Jetzt ist es aber schon spät, meine Freunde; und eigentlich hätte Herr Grüder unsern kleinen Nonni gern bei sich zum Abendessen gehabt. Das geht nun freilich nicht, ich will euch beide bei mir zu Gast haben. Herr Grüder wird das sicher nicht übelnehmen. Nach Tisch gehen wir dann alle drei zusammen sofort in die Breitstraße.«

»Wollen Sie wirklich auch mitgehen, Herr Professor?« fragte ich.

»Aber selbstverständlich, mein Junge!«

Wir begaben uns jetzt sogleich in das Speisezimmer, wo bereits der Tisch gedeckt war. Während der Mahlzeit mußte ich dem Herrn Professor von meinen Spielen mit den Kindern drunten im Garten berichten.

Gunnar erzählte mir dann einiges von den Gebräuchen im Grüderschen Hause in der Breitstraße. – »Es wird dir an nichts fehlen, Nonni«, sagte er. »Man wird dort sehr gut behandelt.«

»Wie viele Leute sind in dem Hause?«

»Es sind drei Herren da: Dr. Grüder selbst und zwei jüngere Herren, die bei ihm in Pension wohnen.«

»Sind das gute Menschen?« fragte ich.

»Ja, Nonni, sie sind außerordentlich liebenswürdig. Unsere Mahlzeiten nehmen wir gemeinschaftlich mit ihnen ein. Eine alte Dame und ein Mädchen sorgen für das Hauswesen.«

Dies und anderes berichtete Gunnar von meinem künftigen Heim und gab mir dazu auch einige Ratschläge, wie ich mich dort verhalten solle. So erfuhr ich schon jetzt allerlei, was mir nützlich sein konnte in meiner neuen Umgebung in der Breitstraße.

Nach dem Abendessen nahm ich Abschied von der Frau und der Mutter des Herrn Professors und dankte ihnen herzlich für ihre Gastfreundschaft. Dann begab ich mich zusammen mit dem Herrn Professor und Gunnar auf den Weg nach der Breitstraße.

Draußen war es Nacht geworden – eine märchenhafte, zaubervolle Nacht!

Dieser Gang durch die große, hell beleuchtete Stadt machte von neuem einen gewaltigen Eindruck auf mich, mehr noch als am Abend vorher, wo ich mit den Matrosen durch einige Straßen in der Nähe des Neuhafens gegangen war.

Ich beteiligte mich wenig am Gespräch meiner beiden Gefährten, denn ich hatte genug für mich zu tun mit fortwährendem Schauen und Staunen.

Ich sah immer neue Merkwürdigkeiten: die schnurgeraden breiten Straßen mit den hohen Häusern an beiden Seiten, die unzählige Menge der Wagen, das hin und her wogende Menschengewühl, das seltsame, geheimnisvolle Leben und Treiben überall um mich herum. Das alles hatte ich zwar am Tage schon gesehen, aber jetzt in dem nächtlichen Glänzen und Funkeln der Großstadtbeleuchtung nahm es sich ganz anders aus und bestrickte förmlich meine Sinne. Es war ein Schauspiel für mich so seltsam fremdartig und bezaubernd, daß es mir unvergeßlich blieb.

Der weite Weg von der Dossering bis zur Breitstraße kam mir daher diesmal gar nicht lang vor. Noch ehe ich daran dachte, waren wir an unserm Ziele angelangt.


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