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3. Eine überraschende Begegnung

Eine kleine Strecke von der Marmorkirche entfernt blieb Herr Foß auf einmal stehen. Er faßte mich am Arm, zeigte mit der Hand über die Straße hinüber und sagte:

»Nonni, sieh mal dort das kleine Tor und lies, was darüber steht.«

Ich schaute hinüber und fand sogleich das kleine Tor samt der Überschrift. Im nächsten Augenblick rief ich voll Freude und Begeisterung aus:

»Herr Kapitän, da wohnt Herr Dr. Grüder! Es ist die Nummer 64!«

Aber es war merkwürdig; man konnte dort kein Haus sehen, sondern nur eine hohe Mauer. Ich fragte deshalb Herrn Foß, wie das komme, und ob Herr Grüder vielleicht doch nicht da wohne.

»Nur Geduld, mein Freund«, erwiderte der Kapitän, »das Haus wird wohl etwas weiter zurück von der Straße liegen.«

Ich betrachtete mit Spannung den Ort und fühlte mich eigentümlich ergriffen. – Hier sollte ich also wohnen! »Breitstraße 64«, so hatte es meine Mutter mir aufgeschrieben.

Das erste Ziel meiner langen Reise war erreicht!

Aber wo nur das Haus des Herrn Dr. Grüder sein mochte? – Ich konnte es nirgends finden.

Links von uns war ein schöner Bau mit einer Apotheke. Der Kapitän sagte, der schöne Bau sei ein königliches Krankenhaus und heiße »Friedrich-Spital«. Zur Rechten lag ein mächtiges Gebäude mit breiten, steinernen Stufen und hohen Säulen am Eingang. Ich schaute es mit Bewunderung an und fragte, was dies für ein Haus sei.

»Das ist das Anatomische Institut der Stadt Kopenhagen«, antwortete Herr Foß.

»Was machen die Leute, die da drin wohnen, Herr Kapitän?«

»Die haben eine ganz eigenartige Beschäftigung, Nonni. – Da drinnen untersucht man tote Menschen.«

»Wie? – tote Menschen! – Leichen!« fragte ich bestürzt. »Ist das möglich, Herr Kapitän?«

»Gewiß, Nonni.«

»Aber warum untersuchen sie denn tote Menschen?«

»Sie tun es, um die Kranken besser heilen zu können.«

Ich verstand nicht, was dies heißen sollte. Da erklärte mir Herr Foß:

»Wenn drüben im Spital ein Kranker stirbt, und man weiß nicht recht, welches die Todesursache war, dann bringt man den Toten ins Anatomische Institut und sucht herauszufinden, welche Krankheit er gehabt hat. Und wenn man es findet, dann kann man später mit größerer Leichtigkeit einem Kranken helfen, der an derselben Krankheit leidet.«

Das schien mir sehr vernünftig zu sein. Nur war es mir nicht angenehm, daß ein solches Haus so nahe bei dem Ort lag, wo ich nun bald wohnen sollte.

Um das Gespräch von diesen unheimlichen Dingen abzulenken, sagte ich:

»Herr Kapitän, meinen Sie nicht, daß wir einmal sehen sollten, wo man in das Haus des Herrn Dr. Grüder hineingeht?«

Herr Foß schaute nach links und nach rechts. Dann sagte er:

»Man kann es wahrscheinlich von hier aus gar nicht sehen. Es wird wohl, wie ich gesagt habe, etwas weiter von der Straße zurückliegen. Wenn du willst, so geh nur hinüber und schau einmal zu dem kleinen Tor hinein, vielleicht kannst du es dann sehen. Ich warte hier.«

Ich ließ mich nicht zweimal auffordern. Voll Begierde, endlich mein neues Heim zu sehen, in das ich noch diesen Abend einziehen sollte, sprang ich hinüber. Nach einem nochmaligen schnellen Blick auf die Nummer 64 öffnete ich behutsam das kleine Tor und ging hinein.

Vor mir lag jetzt ein gerader, offener Gang mit hohen Mauern zu beiden Seiten.

Rasch entschlossen schritt ich vorwärts durch den langen Gang und entdeckte bald eine steinerne Treppe, deren Stufen zu einer Haustür linkerhand hinaufführten.

Hier war also ein Wohnhaus, wie der Kapitän vermutet hatte, und ich zweifelte nicht, daß Herr Grüder da wohne.

An der steinernen Treppe angelangt, blieb ich stehen und betrachtete eine Weile die Tür.

Die muß man doch leicht aufmachen können, dachte ich. – Soll ich es probieren?

Ich empfand eine unbändige Lust dazu.

Aber war es denn erlaubt, so ohne weiteres in ein fremdes Haus hineinzugehen?

Schließlich siegte die Neugierde über alle meine Bedenken. Ich ging auf den Fußspitzen die wenigen Stufen hinauf, faßte vorsichtig die Türklinke und drückte sie leise hinunter.

Die Tür ging auf.

Ich steckte den Kopf hinein und sah in einen dunklen Gang. In der rechten Wand schienen einige Türen zu sein. Zur Linken dagegen, nur ein paar Schritte von mir, war eine Treppe, die in die oberen Stockwerke hinaufführte.

Alles war still. Ich schaute und horchte. Aber ich vernahm nicht den geringsten Laut.

Jetzt nahm ich mir ein Herz und trat in den dunklen Hausgang hinein. Langsam ließ ich die Türe los. Sie schloß sich von selbst hinter mir.

Ich stand nun ganz im Dunklen.

Was tun? – Ich streckte beide Arme aus und ging vorsichtig die paar Schritte bis zur Treppe hin. Ich schaute hinauf. Von oben kam ein wenig Tageslicht herunter. Es mußte also irgendwo ein Fenster oben sein.

Sollte ich es wagen, hinaufzugehen? – Ich überlegte.

Auf einmal fuhr ich zusammen. – Oben wurde eine Tür aufgemacht. Dann wurde sie wieder zugemacht, und es wurden Tritte hörbar.

Ich merkte, daß jemand an die Treppe kam. – Man hatte mich sicher entdeckt!

Ich wandte mich daher, so schnell ich konnte, nach der Haustür zurück und wollte eiligst hinaus. Doch wegen der Dunkelheit war es mir nicht möglich, gleich die Türklinke zu finden; ich mußte erst eine Weile nach ihr herumtasten.

Unterdessen waren die Tritte hinter mir immer näher gekommen.

Endlich brachte ich die Türe auf. Ich wollte entfliehen. Allein es war zu spät. Als ich mich nämlich schnell noch umschaute, sah ich ganz nahe hinter mir einen vornehmen, älteren Herrn.

Ich schämte mich nun, wie ein Einbrecher vor den Augen des Mannes hinauszulaufen, und blieb deshalb bei der offenen Türe stehen.

Im Tageslicht, das jetzt durch die Türe in den dunklen Gang hereinfiel, konnte ich den vornehmen Herrn genau erkennen. Er trug einen langen, dunkelblauen Rock, sein Gesicht war glatt rasiert, die Nase stark gebogen. Er war von mittlerer Größe und sah sehr ernst aus.

O Gott! – schoß es mir wie ein Blitz durch den Kopf, das muß der Herr Dr. Grüder selbst sein! Sein Aussehen und seine Kleider, alles paßte genau zu der Beschreibung, die uns das Fräulein in dem Obstladen von ihm gegeben hatte.

Ich nahm schnell meine Mütze ab, stellte mich gegen den einen Türpfosten, hielt mit der Hand die Tür und sagte, nur um in meiner Verlegenheit überhaupt etwas zu sagen:

siehe Bildunterschrift

»Guten Tag, mein Herr! Wenn Sie hinausgehen wollen, so will ich die Tür so lange offen halten.« (S. 31.)

»Guten Tag, mein Herr! Wenn Sie hinausgehen wollen, so will ich die Tür so lange offen halten.«

»Ich danke dir, mein Junge. Aber sag mir, was wünschest du eigentlich? Willst du vielleicht jemand hier im Hause besuchen?«

»Nein, mein Herr, ich will niemand besuchen«, antwortete ich kleinlaut.

»Aber warum kommst du dann hier herein? Etwas mußt du doch vorhaben?«

»Ich wollte nur sehen, ob die deutschen Herren hier wohnen.«

»Gewiß, die wohnen hier. Willst du zu einem von ihnen gehen?«

»Nein, aber ich sollte heute abend hierher gebracht werden.«

Der Mann schaute mich jetzt mit großen Augen an und betrachtete mich aufmerksam. Dann sagte er:

»Du sollst zu den deutschen Herren hierhergebracht werden? Heute abend? Ja wer bist du denn, mein Junge, und wo kommst du her?«

»Ich heiße Nonni«, antwortete ich rasch. »Ich komme von Island, und ich soll hier eine Zeitlang bei Herrn Dr. Grüder wohnen.«

Sichtbar überrascht, reichte der Herr mir nun die Hand und sagte überaus freundlich:

»Aber dann sollst du ja gerade bei mir wohnen, kleiner Freund! Mein Name ist Hermann Grüder.«

Jetzt drückte auch ich seine Hand und sagte: »Ich hatte mir gleich gedacht, daß Sie der Herr Dr. Grüder sind.«

»So? – Kennst du mich denn?«

»Nein, Herr Doktor, aber ich habe soeben von einem Fräulein gehört, wie Sie aussehen.«

Herr Grüder schaute mich fragend an.

»Es war ein Fräulein in einem Obstladen«, fuhr ich fort; »ich habe dort eine Birne gegessen.«

Herr Grüder lächelte. Er sah jetzt gar nicht mehr ernst aus. Ich bekam den Eindruck, daß er ein freundlicher, guter Mann sein müsse. Er nahm wieder das Wort und sagte:

»Es freut mich herzlich, daß du hier bist, kleiner Freund. Aber nun erzähle mir auch, wie du so ganz allein hierher kommst.«

»Ich bin nicht allein, Herr Doktor. Der Kapitän des Schiffes ›Valdemar von Rönne‹, das mich von Island hergebracht hat, steht draußen auf der Straße und wartet auf mich.«

»So, so? Dann werde ich ihn ja gleich begrüßen können. Ich gehe nämlich gerade in die Stadt, da kannst du mich zu ihm hinbegleiten.«

Herr Grüder wollte hinausgehen. Er blieb aber nochmal stehen und besann sich einen Augenblick. Dann sagte er:

»Weißt du auch, Nonni, daß der andere isländische Knabe, der zusammen mit dir nach Frankreich reisen soll, schon vor einiger Zeit bei uns angekommen ist?«

»Meinen Sie den Gunnar Einarsson, Herr Doktor?«

»Ja, den Gunnar Einarsson, von dem Hofe Nes im Eyjafjörður auf Nord-Island. Ihr kennt euch wohl?«

»Ja, Herr Doktor, wir wohnen in Island nicht weit voneinander. Ich bin auch aus dem Eyjafjörður.«

»Richtig, das hat er mir schon erzählt.«

»Geht es ihm gut, Herr Doktor?«

»Ja, Nonni, es geht ihm gut, und ich bin sehr mit ihm zufrieden. Er sitzt fast den ganzen Tag über seinen Büchern und lernt.«

»Ist er wirklich so fleißig?« fragte ich etwas betroffen.

»Ja, das ist er. – Und du bist es wohl auch, nicht wahr, kleiner Freund?«

»Ich weiß nicht, Herr Doktor. Ich will es aber versuchen. Doch ich glaube nicht, daß ich so fleißig sein kann wie Gunnar.«

»So? – Warum denn nicht, mein Lieber?«

»Ich bin nicht daran gewöhnt, Herr Doktor.«

Herr Grüder fing an zu lachen. »Nicht daran gewöhnt!« sagte er. »Was hast du denn eigentlich bis jetzt getrieben?«

»Ich bin viel in den isländischen Bergen herumgeritten und auch viel auf dem Meere in meinem Kahn gefahren. Es gefällt mir immer am besten, wenn ich draußen in der freien Luft bin.«

Herr Grüder lächelte abermals. »Dann hast du es allerdings recht schön gehabt«, erwiderte er. – »Ja, ja. – Du kommst mir vor wie so eine kleine wilde Blume aus den isländischen Bergen. – Doch sei nur nicht bange, mein Freund, du wirst auch hier nach Herzenslust im Freien sein und herumspringen können. Freilich nicht den ganzen Tag. Du mußt zwischenhinein auch etwas lernen und studieren, sonst wirst du ja nie ein tüchtiger Mann werden. Daran gewöhnt man sich aber schon mit der Zeit.«

Was Herr Grüder hier gesagt hatte, gefiel mir, und ich wurde immer mehr überzeugt, daß er wirklich ein guter Mann sei.

Er trat jetzt zur Haustüre hinaus. Ich folgte ihm die steinernen Stufen hinunter und ging an seiner Seite durch den langen, offenen Gang bis zum Straßentor.

Währenddessen fragte er mich: »Nonni, du sagtest soeben, das Schiff, auf dem du nach Kopenhagen gekommen bist, heiße ›Valdemar von Rönne‹. Wie heißt denn der Kapitän?«

»Er heißt Foß. Er ist von Bornholm. Alle Matrosen des Schiffes sind von Bornholm. Herr Foß kennt schon Ihren Namen, Herr Doktor!«

»Warum ist er denn nicht mit dir ins Haus hereingekommen?«

»Ich glaube, er wollte Sie nicht stören, Herr Doktor.«

Mittlerweile hatten wir das Straßentor erreicht. Ich machte die Tür auf und ließ Herrn Grüder vor mir hinausgehen. Dann sprang ich hinter ihm her und an ihm vorbei und lief eilends zu Herrn Foß hin, der auf der andern Seite der Straße wartete.

Herr Grüder kam langsam nach.

Ich faßte den Kapitän am Arm, zog ihn zu mir herunter und flüsterte ihm ins Ohr:

»Herr Kapitän, der Mann, der da kommt, ist der Herr Dr. Grüder!«

Im nächsten Augenblick war schon Herr Grüder selbst da. Er grüßte den Kapitän freundlich und reichte ihm die Hand.

»Ich höre«, sagte er, »daß Sie diesen kleinen Isländer hierher gebracht haben. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Hermann Grüder.«

Der Kapitän stellte sich ebenfalls dem würdigen Herrn vor und teilte ihm dann sogleich mit, daß er mich auf Wunsch meiner Mutter zu einer Familie in der Stadt überbringe.

Herr Grüder erwiderte, er habe schon eine Zeitlang auf meine Ankunft gewartet und freue sich, daß ich nun endlich da sei, und noch dazu so fröhlich und so frisch.

»Ja, er ist recht munter und ist auch die ganze Reise hindurch immer so gewesen«, sagte Herr Foß darauf.

Herr Grüder blickte mich freundlich an: »Das gefällt mir, mein Junge, und ich hoffe, daß du auch bei uns deine Fröhlichkeit nicht verlieren wirst.«

Zu Herrn Foß gewandt, fuhr er fort: »Haben Sie eine glückliche Überfahrt gehabt, Herr Kapitän?«

»Nein, leider nicht, Herr Doktor. Wir hatten eine ungewöhnlich harte und lange Reise.«

»Das tut mir aber herzlich leid«, sagte Herr Grüder teilnahmsvoll und mit einem väterlichen Blick auf mich, wie wenn er mich trösten wollte. Ich entgegnete aber sogleich:

»Herr Doktor, mir hat es ganz gut gefallen! Die Stürme und die hohen Wellen haben mir immer Spaß gemacht, und auch die Eisberge!«

»Das ist brav von dir, mein Junge. Doch wie sagst du: Eisberge? – Sind Sie denn zwischen Eisberge geraten, Herr Kapitän?«

»Ja, Herr Doktor, und wir können Gott danken, daß wir überhaupt mit dem Leben davongekommen sind.«

»Das muß allerdings schlimm gewesen sein. – Sie haben wohl starke Stürme gehabt und sind am Ende aus Ihrem Kurs verschlagen worden?«

»Ja, wir hatten förmliche Orkane zu bestehen und haben für diese Reise, die sonst in acht bis zehn Tagen gemacht werden kann, mehr als dreißig Tage gebraucht.«

»Dann darf man Ihnen aber wahrhaftig Glück wünschen«, bemerkte Herr Grüder. – »Und du, kleiner Freund, sagst, eine solche Reise habe dir Spaß gemacht!?«

»Ja, Herr Doktor; auf dem Meere gefällt es mir immer am besten, wenn viel Sturm und Bewegung da ist!«

Die beiden Herren mußten lachen.

Herr Grüder sagte dann zum Kapitän: »Wann werde ich nun den kleinen Isländer bei mir erwarten können?«

»Erst heute abend, Herr Doktor. Seine Mutter hat mich, wie gesagt, gebeten, ich solle ihn zuerst zu einem isländischen Freund bringen. Wir sind gerade auf dem Wege dahin. Ich zeige ihm noch die Stadt ein wenig; heute abend aber wird er sicher bei Ihnen eintreffen.«

»Gut, so werden wir uns also heute abend wiedersehen, Nonni!«

Damit reichte Herr Grüder uns die Hand und bat um Entschuldigung, daß er uns schon verlassen müsse. Er habe dringende Geschäfte in der Stadt zu besorgen, sagte er.

Ehrerbietig nahmen wir Abschied von dem außerordentlich würdigen und freundlichen Herrn, der sich darauf rasch durch die Breitstraße in der Richtung nach dem Neuen Königsmarkt entfernte.


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