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2. Es glückt!

Im Holmens-Kanal schaukelten eine Menge Kähne auf dem Wasser. Sie waren in einer langen Reihe mit kleinen eisernen Ketten am Kai festgebunden.

An der Kaimauer tief unten, dicht am Wasser, stand ein kleines hölzernes Häuschen, ähnlich einem niedrigen, länglichen Schilderhaus.

»Da wohnt der Eigentümer all dieser Boote«, sagte Valdemar.

Wir gingen zu dem Häuschen hin und klopften an. Sofort erschien an einem Fensterchen, das aus einer einzigen kleinen Scheibe bestand, ein bärtiges Gesicht, und gleich darauf kam der Mann mit diesem Gesicht zu uns heraus.

Es war ein älterer, sonnverbrannter Matrose, von kräftiger Gestalt, ein echter Seebär. Er hatte eine dunkelblaue gestrickte Jacke an, auf dem Kopfe eine runde wollene Matrosenmütze und am Finger einen schweren goldenen Ring, wie ihn alte Seeleute gern tragen.

Da er wie ein richtiger Seemann aussah, mit festem, klugem Blick, nahm ich an, daß er einmal Steuermann gewesen sei. Ich grüßte ihn daher höflich mit den Worten:

»Guten Tag, Herr Steuermann! Haben Sie vielleicht ein gutes Segelboot? Wir haben vor, eine kleine Seefahrt zu machen.«

»Kommt und seht's euch an«, erwiderte er kurz und führte uns ein Stück weit dem Ufer entlang zu einer Stelle, wo ungefähr ein Dutzend kleiner Segelboote festgebunden waren, ältere und neuere, in verschiedenen Farben angestrichen.

Auf jedem stand hinten am Heck in zierlichen Goldbuchstaben ein Name gemalt. Da war ein »Schwan«, eine »Möve«, ein »Wal«, ein »Delphin«, eine »Gudrun«, eine »Edda«, eine »Saga«, und dergleichen mehr. Sie lagen alle auf dem Wasser in Reih und Glied nebeneinander.

Ich hüpfte sogleich in den ersten Kahn hinein und untersuchte ihn sorgfältig. Mast und Segel, Steuer und Ruder, alles war in bester Verfassung. Auch ein Schöpfnapf war vorhanden.

Dann sprang ich noch in einige andere Boote hinein. Die meisten gefielen mir sehr gut.

Zuletzt entschied ich mich für die »Edda«. Sie war schlank gebaut und hatte die richtige Größe.

»Die ›Edda‹ gefällt mir am besten«, rief ich dem Manne zu. »Sie wird wohl gut auf dem Wasser laufen?«

»Das tut sie, mein Junge! Die ›Edda‹ ist ein tüchtiger Schnellsegler!«

Ich sprang wieder aus dem Boot ans Ufer hinauf und fragte:

»Wieviel verlangen Sie für die Stunde?«

»Eine Mark.«

»Und für einen Tag?«

»Drei Taler.«

»Und für zwei Tage?«

Der Mann schaute mich verwundert an. – »Für zwei Tage würde ich fünf Taler nehmen«, sagte er. »Habt ihr denn eine so weite Reise vor?«

»Ja, wir könnten leicht zwei Tage ausbleiben.«

»Wo wollt ihr hin, wenn ich fragen darf?«

»Wir wollen nach Malmö fahren.«

Der Seemann mit seinen scharfen Augen musterte uns von oben bis unten. Dann sagte er:

»Versteht ihr auch ordentlich ein Boot zu führen?«

»Ja, Herr Steuermann.«

»Wie alt bist du?«

»Dreizehn Jahre.«

»Und der andere?«

»Elf.«

Jetzt richtete der Mann wieder seinen prüfenden Blick auf uns zwei, besonders auf, Valdemar. Er schien zu überlegen. Dann schüttelte er den Kopf und sagte bestimmt:

»Nein, das geht nicht. Ihr seid zu jung. Ihr könnt nicht allein nach Schweden fahren. Das sind ja über dreißig Kilometer! Zu der Reise bekommt ihr von mir kein Boot!«

»Herr Steuermann, ich bin aber schon oft so weit gesegelt«, entgegnete ich; »Sie brauchen keine Sorge zu haben.«

»Die Sache kenne ich!« antwortete er. »Ich habe einmal einen Kahn ausgeliehen – an drei größere Burschen als ihr seid. Die sind auch nach Schweden gefahren. Dann kam der Nebel, und ein Dampfer hat sie angerannt, daß sie gerade noch das nackte Leben davonbrachten. Von meinem Boot aber habe ich bis heute keine Spur mehr gesehen.«

»Wir werden uns vor den Dampfern schon in acht nehmen, Herr Steuermann«, wandte ich ein.

»Nein, mein Freund, es bleibt dabei! Nach Schweden fahrt ihr auf meinem Boot nicht. Hier an der dänischen Küste, da gebe ich euch jeden Tag einen Kahn.«

Ich sah ein, daß von diesem harten Seebär nichts zu erreichen sei. Wir verabschiedeten uns deshalb und gingen weiter.

Valdemar war jetzt nicht mehr gut aufgelegt. Er hatte geglaubt, wir würden so leicht einen Kahn bekommen, und nun war mit einem Schlag unser ganzer Reiseplan in Frage gestellt. Auch merkte ich, daß Valdemar ein wenig bange geworden war wegen des Unglücks der drei Burschen, wovon der Steuermann uns erzählt hakte. Er sagte zu mir:

»Das ist aber jetzt schlimm, Nonni. Wo werden wir nun einen Kahn finden? – Und ich glaube auch, wenn plötzlich ein Nebel kommt, dann wird es gefährlich auf dem Meere. Man weiß dann nicht mehr, wo man ist, und man sieht die großen Dampfschiffe nicht mehr, da kann man mit ihnen zusammenstoßen.«

»O nein, Valdemar«, beruhigte ich ihn, »gegen diese Gefahren gibt es gute Mittel! Wir nehmen einen kleinen Kompaß mit, damit kann man bei jedem Nebel die Richtung finden, wie man steuern muß. Und gegen die großen Schiffe nehmen wir ein Nebelhorn mit. Da muß man nur fest hineinblasen und viel Lärm machen. Das hören dann die Schiffe und passen auf die kleinen Boote auf, daß sie nicht mit ihnen zusammenstoßen. Und die großen Schiffe selber haben auch Nebelhörner und machen auch Lärm.«

Valdemar erwiderte darauf, er habe aber doch schon in der Zeitung gelesen, daß zuweilen Ruderboote mit Dampfschiffen zusammengestoßen und Knaben dabei umgekommen seien; ob ich denn gar keine Angst hätte?

»Nicht im geringsten!« antwortete ich. »Ich bin in Island schon viel auf dem Meere gewesen und habe schon manche Gefahr überstanden. Du kannst dich ruhig auf mich verlassen. Wenn so ein Unglück geschieht, dann kommt es gewöhnlich nur daher, weil diese Knaben das Rudern oder Segeln nicht verstehen.«

»Gut, Nonni, so werde ich mich ganz auf dich verlassen.«

Zu meiner Freude sah ich, daß Valdemar nun einigermaßen beruhigt war.

Nach einer kleinen Pause kam ich auf das Boot zurück und fragte ihn:

»Aber wie können wir uns jetzt einen Kahn verschaffen? Hast du keinen Freund oder Bekannten, der uns vielleicht einen leihen würde?«

Valdemar dachte einen Augenblick nach. Dann rief er auf einmal begeistert aus:

»Doch, Nonni, jetzt habe ich es! – Ich kenne eine Seemannsfamilie am Neuhafen. Der Mann heißt Petersen. Er ist lang auf dem Meere gewesen. Er hat einen Kahn, und ich glaube, er wird ihn uns leihen.«

»O, das wäre ja herrlich, Valdemar! Komm, wir wollen sofort nach dem Neuhafen gehen!«

Gesagt, getan. In einer Viertelstunde hatten wir den Neuhafen erreicht. Valdemar führte mich zu der Stelle, wo der Kahn des Seemanns am Ufer festgebunden war. Wir sprangen hinein und untersuchten ihn. Er war wie gemacht für unser Vorhaben. Sein Name war »Laura«, ein beliebter dänischer Schiffs- und Bootsname.

Wir gingen nun sogleich zu dem Eigentümer des Bootes, der nicht weit entfernt am Neuhafen wohnte.

Valdemar meinte, wir würden die »Laura« sicher bekommen, wenn nur Herr Petersen selbst zu Hause sei. »Wir werden Glück haben, Nonni«, wiederholte er mehrmals.

Diesen Ausdruck pflegte er zu gebrauchen, wenn er gut aufgelegt war.

Bald standen wir vor dem Zimmer des alten Seemannes. Valdemar klopfte an. Von innen antwortete eine tiefe Baßstimme:

»Herein!«

»Er ist es!« flüsterte Valdemar mir freudig zu.

Wir traten ein und fanden die ganze Familie beisammen. Wir wurden freundlich empfangen und mußten Platz nehmen.

»Da kommst du ja mit einem neuen Freund, Valdemar!« begann der biedere alte Seemann. »Wie heißt der Junge?«

»Er heißt Nonni und ist aus Island. Er wohnt aber hier in Kopenhagen.«

»So, ein Isländer bist du?« sagte der Alte zu mir und reichte mir die Hand. »Island kenne ich gut; bin schon öfters dort gewesen. Wo in Island bist du zu Hause?«

»Ich bin von Akureyri, am Eyjafjörður, in Nord-Island.«

»Von Akureyri? – Da war ich auch ein paarmal. Es ist aber lange her. Damals warst du noch nicht auf der Welt. – Wann bist du hierher nach Kopenhagen gekommen?«

»Im letzten Herbst.«

»So? Mit welchem Schiff?«

»Mit dem ›Valdemar von Rönne‹.«

»Dem Bornholmer? – Ist ein Einmaster. – Und Foß war Kapitän?«

»Ja.«

Ich mußte staunen, wie dieser Mann alles so genau wußte. Aber er war ja viele Jahre überall herum auf dem Meere gewesen.

Endlich fragte er, wozu wir gekommen seien. Ich schwieg still und blickte auf Valdemar. Er antwortete:

»Wir möchten Sie um einen großen Dienst bitten, Herr Petersen.«

»Um einen großen Dienst? – So? – Und was für ein Dienst wäre das?«

»Wir möchten Sie um die ›Laura‹ bitten für ein paar Tage.«

»Um die ›Laura‹? – Und gleich für ein paar Tage? – Wo wollt ihr denn hin?«

»Nach Schweden.«

»Nach Schweden!? – Wohin in Schweden?«

»Nach Malmö.«

»Über den Sund nach Malmö wollt ihr? – Wer geht mit euch?«

»Niemand; wir gehen allein.«

»Allein nach Malmö!? – Das ist ordentlich weit für euch und keine leichte Sache!«

»Nonni kann aber gut segeln und rudern!«

Jetzt kam die Rede wieder an mich.

»Also du bist ein kleiner Seemann und willst es wagen, im offenen Boot von hier nach Schweden zu fahren?«

»Ja, es sind ja nur dreißig Kilometer.«

»So meinst du, dreißig Kilometer im offenen Boot das sei nicht viel? – Dann sag mal, kannst du wirklich mit Segeln umgehen?«

»Ja, ich bin schon sehr viel gesegelt im Eyjafjörður.«

»Gut, so laß dich ein wenig ausfragen. – Was machst du, wenn plötzlich ein starker Wind kommt?«

»Ich ziehe das Toppsegel ein. Und wenn der Wind noch stärker wird, ziehe ich auch andere Segel ein.«

»Und wie fährst du bei Gegenwind?«

»Da kreuze ich.«

»Und bei Seitenwind?«

»Kreuze ich auch.«

»Und was würdest du bei starkem Wellengang tun?«

»Ich würde gegen die Wellen steuern, daß sie nie auf die Seite des Bootes schlagen.«

»Und wenn der Nebel kommt?«

»Dann hisse ich nur ganz wenige Segel auf und fahre langsam und gebe Zeichen mit dem Nebelhorn.«

»Kannst du aber auch tüchtig in das große Nebelhorn blasen?« fragte er scherzhaft.

»Ja, ich habe in Island beim Nebel immer ganz laut in mein Nebelhorn hineingeblasen, daß es alle Schiffe hörten.«

»Gut, du hast deine Probe bestanden«, schloß er. »Ich will euch also die ›Laura‹ geben, vorausgesetzt, daß das Wetter schön ist.«

Valdemar und ich ergriffen jetzt beide die Hände des guten Alten und drückten sie herzlich. Wir konnten ihm gar nicht genug danken.

Zuletzt gab er uns noch einige Lehren, wie wir uns auf der Reise verhalten sollten. – »Euer Plan ist zwar ein wenig kühn«, meinte er, »aber wenn ihr vorsichtig seid, wird es schon gehen. Gefahren gibt es ja überall, auch auf dem trockenen Lande. Solltet ihr von einem Sturm überrascht werden, nun, dann zieht ihr eben die Segel ein und versucht durch Rudern fortzukommen, immer gerade gegen die Wellen. Und wenn es schlimmer wird, dann werdet ihr auch glücklich ein Schiff erreichen, das euch helfen kann. In Malmö müßt ihr aber vorsichtig in den Hafen einlaufen. Dann meldet ihr euch gleich bei einem Hafenaufseher, der wird euch das Weitere sagen. – Und dann noch eins: Gebt mir auf die ›Laura‹ acht!«

Wir versicherten beide, daß wir uns genau nach diesen Ratschlägen richten würden. Zugleich fragte ich Herrn Petersen:

»Wie lange werden wir mit der ›Laura‹ wohl brauchen bis nach Malmö?«

»Das kommt ganz darauf an«, erwiderte er. »Wenn der Wind günstig ist, könnt ihr es in einem halben Tag schaffen. Ihr braucht also nicht zu eilen. Am besten werdet ihr auf der Insel Saltholm landen. Dort könnt ihr auch euer Essen kochen und euch ausruhen.«

»Ja, das haben wir uns schon vorgenommen!« bemerkte Valdemar lebhaft.

Herr Petersen fuhr fort: »So? Das war ein guter Gedanke von euch. Und ich will euch noch etwas dazu sagen: Wenn ihr auf dem Saltholm landet, dann könnt ihr im Notfall, zum Beispiel wenn ihr starken Gegenwind bekommt, auch eher wieder umkehren und nach Kopenhagen zurückfahren. Aber ich wünsche euch, daß ihr ganz bis nach Malmö kommt. – Wann wollt ihr die Reise antreten?«

»Nächste Woche«, sagte ich, »da haben wir schulfrei.«

»Gut; ihr müßt mir aber am Tag vorher Nachricht geben, damit ich die ›Laura‹ instandsetze.« –

Die Unterhaltung war zu Ende. Valdemar und ich fühlten uns glücklich wie zwei siegreiche Eroberer. Und wir hatten noch einen großen Gewinn gemacht obendrein, denn Herr Petersen verlangte für die ›Laura‹ keinen Pfennig Geld!

Jubelnd verließen wir das Haus.

Jetzt war nur noch eine Schwierigkeit zu überwinden: Würde Herr Grüder mir die Erlaubnis zu der Reise geben, und würde auch Valdemar mit mir gehen dürfen?

Herr Grüder war in solchen Dingen etwas ängstlich.

»Ich weiß aber, was ich tue«, sagte ich zu Valdemar. »Ich werde Herrn Grüder bitten, daß ich die Ferien bei Professor Brynjúlfsson zubringen darf.«

»Ja, aber was kann dir das helfen, Nonni?«

»Das hilft mir sehr viel, Valdemar! Denn wenn ich beim Herrn Professor wohne, dann brauche ich nicht mehr die Erlaubnis von Dr. Grüder, sondern nur die Erlaubnis des Herrn Professors.«

»O, jetzt verstehe ich! – Bist du aber sicher, Nonni, daß Herr Brynjúlfsson dir die Reise erlauben wird?«

»Ja, Valdemar, da bin ich ganz sicher. Er ist ja ein Isländer. Bei den Isländern haben die Kinder viel mehr Freiheit als hier.«

»Das hast du aber fein ausgedacht, Nonni! Jetzt kommen wir sicher nach Schweden hinüber! Denn wenn Herr Brynjúlfsson dich gehen läßt, dann läßt meine Mutter mich sicher auch gehen.«

So schieden wir beide glücklich und frohgemut voneinander.

In den folgenden Tagen hütete ich mich wohl, zu Hause mit jemand von meinen Reiseplänen zu sprechen. Statt dessen ging ich bald zu Herrn Dr. Grüder und bat ihn, meine Ferien bei Professor Brynjúlfsson verbringen zu dürfen, was er mir auch gern erlaubte.

Kurz darauf begab ich mich nach der Dossering, um mich für die Ferien beim Herrn Professor anzumelden. Er hieß mich freundlichst willkommen und lud mich sogleich für die ganzen Ferien zu sich ein. Als ich ihm darauf meinen Reiseplan erzählte, fragte er mich zuerst genau über alle meine Vorbereitungen und ganz besonders über meine Erfahrungen und Kenntnisse im Segeln aus.

Dann gab er mir ohne weiteres die Erlaubnis zu der Reise und wünschte mir Glück dazu.

Eine besondere Gefahr, meinte er, sei ja nicht vorhanden, wenn wir nur vorsichtig zu Werke gingen. Wir sollten aber zwei Tage für den Ausflug nehmen. Am ersten Tag sollten wir, ohne uns anzustrengen, in aller Ruhe über den Sund fahren, dann die Nacht in Malmö bleiben und am nächsten Tag nach Kopenhagen zurückkehren.

Freudestrahlend eilte ich noch am selben Tage zu Valdemar. Auf meine Nachricht hin bekam auch er ohne Schwierigkeit von seiner Mutter die Erlaubnis, mitzugehen.

Am Tag vor der Abreise teilten wir Herrn Petersen mit, daß wir am andern Morgen in aller Frühe aufbrechen wollten. Auch hatten wir uns bereits mit allem Notwendigen versehen: Mundvorrat, Kompaß, Revolver, Nebelhorn, eine kleine Kochmaschine mit Spiritus, wasserdichte Überröcke – alles war da.


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