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11. Ein Zweikampf mit unerwartetem Ausgang

In ernster Ruhe und ganz nach den Regeln der Kunst faßten wir einander an, und sofort begann das Ringen. Es wurde bald so hitzig und so heftig, daß man hätte glauben können, es gehe auf Leben und Tod.

Für den großen, starken Karl war es ein leichtes, mich von einer Seite nach der andern zu zerren. Auch versuchte er fortwährend, mich halb im Kreise herumzuschwingen, um mich dann womöglich plötzlich auf den Rücken werfen zu können, geradeso wie er es am vorhergehenden Tag auf den Wällen gemacht hatte.

Ich ließ ihn mit Absicht tummeln und toben und achtete einstweilen nur sorgsam darauf, mich auf den Beinen zu halten und nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Das war eine Kriegslist von mir. Ich wandte sie an, um vor allem meinen viel stärkeren Gegner zu ermüden.

Durch seinen ungestümen Eifer, mich zu Fall zu bringen, half Karl mir selber am besten mein Ziel erreichen. Er strengte sich unaufhörlich an und wurde bald müde.

Ich dagegen schonte meine Kräfte, so gut ich konnte. Je länger unser Ringen dauerte, desto größer wurde meine Zuversicht, den hitzigen Karl, sobald der geeignete Augenblick kam, auf den Rücken zu werfen.

siehe Bildunterschrift

»Dann stellten wir uns auf, jeder an seinen Platz, mitten auf der Walstatt, einander gegenüber.« (S. 173.)

So setzten wir eine gute Weile, jeder auf seine Art, einander zu.

Unsere Kampfrichter erwiesen sich wider Erwarten unparteiisch. Sie schauten uns mit der größten Aufmerksamkeit zu und enthielten sich vorläufig jeden Zwischenrufes.

Ich begnügte mich noch immer damit, meinem kräftigen Gegner mit möglichster Ruhe und Mäßigung Widerstand zu leisten. Ab und zu machte ich einen Scheinangriff, damit seine Kampflust anhalte.

Auf diese Weise strengte Karl sich immer mehr und mehr an, und er wurde immer hitziger und – immer müder.

Als ich an seinem Keuchen und seinem kurzen, schnellen Atmen merkte, daß nun bald meine Zeit gekommen sei, fing ich an, mich allmählich auf einen ernstlichen Angriff vorzubereiten. Ich umschlang Karl mit beiden Armen, so fest ich nur konnte, und griff ihn nun zum ersten Male mit voller Kraft an.

Durch einen Kunstgriff gelang es mir, ihn zu überraschen.

Jetzt riefen die Knaben, die sofort merkten, daß ihrem Freunde Gefahr drohe:

»Paß auf, Karl! Paß auf!«

Allein das half ihm wenig mehr. Er war schon ganz ermüdet. Noch bevor ich selbst es erwartete, kam er zum Straucheln, und im nächsten Augenblick lagen wir beide am Boden.

Wir waren beide zusammen auf die Seite gefallen.

Im Fallen hatte Karl verzweifelte Anstrengungen gemacht, mich unter sich zu bringen. Dabei stieß er aber so unglücklich und so hart mit dem rechten Ellenbogen gegen einen im Sand verborgenen Stein, daß er laut aufschrie. Er ließ mich sofort los und wälzte sich vor Schmerz am Boden.

Die Knaben sprangen alle herbei und drängten sich dicht um uns herum.

Ich selbst suchte meinem Feinde, gegen den ich jetzt nichts anderes mehr als aufrichtige Teilnahme empfand, wieder aufzuhelfen. Doch als ich nur ganz leicht seinen Arm anfassen wollte, stieß er einen solchen Schrei aus, daß ich meine Hand gleich wieder zurückzog.

Er mußte sich sehr ernstlich weh getan haben.

»Was hast du, Karl?« fragten wir ihn alle voll Besorgnis. »Wo tut es dir weh?«

»O mein Arm! mein Arm!« stöhnte er und deutete mit der linken Hand auf seinen rechten Arm.

»Er hat sicher den Arm gebrochen!« rief einer der größeren Jungen.

Wir nahmen nun vorsichtig den Verwundeten beim linken Arm, indem wir es ängstlich vermieden, den rechten zu berühren, griffen unter seinen Rücken und brachten es auf diese Weise fertig, ihn endlich aufzurichten.

Was aber war geschehen?

Ganz schlaff und wie leblos hing sein rechter Arm herunter! – Jetzt, da er aufrecht stand, sahen wir es deutlich.

»Wo tut es dir weh, Karl?« fragte ich noch einmal.

»Am Ellenbogen! Der Ellenbogen schmerzt mich schrecklich!« jammerte er.

»Laß mich den Ellenbogen sehen«, bat ich. »Ich werde dir nicht weh tun.«

Er wehrte nicht ab, sondern stand da und stöhnte und wimmerte, und ließ mich ruhig gewähren.

Mit der größten Vorsicht knöpfte ich ihm nun am rechten Handgelenk seinen Hemdärmel auf und schob ihn sanft und ganz langsam bis über den Ellenbogen hinauf.

Die Knaben entsetzten sich. Einige schrien laut auf, als sie den entblößten Unterarm erblickten. Er hing nämlich, nicht mehr wie die Fortsetzung des Oberarms, sondern neben dem Ellenbogen, wie wenn er dort abgebrochen wäre, in falscher Richtung schief herunter. Es sah aus, als wäre er nur noch durch die Sehnen und Muskeln am Oberarm angehängt.

Das war unheimlich anzusehen.

»Der Arm ist am Ellenbogen verrenkt!« – »Er ist aus dem Gelenk gesprungen!« riefen in ihrem Schrecken die Knaben durcheinander. – »Wie ist denn das gekommen?«

Ich sagte: »Wir sind sehr hart dort auf den flachen Stein gefallen. Da muß Karl den Ellenbogen darauf gestoßen haben.«

»Ja, das habe ich«, jammerte Karl. »O, ich kann es nicht mehr aushalten vor Schmerz!«

Er stöhnte und jammerte zum Erbarmen. Wir konnten es kaum noch anhören.

Von den Kleineren schlug jetzt einer vor, wir sollten einen Arzt holen. Aber gegen ihn fuhr sogleich ein Großer auf; der meinte, dann käme ja alles heraus.

»Nein, nein! keinen Arzt! Da würde es uns schlecht gehen!« riefen nun schnell auch alle die andern. Und wie wenn sie schon fürchteten, es könnte gleich jemand kommen und uns überraschen, liefen zwei nach der Tür, um Ausschau zu halten.

»Aber was sollen wir dann tun?« fing unruhig der Anführer der ganzen Schar wieder an. »Karl muß doch bald nach Hause gebracht werden!«

»Dann kommt es ja erst recht heraus!« erwiderten einige.

Ratlos und äußerst verlegen schauten die Jungen sich an.

»Wir können ihn aber doch so nicht hier lassen!« sagte noch einmal der Große. »Wer will mit ihm gehen zu seiner Mutter?«

Keiner meldete sich. – »Ich nicht!« – »Ich geh' auch nicht!« – »Ich aber auch nicht!« antwortete einer nach dem andern.

Nun wandte der Große sich an Karl selbst, der sich mittlerweile in den Sand gesetzt hatte und wie ein Häufchen Elend zusammengekauert mitten in unserm Kreise auf dem Boden saß, in einemfort jammernd und vor Schmerz am ganzen Leibe zitternd. Der Große sagte zu ihm:

»Karl, jetzt geht es aber doch sicher etwas besser mit deinem Arm? Nicht wahr, Karl?«

»Ach nein, es wird immer schlimmer«, seufzte der Arme, während ihm Tränen von den Augen rollten. »Bringt mich doch zu einem Arzt! Ich kann es ja nicht mehr aushalten!«

Die Burschen standen ratlos da, keiner wußte, was anfangen.

Da bekam ich plötzlich einen glücklichen Gedanken, und ich faßte sofort einen großen Entschluß: Ich weiß, wie da zu helfen ist, dachte ich. Ich habe es ja während meiner Reise auf unserm Schiff, dem »Valdemar von Rönne«, gesehen. Dort war auch dem Kapitän der Arm aus dem Gelenk gesprungen.

Also frisch angepackt!

Das war mein Entschluß. Ohne mich lange zu besinnen, sagte ich zu den Knaben:

»Hört mal! Ich will versuchen, den Arm wieder einzurenken.«

Da gab's ein großes Erstaunen um mich her. Einen Augenblick schaute die ganze kleine Schar verblüfft mich an.

»Weißt du denn, wie man das macht?« sagte einer von den Größeren.

»Ja«, antwortete ich mit Bestimmtheit; »ich weiß es.«

»Wo hast du das gelernt?«

»Von unserm Steuermann, auf meiner Reise von Island hierher. Da wurde dem Kapitän auch der Arm ausgerenkt, oben an der Schulter. Es war bei einem Kampf mit Eisbären. Ich habe genau gesehen, wie der Steuermann den Arm wieder ins Gelenk brachte.«

Die Knaben staunten jetzt noch mehr. Sie wußten nicht recht, was sie sagen sollten.

Karl aber, der noch immer vor Schmerz weinte und ganz hilflos da saß, warf mir einen bittenden Blick zu. Mir schien, er wolle meine Hilfe gern annehmen. Und in der Tat, gleich darauf sagte er wie ein in sein Schicksal Ergebener zu mir:

»Nonni, glaubst du wirklich, daß du mir helfen kannst?«

»Ja, ganz sicher, Karl. Aber es wird dir sehr weh tun.«

»O, es tut mir auch so schon furchtbar weh«, erwiderte er; »schlimmer wird es kaum werden. Ich kann es ja nicht mehr aushalten vor Schmerz. Versuch es nur einmal, Nonni. Aber mach schnell.«

Ich gab sofort meine Weisungen.

»Zuerst brauchen wir einen höheren Sitz für Karl«, sagte ich zu den herumstehenden Jungen.

Einer von ihnen zeigte gleich auf einen größeren Steinblock in der Nähe, der ungefähr so hoch wie ein Stuhl war. Der gab einen ganz geeigneten »Operationstisch«.

Wir halfen also Karl langsam und vorsichtig aufstehen, führten ihn zu dem Steinblock hin und setzten ihn darauf.

Sein Arm hing noch immer wie tot herunter.

Ich bat jetzt die zwei Stärksten, sich hinter Karl zu stellen und ihn fest an den Schultern und am rechten Oberarm zu halten. Andere stellten sich neben sie, um ihnen zu helfen.

Dann ermutigte ich den Patienten, tapfer zu sein und standhaft auszuhalten.

Karl schaute mich mit einem bangen, wehmütigen Blick an und sagte:

»Bist du aber ganz sicher, Nonni, daß du es fertigbringst?«

»Ja, ganz sicher, Karl«, beruhigte ich ihn. »Du wirst sehen, es geht ganz gut, wenn du nur tapfer aushältst!«

»Mach aber etwas schnell, Nonni, daß es nicht so lange dauert!« bat er noch einmal.

Ich versprach ihm, mein Bestes zu tun, und fing dann gleich an.

Genau wie damals der Steuermann es beim Kapitän Foß nach dem Bärenkampf im Polareis gemacht hakte, faßte ich, so sanft und vorsichtig wie nur möglich, mit meiner rechten Hand die rechte Hand Karls und gleichzeitig mit der linken seinen Ellenbogen. Dann drehte ich mit einem festen Ruck den Unterarm, um ihn in die natürliche Lage zu bringen. Er hing nämlich so, daß die Handfläche nach außen zeigte.

Jetzt, nachdem ich den Arm so gedreht hatte, war die Hand wieder nach innen gekehrt.

Karl schrie, obwohl dies nur der Anfang war, schon laut vor Schmerz. Er ergriff mit seiner linken Hand abwehrend meinen Arm und bat mich, aufzuhören.

Ich ließ aber nicht nach, sondern sprach ihm von neuem Mut zu. Einer der Knaben mußte jetzt auch seinen linken Arm festhalten, damit er mich nicht hindere.

Nun kam die Hauptsache. – »Jetzt haltet ihn ganz fest!« rief ich den beiden Großen zu, die hinter Karl standen. Dann zog ich mit aller Kraft den verrenkten Arm nach vorwärts und versuchte gleichzeitig mit meiner linken Hand am Ellenbogen Karls den Knochen des Unterarms in die Höhlung der Gelenkpfanne hineinzuschieben.

Karl stöhnte und schrie wie ein Verzweifelter. Aber ich hörte deswegen nicht auf, sondern zog weiter an seinem Arm aus Leibeskräften.

Doch wie beim Kapitän Foß der Steuermann, so war auch ich leider nicht stark genug, allein den Arm zu strecken. Da ahmte ich wieder den Steuermann nach, der die kräftigsten Matrosen herbeirief und mit ihnen zusammen den Arm des Kapitäns ins Gelenk brachte. Ich nahm mir die zwei großen Jungen, die hinter Karl standen und ihn festhielten, zu Hilfe und schickte zwei andere an ihren Platz.

Diesen beiden starken Jungen übergab ich nun den rechten Oberarm Karls und bat sie, ihn mit vereinten Kräften nach vorn zu ziehen. Gleichzeitig faßte ich, jetzt mit beiden Händen, den kranken Ellenbogen, und während meine zwei Gehilfen kräftig nach vorne zogen, versuchte ich wieder, den Knochen des Unterarms in die Gelenkhöhlung hineinzubringen.

Damit fuhren wir, trotz allem Schreien und Bitten Karls, so lange fort, bis uns die »Operation« wirklich gelang.

Sie war über alle Erwartung gut vonstatten gegangen. Ich hatte deutlich gemerkt, wie der Armknochen ins Gelenk hineinsprang.

Karl hatte schrecklich gelitten. Er war sehr blaß geworden und zitterte am ganzen Leibe. Als er aufstand, konnte er sich zuerst kaum auf den Beinen halten.

Wir halfen ihm vorsichtig seine Jacke wieder anziehen, was aber sehr schwer ging; denn obwohl der Arm jetzt in Ordnung war – wir konnten ihn im Gelenk auf und ab biegen –, so hing er doch immer noch kraftlos herunter und verursachte bei jeder Bewegung große Schmerzen.

Nachdem alles fertig war, beglückwünschten mich die Jungen. »Das hast du ausgezeichnet gemacht!« sagten sie.

Auch bei Karl war jetzt von Zorn und Feindschaft nichts mehr zu merken. Er war ein ganz anderer geworden.

Ich benutzte den günstigen Augenblick, um eine dauernde Versöhnung zwischen uns zustande zu bringen, und sagte zu ihm:

»Nicht wahr, Karl, wir wollen jetzt keine Feinde mehr sein und nie mehr im Zorn gegeneinander kämpfen. Du bist ja doch der Stärkere von uns beiden, das haben alle gesehen.«

Karl willigte in mein Friedensangebot ein, und zu meiner großen Freude versöhnte er sich dann auch mit Valdemar. – Nun mußte er aber nach Hause begleitet werden.

Ich dachte, seine Freunde würden jetzt dazu bereit sein. Indes keiner von ihnen zeigte Lust, mit ihm zu gehen. Es kam mir vor, als ob sie noch immer Angst hätten, ihren Kameraden in diesem Zustande zu seiner Mutter zu bringen.

So bot ich denn mich selbst dem armen Jungen als Begleiter an, und Valdemar erklärte, er wolle auch mitgehen. Die eigenen Freunde ließen ihn im Stich. Sie blieben nur bis zur Breitstraße bei uns; dort verschwanden sie alle.

Valdemar und ich nahmen jetzt den noch immer sehr leidenden Karl in unsere Mitte und gingen langsam mit ihm nach der nahe gelegenen Großen Königstraße, wo er wohnte. Er war sehr niedergeschlagen und sprach nur wenig. Ein paarmal klagte er vor sich hin:

»Was wird meine Mutter sagen!«

Ich tröstete ihn: »Deine Mutter wird sicher nicht böse sein, Karl, wenn sie sieht, wie schlimm du daran bist.«

»Ich weiß nicht, Nonni«, brachte er zögernd darauf hervor. »Sag ihr nur wenigstens nichts von unserm Streit; und du auch nicht, Valdemar; ich bitte euch darum.«

Wir versprachen ihm beide, daß wir nichts von dem Streite verraten wollten.

Nach einer Weile jedoch bemerkte ich: »Wenn aber deine Mutter uns fragt, Karl, dann wird es wohl schwer sein, ihr nichts davon zu sagen.«

Das machte ihn verlegen, und er wußte nicht, was er antworten sollte. Ich gewann den Eindruck, daß er Furcht vor seiner Mutter hatte. Sie war jedenfalls streng mit ihm.

Um ihn ein wenig aufzumuntern, sagte ich:

»Du mußt nun deshalb nicht bange sein, Karl. Wir werden dich bei deiner Mutter entschuldigen, soviel wir können.«

»Ja, das werden wir tun«, fügte Valdemar hinzu.

Karl dankte uns und bereute es, daß er so zornig und böse gegen mich gewesen war, und daß er Valdemar auf den Wällen so geschlagen hatte. In Zukunft werde er es gewiß nicht mehr tun, versprach er uns ganz bestimmt.

Valdemar und ich sahen uns verwundert an wegen dieser merkwürdigen Änderung, die mit dem sonst so stolzen und hitzigen Jungen vor sich gegangen war, und wir suchten ihn sogleich auf jede Weise in seinen guten Vorsätzen zu befestigen.

Mittlerweile waren wir bei der Wohnung Karls angelangt. Er führte uns eine Treppe hinauf und läutete mit seiner linken Hand etwas zögernd an einer Tür im Treppenhaus. Mir schien dabei, daß er wieder Angst hatte.

Eine große, streng aussehende Frau öffnete.

»Meine Mutter!« flüsterte Karl uns zu.

Wir grüßten die Frau höflich. Sie erwiderte freundlich unsern Gruß, warf aber zu gleicher Zeit einen festen Blick auf ihren Sohn. Sie hatte sofort erkannt, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung war.

»Karl, du bist ja ganz blaß!« sagte sie, während sie eilig mit uns in ein Zimmer hineinging. »Was ist denn wieder gewesen?«

»Ich bin nur gefallen, Mutter, und habe mir am Ellenbogen weh getan«, antwortete Karl mit unsicherer Stimme.

»So, wie ist denn das gekommen? – Du wirst wieder Streit gehabt haben!«

Karl wurde rot und besann sich einen Augenblick. Dann sagte er kleinlaut:

»Ich habe gespielt, Mutter.«

Besorgt schaute die Frau auf Valdemar und mich und fragte uns:

»Was ist denn mit Karl geschehen?«

Auch wir wußten nicht recht, was wir antworten sollten. Wir wollten Karl nicht in Verlegenheit bringen, aber auch keine Unwahrheit sagen. Deshalb schwiegen wir und schauten ebenso betroffen wie Karl vor uns hin.

Dadurch wurde die Frau noch besorgter. Sie trat auf Karl zu, sah ihm ins Gesicht und wollte ihn bei der rechten Hand fassen. Kaum aber hatte sie seine Hand berührt, da schrie er wieder laut vor Schmerz auf und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Die Frau geriet jetzt in die größte Bestürzung. »Um Gottes willen, Karl, was ist mit deinem Arm!« rief sie ihrem Sohne zu.

»Er tut mir noch immer schrecklich weh, Mutter. Ich werde dir alles nachher sagen.«

Karl mußte sich jetzt aufs Sofa setzen und seinen Arm der Mutter zeigen. Er stand dabei wieder große Schmerzen aus. Der Arm war am Ellenbogen stark geschwollen.

Die Frau untersuchte ihn sorgfältig. Dann holte sie ein feuchtes linnenes Tuch und wickelte es um die kranke Stelle herum.

Als sie damit fertig war, hieß sie Valdemar und mich auf zwei Stühlen Platz nehmen, setzte sich uns gegenüber und fing in ernstem Tone an:

»Nun will ich aber wissen, was mit Karl vorgefallen ist. Wollt ihr mir das sagen?«

Valdemar schwieg und schaute fragend auf mich.

Ich sah ein, daß ich nun antworten müsse, fühlte mich aber durch mein Versprechen an Karl so gebunden, daß ich zuerst nicht wußte, wie ich mir aus dieser Verlegenheit helfen sollte. Schließlich gelang es mir, folgendes herauszubringen:

»Ich will Ihnen alles erzählen, aber ich bitte, Sie dürfen dann Karl nicht böse sein.«

»Gut, mein kleiner Freund, das verspreche ich dir«, antwortete die Frau; »ich bin ja seine Mutter. Aber dann mußt du mir auch aufrichtig alles sagen, was geschehen ist. Ich hoffe, es wird nichts Schlimmes sein.«

Hierauf bat die Frau mich und Valdemar, ihr in ein anstoßendes Zimmer zu folgen. Karl mußte auf dem Sofa zurückbleiben.

Das »Verhör« sollte also nicht in seiner Gegenwart stattfinden. Er wurde darob, wie mir schien, sehr unruhig. Seine Lippen zuckten, und als wir uns entfernten, sah ich Tränen in seinen Augen. Er fürchtete vielleicht, daß die Sache, wenn er nicht selbst dabei sei, einen übleren Ausgang für ihn nehmen werde.

Das würde ich aber schon verhüten, dachte ich. Ich hatte ihm mein Versprechen gegeben, und demgemäß wollte ich ihm jetzt ein guter Fürsprecher bei seiner Mutier sein.

In dem andern Zimmer ließ die Frau sich auf einen Stuhl nieder und zog uns beide, Valdemar und mich, zu sich hin. Sie war noch sehr ernst.

Zuerst fragte sie uns nach unsern Namen. Dann bat sie uns dringend, ihr doch alles mitzuteilen, was wir über das Vorgefallene wüßten.

Ich fing gleich an und erzählte ihr, was am vorhergehenden Tag auf den Wällen geschehen war, und was sich soeben in der Marmorkirche zwischen Karl und mir zugetragen hatte. Ich verschwieg nichts von Bedeutung, bemühte mich aber, alles so darzustellen, daß es nur günstig für Karl lautete.

Auch Valdemar unterstützte mich dabei, indem er geschickt des öfteren meinen Bericht ergänzte, und das war dann jedesmal noch besser für Karl.

Zuletzt mußte ich der Frau sogar noch die Geschichte von dem Bärenkampf im Polareis erzählen, und wie ich von dem Steuermann gelernt hatte, einen aus dem Gelenk gegangenen Arm wieder einzurichten.

Als ich damit zu Ende war, sagte die Frau freundlich lächelnd zu mir:

»Du bist wahrhaftig ein richtiger kleiner Doktor! – Meinst du aber auch wirklich, daß der Arm aus dem Gelenk war?«

»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte ich: »er ist ja ganz schief heruntergehangen! Jetzt ist er aber wieder im Gelenk drin; denn obwohl er Karl noch immer weh tut, kann man doch den Arm biegen und strecken. Bei unserm Kapitän war es auch so.«

Die Frau fuhr fort:

»Ich danke euch, kleine Freunde. Ihr seid zwei gute Jungen. Es freut mich, daß ihr mir alles so aufrichtig erzählt habt. Doch Karl macht mir viel Kummer. Er hat einen sehr schwierigen Charakter, und wenn er zornig wird, ist er zu allem fähig.«

»Aber jetzt ist er viel besser geworden!« bemerkte ich schnell zu seiner Verteidigung. »Er hat auf dem Wege hierher alles bereut und hat gesagt, er wird es nie mehr tun.«

»Ja, ja, das hat er schon oft gesagt, und dann ist er doch bei der ersten Gelegenheit immer wieder in seinen alten Fehler zurückgefallen. Nun ja, vielleicht wird es jetzt besser mit ihm. – Seid nun so freundlich und geht wieder zu ihm, ich werde gleich auch kommen.« –

Karl saß noch immer auf dem Sofa. Er sah sehr leidend aus und war traurig. Man konnte sehen, daß er geweint hatte.

Wir eilten sofort auf ihn zu und sagten ihm schnell, wie gut alles abgelaufen sei. »Wir haben sehr für dich gesprochen, Karl!« flüsterte ich ihm zu. »Deine Mutter ist dir auch gar nicht böse! Sie ist nur bekümmert, weil du so leicht zornig wirst. Aber ich habe ihr gesagt, daß es dich reut, und du wollest es nicht mehr tun.«

Karl dankte uns herzlich für unsern Freundschaftsdienst und wurde dann allmählich wieder besser aufgelegt. Er hatte jetzt auch keine so großen Schmerzen mehr am Arm, seitdem er verbunden war. –

Nach kurzer Zeit kam seine Mutter wieder herein und brachte Erfrischungen für uns. Wir mußten mit Karl Kaffee trinken und Kuchen essen.

Die Frau zankte nun gar nicht mehr mit ihm, was uns sehr freute. Nur einmal sagte sie, er müsse sich ernstlich bemühen, seine Heftigkeit und seinen Zorn zu beherrschen.

Bei diesen Worten kamen Karl Tränen in die Augen. Er sagte schluchzend:

»Mutter, ich will es nicht mehr tun, ich verspreche es dir.«

»Aber das hast du mir schon so oft versprochen, Karl. Wenn du nur deine guten Vorsätze auch aus führen würdest!«

»Mutter, ich will sie ausführen«, versicherte er. »Ich werde mir alle Mühe geben. Aber es ist so plötzlich wieder über mich gekommen.«

Die Mutter strich ihm liebevoll mit der Hand übers Haar und sagte:

»Nun beruhige dich wieder, mein Junge; mit Gottes Hilfe wird es schon gut werden.«

Valdemar und ich wurden dabei tief bewegt. Karl erschien uns jetzt in einem ganz andern Lichte als zuvor. Er konnte kein so böser Junge sein, wie wir geglaubt hatten. Wir waren, fast ohne es zu merken, Freunde zu ihm geworden und blieben noch längere Zeit bei ihm.

Als wir Abschied nahmen, bat er uns sehr, wir möchten ihn doch bald wieder besuchen, was wir ihm gerne versprachen.

Auch seine Mutter sagte, wir sollten wiederkommen. Dann begleitete sie uns bis zur Treppe hinaus und dankte uns nochmals, daß wir so gut gegen ihren Sohn gewesen seien und ihn in seinem Unglück zu ihr gebracht hätten.

Voll Freude über unser Erlebnis verließen Valdemar und ich das Haus in der Großen Königstraße.

Da es schon Abend wurde, konnten wir nicht mehr lange in der Stadt verweilen. Valdemar begleitete mich auf dem nächsten Weg in die Breitstraße bis vor meine Wohnung. Dort schieden wir voneinander als gute, treue Freunde.

Ich begab mich auf mein Zimmer und versuchte, in einem der französischen Bücher Gunnars zu lesen, bis es Zeit war zum Abendessen.

Bei Tisch mußte ich meine neuen Erlebnisse erzählen. Ich trug damit nicht wenig zur Unterhaltung der kleinen Tafelgesellschaft bei.

Die Herren wünschten mir Glück zu dem guten Abschluß meines Streites mit Karl und gaben mir von neuem Ratschläge für künftige Fälle dieser Art. Dr. Grüder schloß mit den Worten:

»Die Geschichte hätte aber auch leicht ein schlimmeres Ende für dich nehmen können, mein Freund. Ich glaube, du dürftest ein wenig vorsichtiger sein, sonst müßten deine Wanderungen in der Stadt herum bald eingeschränkt werden.«

Als ich kurz nach dem Abendessen zu Bett ging, konnte ich lange nicht einschlafen; es wollte mir gar nicht aus dem Sinn, wie reich an seltsamen Erlebnissen schon mein erster Tag im Grüderschen Hause gewesen war.


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