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9. Ein Spaziergang

Als ich am Morgen erwachte, war es bereits heller Tag geworden. Durch das Fenster schien goldig die Sonne herein. Ich richtete mich in meinem Bett auf und warf einen Blick nach dem Tisch und dem Bette Gunnars. Sein Bett war leer, und der Stuhl an seinem Tisch stand auch leer da.

Gunnar war also schon aufgestanden. Er hatte sein Bett gemacht und das Zimmer verlassen, ohne daß ich etwas davon merkte.

Ich fühlte, daß ich lange genug geschlafen hatte, und sprang deshalb sofort aus meinem Bett heraus.

Der herrliche Sonnenschein draußen lockte mich ans Fenster. Ich ging hin, öffnete es und schaute hinaus in die mir noch unbekannte Nachbarschaft.

Da waren viele schöne Häuser, mächtige Bauten und feine, vornehme Paläste, dazwischen prachtvolle Gärten mit großen und kleinen Bäumen und mit duftenden Blumen. Alles war übergossen von dem hellen, strahlenden Sonnenlicht. Die herbstlichen Blätter der Bäume leuchteten in brennend roten und gelben und goldbraunen Farben.

Es war ein liebliches Stück freier Natur mitten zwischen diesen vielen schönen Häusern.

Ich atmete tief und trank in vollen Zügen die gesunde reine Morgenluft in meine Brust hinein.

Dann kehrte ich an mein Bett zurück. Ich nahm den Wasserkrug, goß seinen Inhalt in die große weiße Schüssel auf dem Waschtisch und tauchte mit Wohlbehagen meinen ganzen Kopf in das frische, klare Wasser hinein.

Nach einer gründlichen Waschung zog ich wieder meine Sonntagskleider an und betete kniend mein Morgengebet.

Als ich mit allem fertig war, ging ich hinunter in den zweiten Stock und meldete mich bei der würdigen Madame Valentin zum Frühstück.

»Es ist gut, daß du endlich da bist, Nonni«, rief sie mir entgegen. »Ich wäre sonst bald hinaufgekommen und hätte dich geweckt. Schläft man denn so lange in Island?«

»Nein, Madame Valentin, ich habe nur diesmal so lange geschlafen, weil ich gestern in der Stadt so müde geworden war.«

»Das glaube ich dir gern, Nonni. – Hast du nun aber auch gut geschlafen bei uns?«

»Ja, Madame Valentin, ich habe sehr gut geschlafen.«

Nach diesem Morgengruß führte sie mich in das kleine Speisezimmer der drei Doktoren und wies mir dort meinen Platz an. Als sie wieder hinausging, sagte sie, ich müsse einen Augenblick warten, das Dienstmädchen werde mir gleich mein Frühstück bringen.

Ich setzte mich und wartete.

Nach kurzer Zeit schon kam das junge deutsche Dienstmädchen mit dem Frühstück herein. Sie war wieder ebenso heiter und lebhaft wie am Abend vorher.

»Guten Morgen, Nonni!« sagte sie und begleitete ihren Gruß mit allerlei freundlichen Worten, die ich aber leider nicht verstehen konnte.

Sie stellte Brot und Butter, Kaffee und Milch auf den Tisch und wünschte mir guten Appetit.

»Danke vielmals, Maria«, antwortete ich und fing an, mir ein Butterbrot zurechtzumachen.

Das Wort »Appetit« hatte ich verstanden.

Maria blieb noch immer stehen und sprach fortwährend. Doch ich mußte mich wieder begnügen, zu allem, was sie sagte, nur munter zu nicken, denn es war mir unmöglich, ein weiteres Wort von ihr zu verstehen.

Sie schien das aber nicht zu merken. Sie fuhr eine ganze Weile fort, zu erzählen, und entfernte sich dann in derselben fröhlichen Art, wie sie gekommen war.

Während ich mit meinem gesunden Knabenappetit mein Frühstück einnahm, überlegte ich, was ich an diesem Vormittag anfangen sollte:

Jetzt bin ich so halb und halb mein eigener Herr, sagte ich mir. Ich bin nur ein zeitweiliger Gast hier im Hause und muß mir, solange ich da bin, meine Freiheit doch nicht ganz nehmen lassen. Der gute Herr Grüder wird sicherlich damit einverstanden sein. Zu den Mahlzeiten werde ich pünktlich erscheinen, wie Madame Valentin es wünscht. Aber sonst werde ich, solange es geht, über meine Zeit frei verfügen. Ich muß die merkwürdige Zauberwelt, in die ich gekommen bin, kennenlernen. Also werde ich in den ersten Tagen mich etwas in der Stadt umsehen.

So ungefähr dachte ich, während ich da ganz allein beim Frühstück saß. Ich nahm mir vor, bis zum Mittag einen Gang durch die große Stadt Kopenhagen zu machen. Das schien mir das einzig Vernünftige zu sein.

Als ich mit dem Frühstück fertig war, stand mein Entschluß fest: Jetzt nur noch auf mein Zimmer, die Mütze holen und dann schnell in die Stadt hinaus!

Draußen auf dem Gang, während ich nach der oberen Treppe zuging, hörte ich leise meinen Namen rufen. Es war das deutsche Dienstmädchen.

»Nonni!« flüsterte sie mir durch die halbgeöffnete Küchentüre zu und gab mir ein Zeichen, daß ich warten solle.

Darauf verschwand sie wieder in die Küche hinein.

Gleich aber kam sie wieder heraus mit einem niedlichen, rot und blau gefärbten Gummiball in der Hand, der ungefähr so groß war wie eine Billardkugel. Sie erklärte mir durch Zeichen, daß sie ihn mir geben wolle, und ich mußte ihn als Geschenk von ihr annehmen.

Ich dankte ihr herzlich und steckte den schönen Ball in die Tasche.

Dann sprang ich flugs die Treppe hinauf, holte meine Mütze und eilte zum Haus hinaus.

In der großen, stattlichen Breitstraße flutete ein ganzer Menschenstrom an den mächtigen Häuserreihen entlang, immer hin und her, und Fuhrwerke aller Art fuhren mit ohrenbetäubendem Lärm Straße auf und Straße ab.

Ich stand zuerst eine Weile still und schaute mir das lebhafte Treiben des Straßenverkehrs an. – Soll ich es wagen, fragte ich mich, ganz allein in diesen Hexenkessel hineinzuspringen? – Ob ich wohl lebendig wieder herauskomme? – Und ob ich dann später auch den Weg zurück finden werde?

Es war verwirrend anzusehen.

Männer und Frauen und Knaben und Mädchen, auch Kinder kamen daher und liefen durcheinander, scheinbar ohne Ziel und Ordnung. Die einen schwiegen und sahen ernst aus, andere sprachen lebhaft miteinander und lachten. Lustige Jungen, so alt wie ich, liefen spielend und mit einer Sicherheit, die mir unbegreiflich war, zwischenhindurch nach links und nach rechts; sie schienen nichts zu fürchten und überhaupt keine Schwierigkeit zu haben.

Ich beobachtete sie genau und fühlte mich durch ihre Kühnheit allmählich selbst ein wenig mutiger werden.

Wenn die es können, dann kann ich es auch, dachte ich. Soll ich mich nicht einfach in den Strudel hineinwerfen und mich von ihm mit forttreiben lassen? Eine Gefahr kann mir nur von den Wagen und Pferden kommen; die Leute werden mir gewiß nichts anhaben, die sehen ja gar nicht gefährlich aus.

Aber wie diesen unheimlich rasselnden, polternden Wagen und den stampfenden und wild daherrennenden Pferden entgehen? Sie können ja jeden Augenblick auf mich losstürzen! Und dann bin ich verloren! Ich werde unter den Rädern und Hufen zermalmt werden!

So stand ich da, vorsichtig mit dem Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt, und überlegte, während der Menschenstrom unaufhaltsam an mir vorbeiflutete, was ich tun sollte.

Da auf einmal bekomme ich von leichter Hand einen Schlag auf die Schulter.

Es war ein Junge in meinem Alter, der ihn mir aus Scherz im Vorbeigehen versetzt hatte. Er nickte mir lachend zu und ging dann rasch wieder weiter.

Eine gute Gelegenheit! denke ich: der kann mich durch das wilde Gewirr des Straßenverkehrs hindurchführen!

Ich sprang schnell hinter dem Knaben her und faßte ihn am Arm. Er wandte sich um und sagte, wieder lachend wie vorher:

»Was willst du?«

»Ich möchte ein wenig mit dir gehen.«

»Das kannst du, komm nur. Wo willst du hin?«

»Ich möchte in die Stadt gehen. Ich bin aber fremd hier.«

»Ach so! Du bist wohl vom Lande?«

»Nein, ich bin viel weiter her.«

Der Knabe schaute mich groß an und schien mit seinen Fragen fortfahren zu wollen. Ich ließ ihn aber nicht zu Wort kommen, sondern fing selber zu fragen an:

»Ist es nicht gefährlich, hier durch die Straßen zu gehen?«

»Wie? – Was hast du gesagt?«

»Ich wollte fragen, ob es nicht gefährlich ist, hier durch die Straßen zu gehen.«

»Gefährlich? – durch die Straßen zu gehen? – Warum sollte das gefährlich sein?«

»Wegen der Wagen und Pferde: die können ja jeden Augenblick auf einen losrennen.«

»Aber doch nicht, solange man auf dem Gehweg bleibt!«

»Auf dem Gehweg? – Wo ist der?«

»Ich meine den Bürgersteig, wo wir eben jetzt gehen.«

»Heißt das Bürgersteig? – Können die Pferde mit den Wagen nicht auf den Bürgersteig kommen?«

Der Knabe lachte: »Aber du siehst doch, daß sie auf dem Fahrweg laufen, da mitten auf der Straße! Hierher auf den Bürgersteig, wo die Leute gehen, da kommen doch die Pferde nicht!«

Erst jetzt wurde ich darauf aufmerksam, daß in dem scheinbaren Durcheinander des Straßenverkehrs eine gewisse Ordnung herrschte, und daß die Gefahr doch nicht so groß war, wie ich mir vorgestellt hatte.

»Dann muß man also immer hier an den Häusern entlang gehen?« fragte ich weiter.

»Ja, gewiß. – Aber wie kommt es, daß du so etwas nicht weißt?«

»Ich bin noch nie in einer großen Stadt gewesen. Bei uns gibt es keine großen Städte, auch keine Wagen, und auch keine so großen Pferde wie hier.«

Der Knabe wurde noch mehr erstaunt.

»Wo bist du denn eigentlich her?« fragte er.

»Ich bin von Island.«

Wie immer riefen diese Worte auch bei diesem Jungen die höchste Verwunderung hervor. Er betrachtete mich jetzt sorgfältig vom Kopf bis zu den Füßen. Dabei fielen ihm besonders meine Schaflederschuhe auf, und ich mußte nun, wie so oft schon, auf eine Menge Fragen antworten.

Zuletzt gab der Knabe mir noch einige Winke für mein Verhalten in dem schwierigen Straßenverkehr, worauf wir wie gute Freunde voneinander gingen.

Nun stand ich wieder allein da, mir selbst überlassen. Doch ich wußte jetzt über allerlei Dinge Bescheid, die mir vorher fremd waren, und ich fühlte mich schon ein wenig sicherer.

Ich ging langsam weiter, dicht an den Häuserreihen hin, und beobachtete und studierte mit der größten Aufmerksamkeit die vielen merkwürdigen Erscheinungen um mich her.

Die Straßen und Plätze der großen Stadt waren für mich zu einer gewaltigen Schaubühne geworden.

Ich war über alles, was ich hier sah, nicht nur erstaunt, sondern auch entzückt. Bild um Bild, jedes verschieden von dem andern, alle voll Leben und Bewegung, traten vor meine Augen und fesselten mich. Und da ich mich nun bereits so sicher fühlte, wurde mein Mut und mein Selbstvertrauen immer größer.

Ich war nahe daran, übermütig zu werden.

Ich ging und ging, immer weiter und weiter. Die Breitstraße hatte ich längst verlassen und war in neue, ebenso belebte Straßen hineingekommen. Da war überall derselbe Lärm und dieselbe Bewegung, überall große und kleine Kaufläden, die einen prachtvoller als die andern – eine Unendlichkeit von immer neuen Eindrücken!

Einmal steckte ich zufällig die Hand in die Tasche und stieß auf den Gummiball, den mir das deutsche Dienstmädchen geschenkt hatte. Ich nahm ihn heraus und schaute ihn wieder an. Er war sehr schön.

Jetzt dachte ich: Ich will doch einmal sehen, wie hoch der springen kann, und warf ihn ein paarmal gegen die harten Steinplatten des Bürgersteigs.

Jedesmal, wenn er den Boden berührte, sprang er hoch empor. Und jedesmal gelang es mir, ihn mit der einen Hand in der Luft wieder aufzufangen.

Das einzige Unangenehme bei meinem Spielen waren die vielen Leute, die da immer auf und ab gingen. Sie hinderten mich in einemfort. Auch geschah es zuweilen, daß ich, ganz gegen meinen Willen, bald mit einem Herrn, bald mit einer Dame ein wenig zusammenstieß. Ich bat aber jedesmal um Entschuldigung.

So fuhr ich unbedenklich eine Weile fort, mit dem schönen Ball zu spielen.

Da auf einmal kommt ein großer, starker Mann mit einem glitzernden Helm auf dem Kopf und einem Säbel an der Seite auf mich zu und stellt sich vor mich hin.

»Was fällt dir ein!« redete er mich in strengem Tone an. »Hier bleibst du stehen, bis ich wiederkomme!«

Höchst erstaunt über ein solches Ansinnen und im Gefühl meiner Unschuld schaute ich den starken Mann mit großen Augen und mit einem festen Blicke an. Ich hatte keine Furcht vor ihm; vielmehr bäumte sich mein Rechtsgefühl gegen dieses eigentümliche Verfahren auf. Ich fand es unerhört, daß ein großer, bewaffneter Mann einen kleinen Jungen, der nichts Böses getan hatte, auf eine solche Weise behandelte.

siehe Bildunterschrift

»So fuhr ich unbedenklich eine Weile fort, mit dem schönen Ball zu spielen.« (S. 134.)

Ich antwortete ihm daher unwillkürlich in meiner Muttersprache:

»Warum sagen Sie mir das, mein Herr?«

Der Mann stutzte. Er neigte sich etwas zu mir herunter und fragte:

»Wie? Was hast du gesagt?«

Wieder antwortete ich auf isländisch:

»Ich habe Sie gefragt, warum ich hier stehen bleiben soll.«

Der Mann, der die isländische Sprache nicht verstand, schüttelte den Kopf und sagte:

»Woher bist du?«

»Ich bin von Island«, erwiderte ich jetzt auf dänisch.

»Von Island!« wiederholte er verwundert und in einem milderen Tone als zuvor. »Ein Isländer bist du? Das ist was anderes!«

Dann fuhr er fort:

»Spiele nicht mit deinem Ball hier auf dem Bürgersteig, du könntest sonst die Leute belästigen.«

Jetzt steckte ich sogleich meinen Ball in die Tasche. Der Mann grüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und verschwand in dem Menschengedränge.

Ich dachte noch eine ganze Weile über das kleine Abenteuer nach und betrachtete es als eine gute Lehre für mich. Den Ball aber behielt ich fortan in der Tasche. Ich nahm mir vor, in Zukunft mehr auf meiner Hut zu sein und mich so untadelhaft wie möglich in dieser mir ungewohnten Umgebung aufzuführen.

Aber warum hatte wohl der Mann zu mir gesagt, ich solle stehen bleiben, bis er wiederkomme? Ich konnte mir das nicht erklären.

Da sah ich einige Schritte vor mir einen Knaben, der etwas größer war als ich, langsam des Weges gehen. Ich holte ihn ein, berührte mit der Hand seine Schulter und grüßte ihn höflich.

Der Junge schaute mich überrascht an.

Ich fragte ihn: »Darf ich einen Augenblick mit dir sprechen?«

Er war, wie mir schien, ein gebildeter Knabe und zeigte sich sofort dazu bereit. Ich erzählte ihm also:

»Ein großer Mann mit einem Helm auf dem Kopf und einem Säbel an der Seite hat soeben zu mir gesagt, ich solle stehen bleiben und warten, bis er wiederkomme. Was sollte das wohl bedeuten?«

»Was hast du getan?«

»Ich habe nur ein wenig mit meinem Gummiball gespielt.«

»Ah so!« sagte der Knabe und fing an, schelmisch zu lachen. »War dort irgendwo in der Nähe ein Hoftor?«

»Ja.«

»Und hast du gewartet, bis der Mann wiederkam?«

»Nein, er ließ mich bald wieder frei.«

»Das war ein Glück für dich. Er hätte dich sonst nachher in den Hof hineingenommen und hätte dich mit seiner Rute geschlagen.«

»Mit einer Rute hätte er mich geschlagen!? Ist das möglich! Dürfen denn diese Menschen das tun?«

»O ja; sie tragen Ruten bei sich und schlagen manchmal Knaben damit, die auf der Straße die Ordnung stören.«

»Ich habe aber die Ordnung nicht gestört!«

»Das will ich dir schon glauben. Aber es gibt unter diesen Männern ganz strenge, die schlagen zuweilen auch Knaben, die es nicht verdient haben.«

»Das ist aber ungerecht.«

»Ja, aber es ist eben so.«

Ich fragte den Jungen weiter: »Kannst du mir vielleicht sagen, wodurch die Ordnung auf der Straße gestört wird, damit ich mich in acht nehmen kann?«

»Sie wird durch alles gestört, was die Fußgänger belästigt«, sagte er. »Man darf zum Beispiel auf dem Bürgersteig nicht spielen und nicht mit andern sich raufen; man darf nicht singen und nicht pfeifen, und auch nicht Körbe und große Pakete tragen. Das ist alles verboten, weil man die Leute damit stört.«

Ich dankte dem Knaben und setzte meinen Weg fort. Seine freundliche Belehrung schien mir sehr geeignet zu sein, mich vor weiteren Unannehmlichkeiten in diesem schwierigen Getriebe der Großstadt zu bewahren. –

Durch das lange Herumgehen in den Straßen wurde ich allmählich auch etwas müde und hungrig.

Wäre ich jetzt zu Hause bei meiner Mutter gewesen, ein kleines Butterbrot hätte mich sofort wieder gestärkt. Das war aber nun für immer vorbei; ich war in dieser großen, fremden Stadt ganz allein auf mich selbst gestellt. Einfach zur Mutter springen wie daheim in Island, das konnte ich hier nicht mehr.

Ich fing beinahe an, traurig zu werden. Da entdeckte ich wie zufällig einen schönen Laden in der Nähe. Und siehe da, drinnen hinter dem Schaufenster lag eine Menge Gebäck, Kuchen und Brotwaren auf einem großen Tisch ausgestellt.

Ich blieb erst ein wenig vor dem Fenster stehen und betrachtete die feinen Sachen. – »Die sind sicher zum Verkaufen da«, sagte ich mir, und herzhaft trat ich in den Laden hinein.

Hinter dem Tisch stand ein Fräulein. Ich sagte zu ihr:

»Ich habe Hunger und möchte etwas kaufen. Können Sie mir sagen, was ich kaufen soll?«

Das Fräulein schaute mich lächelnd an. »Du kannst von allem kaufen, was hier ist«, sagte sie. »Zum Beispiel die Butterbretzeln da, oder dort die Kaffeebrötchen, die werden wohl am besten für dich sein. Wähle nur, was du am liebsten hast. Der Preis ist derselbe.«

»Dann möchte ich zwei Kaffeebrötchen haben.«

Sie wickelte zwei Brötchen in ein Stück Seidenpapier ein und reichte sie mir hin.

»Könnte ich auch etwas Butter bekommen?« fragte ich.

Wieder lächelte das Fräulein: »Nein, Butter habe ich nicht; da mußt du in ein Buttergeschäft gehen.«

Ich bezahlte und ging.

Draußen vor dem Laden stand jetzt ein kleiner Junge, ungefähr von meinem Alter. Er sah etwas blaß aus und war ärmlich gekleidet.

»Hast du was gekauft?« fragte er leise.

»Ja, ich habe ein paar Kaffeebrötchen gekauft.«

»So? – Wieviel hast du dafür bezahlt?«

»Vier Skilling.« Das sind ungefähr 10 Pfennige.

»Das ist viel Geld. – Weißt du, wie man sich Brot und Kuchen verschaffen kann, ohne daß man etwas dafür bezahlt?«

»Nein, das weiß ich nicht. Ich glaube auch nicht, daß man es kann.«

»Doch, das geht ganz leicht. Soll ich es dir einmal zeigen?«

Erstaunt schaute ich den Knaben an. – Ist der am Ende ein kleiner Zauberer? dachte ich.

»Soll ich es dir denn nicht zeigen?« wiederholte er.

»Doch. – Aber kannst du es auch wirklich? Oder willst du nur einen Spaß machen?«

»Nein, nein, es ist kein Spaß! Ich kann es ganz gut!«

Dann fuhr er eifrig fort: »Jetzt tu nur, was ich dir sage: Nimm einen Skilling aus deinem Geldbeutel heraus. Dann gehst du wieder in den Laden hinein. Ich gehe mit. Dann bestellst du einen von den kleinen Kuchen dort. (Er deutete mit der Hand auf ein kleines Backwerk, das drinnen im Laden auf dem Tische lag.) Die kosten nur einen Skilling das Stück. Dann aber mach die Augen auf, da wirst du was erleben!«

Arglos tat ich, was der Knabe mir gesagt hatte. Wir gingen beide in den Laden hinein, und ich bestellte einen kleinen Kuchen für einen Skilling.

Der Junge stand ganz bescheiden neben mir mit der Mütze in der Hand und ein wenig gegen den Tisch gelehnt, auf dem die vielen Kuchen der Reihe nach hingelegt waren.

Jetzt aber wurde ich zu meinem Schrecken Zeuge einer Handlung, die ich am wenigsten von allem erwartet hatte:

Jedesmal, wenn das Ladenfräulein sich umdrehte, machte der Knabe mit der rechten Hand eine blitzschnelle Bewegung, schnappte ein kleines Stück Backwerk vom Tische weg und steckte es hastig in seine Brusttasche hinein. Dabei blieb sein Gesicht unbeweglich und so ruhig, wie wenn nichts geschehen wäre.

Das Fräulein merkte nichts.

Ich fuhr heftig zusammen. Es wurde mir angst und bange. Meine Mutter hatte mir einen solchen Abscheu vor Diebstahl, Betrug und jeder Unehrlichkeit eingeflößt, daß ich die Tat des kleinen Jungen nur mit starrem Schrecken sehen konnte. Vor Scham stieg mir das Blut zum Kopfe. Ich fühlte, daß meine Wangen glühten, und daß ich feuerrot im Gesicht geworden war.

Ich bezahlte rasch und verließ eiligst den Laden. Der kleine Dieb kam nach.

Als wir draußen waren, gingen wir noch einige Schritte vom Laden weg. Dann sagte der Junge:

»Hast du's gesehen? Es geht ganz leicht.«

Ich faßte ihn schweigend am Arm und führte ihn, wegen der vielen vorübergehenden Menschen, in einen nahen Torweg hinein. Dort sagte ich zu ihm:

»Aber wie kannst du etwas so Abscheuliches tun!«

Er antwortete darauf ganz ruhig:

»Was liegt denn daran, so ein paar Kuchen wegzustibitzen? Meinst du, das sei ein so großes Verbrechen?«

»Nein, das nicht«, entgegnete ich. »Aber es ist ein Diebstahl, und wer das tut, ist ein Dieb.«

»O was! – So eine Kleinigkeit! – Das kann doch kein Diebstahl sein!«

»Doch, das ist ein Diebstahl, wenn es auch gar nicht viel ist. Man fängt immer mit wenig an und hört mit viel auf. So hat mir meine Mutter gesagt.«

»Dann hast du aber eine strenge Mutter!«

»Sagt denn deine Mutter das nicht?«

»Ich habe schon lange keine Mutter mehr«, erwiderte er. Dabei sah ich deutlich, daß seine Lippen ein wenig bebten und seine Augen feucht wurden.

Ich empfand Mitleid mit dem armen Knaben und sprach freundlich zu ihm:

»O, das tut mir sehr leid. Ich glaube aber, wenn du deine Mutter noch hättest, so würde sie dasselbe sagen wie meine Mutter.«

Jetzt schaute der Kleine mich mit seinen feuchtglänzenden Augen an und wurde ganz still.

Ich fuhr fort: »Du kannst sicher sein, das Stehlen ist sehr gefährlich. Jeder, der das tut, wird ein unglücklicher Mensch.«

Der Knabe sagte wieder nichts. Er schaute fortwährend betrübt und nachdenklich vor sich hin. Dazwischen warf er ein paarmal rasche, verlegene Blicke auf mich.

Mir schien, er schämte sich nun vor mir. Vielleicht hatte die Erinnerung an seine verstorbene Mutter ihn plötzlich so verändert. Er machte auch gar nicht den Eindruck eines verdorbenen Jungen, sondern sah gutmütig und fast noch unschuldig aus, trotz seines Diebstahls.

Mein Abscheu vor ihm verschwand jetzt vollständig. Ich fühlte mich auf einmal ganz zu ihm hingezogen, und es kam mir der Gedanke, ihn noch mehr zu ermahnen. Ich erinnerte mich an einen Rat, den meine Mutter mir oft gegeben hatte: »Wenn du einen Kameraden etwas Böses tun siehst, dann suche ihn auf bessere Wege zu bringen und hilf ihm, wenn du kannst, das Böse wieder gutmachen.«

Das wollte ich jetzt mit dem armen kleinen Dieb versuchen.

»Wie heißt du?« fragte ich ihn freundlich.

»Ich heiße Emil.«

»Glaubst du nicht, Emil, daß deine Mutter dir das Stehlen verboten hätte?«

»Das kann schon sein. Aber sie ist ja schon lange tot.«

»Aber wenn sie noch lebte, dann würde sie es getan haben, und wenn du doch gestohlen hättest, dann würde sie sagen, du sollst es wieder gutmachen.«

»Ja, das kann auch sein.«

Jetzt sagte ich so eindringlich zu ihm, wie ich nur konnte:

»Dann mußt du aber deinen Diebstahl wieder gutmachen, Emil.«

Der Knabe sah mich mit einem unsichern Blick an. Ich aber fuhr fort:

»Wenn man gestohlen hat, muß man es wieder gutmachen. Tut man das nicht, dann wird man ganz sicher unglücklich.«

Zögernd fragte er endlich: »Aber wie kann ich es denn wieder gutmachen?«

»Das kannst du ganz leicht, Emil. Du kannst ja wieder in den Laden hineingehen und dem Fräulein die Kuchen zurückbringen.«

»Nein, das geht nicht!« sagte er schnell und ganz entschieden.

»Warum nicht?«

»Sie könnte mich anzeigen.«

»Nein, das wird sie nicht tun. Komm, Emil, ich will mit dir gehen, und ich werde dem Fräulein sagen, sie soll dich nicht anzeigen, denn es tue dir leid, daß du die Kuchen weggenommen hast.«

»Nein, ich kann nicht«, sagte er wieder.

»Doch, Emil, komm nur mit. Du wirst sehen, daß es ganz leicht geht. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Und wenn du mir folgst, dann wirst du nicht unglücklich werden, denn dann wird es Gott dir verzeihen.«

Ich faßte ihn nun freundlich bei der Hand und führte ihn, trotzdem er noch immer halb widerstrebte, nach dem Laden zurück.

Kurz bevor wir an die Tür kamen, blieb Emil stehen und sagte:

»Nein, ich glaube, es geht doch nicht gut.«

»Doch, Emil. Gib mir nur die Kuchen her. Ich werde sie dem Fräulein zurückgeben und ihr selbst alles erzählen. Du brauchst dabei gar nichts zu sagen.«

Emil nahm jetzt das gestohlene Gebäck aus seiner Brusttasche und übergab es mir. Dann ging er, am ganzen Leibe zitternd, mit mir in den Laden hinein.

Ich legte die Kuchen auf den Tisch und sagte zum Fräulein:

»Als ich vorhin das kleine Backwerk kaufte, hat der Junge hier diese Kuchen weggenommen. Es hat ihm aber dann leid getan, und er bringt sie wieder zurück und bittet Sie um Verzeihung. Er will es nie mehr tun. – Nicht wahr, Fräulein, Sie werden ihn deshalb nicht anzeigen?«

Das Fräulein schaute höchst erstaunt bald uns beide und dann wieder die zurückgebrachten Kuchen an. Sie war so überrascht, daß sie zuerst, wie mir schien, gar nicht wußte, was sie antworten sollte. Endlich sagte sie:

»Ja, es stimmt, das sind Sachen von hier.«

Dann wandte sie sich zu Emil und fragte ihn:

»Hast du wirklich diese Kuchen von hier weggenommen, ohne zu bezahlen?«

Emil war blutrot geworden. Er antwortete ganz leise:

»Ja, Fräulein. Aber ich werde es gewiß nicht mehr tun.«

»Gut dann«, antwortete das Fräulein. »Aber es muß wahr sein, daß du es nie mehr tust, sonst müßte ich dich anzeigen. Man darf doch nicht stehlen, das ist häßlich.«

Dann schob sie die Kuchen wieder zu Emil hin und sagte:

»Da, weil du sie wiedergebracht hast, so darfst du sie jetzt behalten; ich kann sie doch nicht mehr verkaufen.«

Emil schämte sich, die gestohlenen Kuchen als Geschenk wieder mitzunehmen, und ließ sie auf dem Tische liegen.

»Kannst du sie nicht bezahlen?« flüsterte ich ihm zu.

»Nein, ich habe kein Geld.«

»Dann bezahle ich sie«, sagte ich und legte die paar Shilling, welche die Kuchen kosteten, auf den Tisch.

Dann grüßten wir und gingen hinaus.

Emil schämte sich noch immer. Ich suchte ihn daher zu trösten, indem ich ihm wiederholte:

»Jetzt hast du alles wieder gutgemacht, Emil; du bist jetzt kein Dieb mehr und hast auch kein Unglück mehr zu fürchten.«

Dann steckte ich ihm die bezahlten Kuchen in die Tasche und wünschte ihm Glück, daß er meinen Rat befolgt habe.

Emil dankte mir herzlich und sagte:

»Ich bin auch froh, daß ich dir gefolgt habe. Ich will jetzt nicht mehr stehlen, denn ich glaube jetzt auch, daß es einem Unglück bringt.«

Ich empfand eine große Genugtuung, da es mir gelungen war, diesem armen Knaben zu helfen, und weil er so willig seinen Fehler wieder gutgemacht hatte.

Währenddessen kam uns ein ärmliches kleines Mädchen entgegen. Seine Kleider waren schmutzig und zerrissen, sein Gesicht mager und blaß. Als es an uns vorüberging, griff Emil in seine Tasche, holte die Kuchen heraus und reichte sie dem armen Kinde hin.

»Da, nimm dies und iß es«, sagte er. »Ich schenke es dir.«

Das Mädchen faßte rasch mit beiden Händen nach den kleinen Kuchen, warf Emil einen stillen, dankbaren Blick zu und ging weiter.

»Das war aber schön von dir, Emil«, sagte ich. »Das kleine Mädchen sieht sehr hungrig aus, ihm werden die Kuchen gewiß gut schmecken.«

»Ja, und ich hätte sie doch nicht mehr essen mögen«, sagte er.

Das kam mir sonderbar von ihm vor. Ich fragte ihn:

»Hast du denn keinen Hunger?«

»Doch.«

»Dann habe ich hier etwas anderes für dich. Das wirst du sicher gern essen, Emil.«

Ich nahm meine Kaffeebrötchen aus der Tasche und bot sie ihm an. Er wollte sie aber nicht nehmen. »Die hast du ja für dich gekauft«, wandte er ein.

»Dann wollen wir teilen«, schlug ich vor. »Du nimmst das eine Stück, und ich behalte das andere.«

Doch es war vergebens. Emil ließ sich in keiner Weise dazu bewegen, trotzdem er hungrig war, eines von meinen Kaffeebrötchen anzunehmen.

Da fügte es sich, daß ich gerade ein anderes Mittel entdeckte: Vor uns in kurzer Entfernung sah ich nämlich oben an einem Hause einen eisernen Arm herausragen mit einer großen vergoldeten Bretzel daran, ein Zeichen, daß dort wieder ein Bäckerladen war.

Ich ging mit Emil hinein, kaufte mir ein paar Bretzeln und Brötchen und bat das Fräulein, während ich bezahlte, sie meinem Kameraden einzuhändigen. Emil mußte das Paketchen in die Hand nehmen.

Diesmal, als wir wieder draußen waren, machte er keine Schwierigkeit, meine kleine Gabe zu behalten.

»Ich danke dir vielmals«, sagte er und fing gleich zu essen an.

»Schmecken sie dir, Emil?« fragte ich.

»O ja, sie sind sehr gut.«

Erst jetzt, während er mit bestem Appetit die Brötchen und Bretzeln verspeiste, fragte er mich nach meinem Namen. »Wie heißt du und woher bist du?« sagte er. »Du sprichst das Dänische etwas anders, als man es hier spricht.«

»Ich heiße Nonni, und wenn ich das Dänische anders spreche, so kommt es daher, weil ich kein Däne bin, sondern ein Isländer.«

Das war für Emil eine gewaltige Überraschung. Ich mußte ihm sogleich eine Menge Fragen über meine ferne Heimat und meine lange Reise von Island nach Dänemark beantworten.

Dann erzählte auch er mir einiges von sich:

Er war ein Waisenknabe. Er ging noch in die Schule und lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen bei einem Verwandten, der ihn oft schlimm behandelte.

Dieser Verwandte schien ein roher Mensch zu sein. Emil war nahe daran, zu weinen, als er von ihm sprach.

Dann sagte er auf einmal: »Aber meine Mutter ist immer sehr gut gegen mich gewesen, Nonni. Sie hat mich auch vor dem Stehlen gewarnt und hat gesagt, daß es einem Unglück bringe, und daß man immer mit wenig anfange und mit viel aufhöre.«

»O, dann hat sie dir ja dasselbe gesagt wie mir meine Mutter!« erwiderte ich.

»Ja, Nonni, und drum habe ich dir vorhin auch gefolgt, weil du mir dies von deiner Mutter gesagt hast. Ich habe da gleich an die meine gedacht, und dann bin ich mit dir wieder in den Laden hineingegangen.«

Bei diesen Worten wurde Emil wieder traurig, und ich sah Tränen an seinen blassen Wangen herunterrollen.

Aufs tiefste gerührt, ergriff ich seine Hand und ging mit ihm durch den nächsten Torweg, den wir fanden, in einen kleinen Hof hinein. Dort waren wir ungestört von den vielen Menschen der Straße. Ich holte mein Notizbuch aus der Tasche und sagte:

»Emil, soll ich dir einmal vorlesen, was meine Mutter mir aufgeschrieben hat, als ich von Island fortging?«

»Ja«, antwortete er leise.

Ich nahm nun das Blättchen, worauf die letzten Ratschläge meiner Mutter standen, und las den ganzen Inhalt meinem neuen Freunde vor. Vom Stehlen stand zwar nichts darin, aber vieles andere, was auch für ihn gut paßte.

Als ich fertig war, sagte Emil:

»Das ist aber schön, Nonni. Tust du dies alles?«

»Ja, Emil, ich tue es, so gut ich kann; denn ich liebe meine Mutter sehr.«

Emil lehnte sich jetzt mit dem Arm gegen die Mauer, an der wir standen, und stützte sein Gesicht darauf. Er weinte.

Ich wagte nicht, ihn zu stören, denn es schien mir, daß er seine Tränen vor mir verbergen wolle.

So blieben wir eine Weile nebeneinander stehen, ohne etwas zu sprechen. Schließlich fing ich aber doch wieder an und sagte:

»Sei nicht traurig, Emil, du wirst deine Mutter einmal wiederfinden. Bis dahin wird Gott dir helfen, wie er auch mir immer hilft.«

Damit schien er sich zu trösten. Er trocknete seine Tränen am Ärmel ab und dankte mir.

Ich steckte jetzt meine Brieftasche ein, dann gingen wir wieder auf die Straße hinaus.

Wir waren Freunde geworden.

Ich gab Emil noch ein Stück Geld, damit er sich auch am nächsten Tage einige Brötchen kaufen könne.

Er nahm es dankbar an. Als wir uns zum Abschied die Hand reichten, merkte ich, daß er nun nicht mehr so traurig war. Er sprang eilig davon.

Eine Zeitlang schaute ich ihm nach, dann setzte auch ich meine Wanderung fort, immer noch an den kleinen, elternlosen Knaben denkend, mit dem ich auf so seltsame Weise in Berührung gekommen war. Ich fühlte mich überaus glücklich, weil ich Emil, der trotz seines Fehlers ein guter Knabe war, nach dem Rate meiner Mutter gewarnt und ihm geholfen hakte. –

Auf meinem weiteren Wege bog ich wieder in neue Straßen ein. Ich ging über große und kleine Plätze und gelangte endlich in eine lange, schöne Straße, die mir bekannt vorkam. Als ich genauer zusah, merkte ich, daß ich, ohne es zu wissen, in einem weiten Bogen wieder zurück zur Breitstraße gekommen war.

Ich befand mich gerade bei der »Marmorkirche«, jenem ruinenhaften Riesenbau, der mich am Tage vorher, als ich mit Kapitän Foß durch die Breitstraße ging, in so großes Staunen versetzt hatte.

Diese merkwürdige »Ruine« wollte ich jetzt näher besichtigen. Ich verließ die Straße und ging auf die seltsamen Trümmer zu.

Die unvollendeten, meterdicken Mauern hoben sich turmhoch zum Himmel empor. Um den ganzen Bauplatz herum, auf dem die gewaltige »Ruine« stand, lief ein hoher Bretterzaun, der mir den Zutritt nach dem Innern der Kirche verwehrte.

Ich dachte, irgendwo muß doch eine Tür an der Bretterwand sein. Ich spähte auf und ab, doch nirgends fand ich eine.

Nun wollte ich einen Rundgang um den Platz machen und eine Tür suchen.

Der Ort war still und einsam. Ich sah keinen Menschen, denn die Marmorkirche lag ja, wie gesagt, abseits von der Straße.

Ich ging die Bretterwand entlang, immer weiter von der Breitstraße weg. Da auf einmal hörte ich Schritte hinter mir, und im selben Augenblick wurde ich von einer kräftigen Hand an der Schulter festgehalten. Gleichzeitig vernahm ich die Worte:

»Guten Tag, Nonni! Es freut mich, daß ich dich hier treffe!«

Ich drehte mich schnell um, und vor mir stand – Karl, der gefährliche Bursche, mit dem ich tags zuvor den schweren Kampf auf den Wällen der Stadt gehabt hatte!

Er warf mir einen grimmigen, häßlichen Blick zu und redete mich an:

»Habe ich dir nicht gestern gesagt, wir treffen uns bald wieder! – Ich bin froh, daß es so früh geschieht. Du weißt ja, wir hatten einen kleinen Streit miteinander und sind noch nicht ganz fertig damit. Hier ist jetzt ein passender Ort für uns.«

»Was willst du denn eigentlich?« entgegnete ich unwillig dem frechen Jungen.

»Was ich will? – Nun, den Kampf möchte ich zu Ende führen, den gestern dein großer Begleiter, der Schiffskapitän, verhindert hat.«

Mir stand also ohne Zweifel wieder eine wüste, vielleicht gefährliche Schlägerei mit dem rohen Knaben bevor.

Was sollte ich tun?

Ich überlegte einen Augenblick. Da kamen mir die dringenden Ratschläge des Herrn Foß und der guten alten Frau Brynjúlfsson wieder in den Sinn. »Nur nicht an einsame Orte mit ihm gehen!« hatte der Kapitän gesagt. Und hier waren wir gerade an einem solchen einsamen Ort, ziemlich weit vom Straßenverkehr entfernt.

Das war gefährlich.

Ich warf einen Blick nach der Breitstraße, wo die vielen Menschen auf dem Bürgersteig hin und her gingen. Dann sagte ich:

»Karl, ich muß jetzt bald nach Hause gehen, ich habe nicht mehr viel Zeit übrig. Wenn du willst, so kannst du mit nach der Breitstraße kommen. Wir können dann auf dem Weg weiter über die Sache sprechen.«

Mit diesen Worten wandte ich mich um und suchte die Breitstraße zu erreichen. Sofort aber sprang Karl mir nach, faßte mich am Arm und schrie mich zornig an:

»Du Feigling! Du bist bange vor mir und willst dich nicht mit mir schlagen! Deshalb willst du dich unter die Leute dort auf der Straße davonmachen!«

Nun wurde auch ich heftig. Einen Feigling wollte ich mich nicht schelten lassen, und auch nicht gern vor einem solchen Jungen fliehen. Mir schoß das heiße Blut in den Kopf. In meiner Erregung rief ich Karl ins Gesicht hinein:

»Ich bin kein Feigling! Das kannst du dir merken! Ich bin auch gar nicht bange vor dir! Aber ich habe keine Lust, mich zu schlagen mit so einem, wie du bist!«

»So, so, du hast keine Lust! Schöne Ausrede! – Keinen Mut hast du! Das ist es, was dir fehlt!«

»Nein, Karl, das ist nicht wahr!«

»Warum hast du dann keine Lust, dich mit mir zu schlagen?«

»Weil sich das nicht paßt.«

»Ja, ja, das paßt sich nicht!« spottete er. »Warum paßt es sich denn nicht?«

»Weil nur Betrunkene und Gassenbuben so was tun.«

»Wer sagt das, du dummer Junge?«

»Das sagen alle anständigen Leute. Meine Mutter hat es mir gesagt, und gestern hat es der Kapitän gesagt, und eine vornehme alte Dame hat es mir auch gesagt. – Du solltest nicht so rauflustig sein, Karl.«

»Eine alte Dame! – Ja, das glaube ich! – Warum hast du dann aber selber angefangen gestern auf den Wällen? Du hast mich ja angegriffen!«

»Das habe ich nur getan, um dem kleinen Valdemar zu helfen. Du hast ihn so wüst geschlagen. Das war feige von dir, denn du bist ja viel größer als er. Die andern haben das auch gesagt.«

Karl hielt mich noch immer fest am Arm und schaute mich zornig an. Ich bereute aber nicht, ihm die Wahrheit gesagt zu haben.

So standen wir eine kleine Weile da. Karl schien nicht recht zu wissen, was er antworten sollte. Schließlich sagte er in seinem Zorn:

»Ach was! Alles, was du da sagst, ist nur dummes Geschwätz! Du willst dich bloß aus dem Staube machen! Das soll dir aber nicht gelingen! Du bekommst deine Hiebe jetzt!«

Damit packte er mich noch fester am Arm und wollte mich noch weiter von der Straße wegschleppen.

Ich versuchte, mich von ihm loszureißen. »Laß mich doch!« rief ich, »sonst kommen die Leute dort von der Straße und helfen mir!«

Karl warf scheue Blicke nach der Breitstraße, von wo aus man uns sehen konnte. Das schien ihn zu beunruhigen. Er zog und zerrte mich aus Leibeskräften, um mich etwas weiter von der Straße wegzubringen. Allein ich wehrte mich mit aller Kraft. Immer wieder kamen mir die Worte des Herrn Foß in den Sinn: »An Orten, wo viele Leute sind, wird er dir nichts tun können.«

Es war also von der größten Wichtigkeit für mich, immer in der Nähe der Straße zu bleiben.

Plötzlich schien Karl einen neuen Einfall bekommen zu haben. »Hör mal, Nonni«, sagte er, »du wolltest dir doch die Marmorkirche etwas näher ansehen, nicht wahr?«

»Nein, ich wollte nur eine Tür suchen am Bretterzaun und einen Augenblick in die Kirche hineinschauen. Jetzt habe ich aber keine Zeit mehr, ich muß nach Hause.«

»Hast du das Innere der Marmorkirche noch nie gesehen?« fragte er.

»Nein.«

»Gut«, fuhr er fort und wurde auf einmal ganz freundlich: »dann will ich dir wenigstens die Tür am Bretterzaun zeigen. Sie ist etwas weiter hinten: komm nur einen Augenblick mit, Nonni.«

Ich traute ihm jedoch nicht, denn es war mir klar, daß er mich nur weiter abseits locken wollte. Drum sagte ich:

»Nein, Karl, ich habe jetzt keine Zeit mehr. Heute nachmittag werde ich hingehen.«

»Das ist wieder deine dumme Ausrede!« fuhr er mich nun zornig an. »Du hast nur Angst vor mir, das ist alles!«

Dann versuchte er noch einmal, mich gewaltsam weiterzuschleppen. Als es ihm aber wieder nicht gelang, ließ er mich endlich los, und indem er sich umdrehte, rief er mir zu:

»Also gut, Nonni! Auf Wiedersehen ein anderes Mal! Ich werde dich nicht vergessen! Und wenn ich dich einmal habe, dann – ja, merk dir nur, was ich dir jetzt sage – dann wehe dir!«

Ich gab ihm keine Antwort, sondern lief sogleich nach der Breitstraße.

Erst als ich dort unter den vielen Leuten war, fühlte ich mich in Sicherheit. Ich folgte langsam dem Menschenstrom in der Richtung nach meiner Wohnung und traf dort, froh über den guten Ausgang der schlimmen Begegnung, kurz vor dem Mittagessen ein.


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