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10. In der Marmorkirche – Ein feindlicher Überfall

Im Grüderschen Hause angelangt, stürmte ich die Treppe hinauf, meinen Gummiball ab und zu gegen die Wände werfend.

Im ersten Stock begegnete ich Madame Valentin, die mit einer schneeweißen Schürze angetan war und sehr feierlich aussah. Ich grüßte sie höflich.

»Spiele nicht so mit deinem Ball hier im Hause herum, Nonni«, befahl sie mir.

Sofort steckte ich den Ball in die Tasche und sagte: »Ich will es nicht mehr tun, Madame Valentin.«

»Gut. Nun mach dich aber schnell bereit, es ist gleich Zeit zum Mittagessen.

»Ich werde sofort da sein, Madame Valentin.«

Ich ging eilig auf mein Zimmer, bürstete meine Kleider, kämmte mich und wusch mir die Hände.

Als ich fertig war, kam auch schon Gunnar ins Zimmer herein.

»Das ist schön von dir, Nonni«, begrüßte er mich, »daß du pünktlich zum Essen da bist. So gefällt es der Madame Valentin. – Aber nun sag, was hast du jetzt den ganzen Vormittag gemacht?«

»Ich bin ein wenig in der Stadt herumgegangen.«

»Da hast du recht gehabt«, sagte er. »Die Stadt mußt du kennenlernen, jetzt wo noch alles neu für dich ist. Wo in der Stadt bist du denn gewesen?«

»Ich weiß es selbst nicht, Gunnar. Ich bin in einem großen Bogen durch einen Teil der Stadt gegangen. Die Namen der Straßen habe ich mir nicht so genau gemerkt. Es war so vieles andere zu sehen.«

»Die Straßen mußt du dir aber merken, Nonni, sonst lernst du die Stadt nie kennen.«

»Ja, Gunnar, das werde ich in Zukunft tun. Aber jetzt am Vormittag habe ich verschiedene Abenteuer gehabt.«

»So, wirklich? – Dann kannst du sie ja gleich den Herren bei Tisch erzählen. Es ist nämlich Zeit, wir müssen sofort hinuntergehen.«

Im Speisezimmer war erst Dr. Diessel anwesend. Ich ging zu ihm hin, machte eine Verbeugung und wünschte ihm guten Tag.

»Guten Tag, kleiner Nonni!« sagte er und drückte mir wie am vorhergehenden Abend wieder die Fingerspitzen ein wenig. »Hast du gut geschlafen diese Nacht?«

»Ja, Herr Doktor, ich habe sehr gut geschlafen, und ganz lange, von gestern abend bis heute morgen in einem Zug!«

»Dann hast du aber einen gesunden Schlaf.«

»Ja, Herr Doktor, ich bin immer gesund und munter.«

»Das freut mich. Fahre nur so fort, mein kleiner Freund.«

Jetzt ging die Tür auf, und der würdige Herr Dr. Grüder trat ein, begleitet von dem jungen Dr. Böhmer.

Ich ging sogleich den beiden Herren entgegen und grüßte sie wie vorher den Dr. Diessel mit einer Verbeugung. Sie waren beide sehr liebenswürdig und drückten mir kräftig die Hand.

Dann wurden die Plätze am Speisetisch eingenommen.

Anfangs sprachen die drei Herren eine Zeitlang allein unter sich von ihren Angelegenheiten. Gunnar und ich hielten uns bescheiden zurück.

Auf einmal wandte Herr Grüder sich zu mir und sagte freundlich lächelnd:

»Nun, was macht denn unser neuer Tischgenosse? Man hat ihn ja den ganzen Vormittag nicht gesehen! – Erzähl mal, Nonni, was hast du denn schon alles geleistet heute?«

Ich wollte antworten, aber Herr Grüder ließ mir keine Zeit dazu; er fuhr gleich fort:

»Du hast wohl fleißig in deinen Büchern gelesen? – Vielleicht etwas Französisch studiert, so wie Gunnar? Der macht schon hübsche Fortschritte.«

Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Tischgesellschaft. Aller Augen waren auf mich gerichtet. Die Herren schienen darauf gespannt zu sein, was ich wohl antworten werde. Dabei kam es mir vor, als ob ich auf ihren Gesichtern ein schelmisch-heiteres Lächeln bemerkte.

Ich wurde ein wenig verlegen, faßte mich aber bald und sagte frisch heraus:

»Herr Doktor, ich habe nicht in meinen Büchern studiert. Ich habe geglaubt, nach meiner langen Reise brauche ich nicht gleich mit dem Studium anzufangen.«

Da lachte die ganze kleine Versammlung hellauf, Dr. Böhmer rief mitten in dem Gelächter: »Sehr gut!«

Ich wußte aber nicht recht, wie er das meinte. – Hatte ich vielleicht etwas Unschickliches gesagt? – Ich beeilte mich daher hinzuzufügen:

»Herr Doktor, ich habe aber deshalb meine Zeit nicht verloren.«

»Das glaube ich dir schon, mein Lieber, aber wo bist du denn gewesen, und was hast du eigentlich getan?«

»Ich bin spazieren gegangen und habe die Stadt studiert.«

Die Herren lachten wieder.

»Die Stadt hast du studiert? – Ja, wie hast du denn dieses Studium angestellt?« fragte Herr Grüder.

»Ich bin durch die Straßen gegangen, Herr Doktor, und habe mir vieles von der Stadt angesehen.«

»Und wie lange gedenkst du mit diesem Studium fortzufahren?«

»Ich glaube, noch einige Tage, Herr Doktor. Dann will ich anfangen, zusammen mit Gunnar Französisch zu lernen.«

Herr Grüder und die beiden andern Herren sahen sich lächelnd an. Dr. Böhmer sagte:

»Der Kleine scheint seine eigenen Pläne zu haben. Er weiß, was er will.«

»Ja, ja, die ersten Tage werden wir unsern kleinen Wildfang wohl noch springen lassen müssen«, nahm Herr Grüder wieder das Work. »Er ist eben noch sein freies Leben gewohnt von Island her. – Nun aber erzähl uns, Nonni, wie es dir heute vormittag mit deinem Studium in der Stadt gegangen ist.«

»Es ging sehr schön, Herr Doktor. Ich habe dabei viel Spaß gehabt.«

Hier kam mir Gunnar zu Hilfe. »Nonni hat mir gesagt, er habe verschiedene Abenteuer erlebt«, bemerkte er.

»Abenteuer!« rief Dr. Böhmer lebhaft. »Die mußt du uns aber erzählen, Nonni!«

Ich schaute mit einem fragenden Blick Herrn Grüder an.

»Ja, erzähle nur!« sagte er.

Ich begann jetzt sogleich mit der Geschichte des kleinen Emil, ohne jedoch seinen Namen zu nennen.

Die Herren hörten mir aufmerksam zu. Auch Madame Valentin, welche die Speisen auftrug, blieb mehrere Male stehen und horchte.

Als ich fertig war, beglückwünschte mich Herr Grüder zu meinem Erfolg mit dem armen Knaben, Dr. Diessel sagte: »Das war brav von dir, Nonni.«

Dann erzählte ich die Geschichte von Karl, meine erste Begegnung mit ihm auf den Wällen am Tage vorher, und dann die zweite bei der Marmorkirche, und wie es mir gelang, mich vor ihm zu retten.

Am Ende meiner Erzählung sagten die Herren, ich hätte ganz richtig gehandelt, und ich solle mich nur mit Karl niemals einlassen. Sie gaben mir dieselben Ratschläge in diesem Punkt wie Kapitän Foß und Frau Brynjúlfsson.

»Es tut mir aber leid, daß er mich gehindert hat, die Marmorkirche zu sehen«, antwortete ich darauf.

»Das ist das wenigste«, bemerkte Dr. Böhmer. »Die Kirche liegt ja nicht weit von hier. Du kannst sie dir leicht heute nachmittag noch ansehen.«

Der junge Herr Böhmer schien mir immer die vernünftigsten Ansichten zu haben. Sein Vorschlag gefiel mir auch sofort. Ich sagte:

»O ja, ich werde dann gleich nachher wieder hingehen!«

Als ich mich nach Tisch von den Herren verabschiedete, drückten sie mir alle beim Verlassen des Speisezimmers die Hand und sagten:

»Also, auf Wiedersehen, Nonni, heute abend um 8 Uhr!«

Ich ging mit Gunnar in unser Zimmer hinauf und holte meine Mütze. Während ich sie fest an den Kopf hin zog, rief ich lustig aus:

»So, jetzt geht's in die Marmorkirche, Gunnar!«

Gunnar sagte, er gehe mit mir, wenigstens bis zur Kirche hin, er wolle eben einen Freund in der Stadt besuchen.

So machten wir uns beide zusammen auf den Weg.

Nicht weit vom Grüderschen Hause entfernt begegnete uns ein netter kleiner Junge, den ich sofort erkannte. Es war Valdemar, dem ich auf den Festungswällen gegen Karl geholfen hatte. Er lief gleich auf mich zu und begrüßte mich herzlich:

»Guten Tag, Nonni! Es freut mich, daß ich dich wiedersehe! Ich danke dir auch nochmals für den Napoleonskuchen. Ich habe ihn schon gegessen. Er war sehr gut.«

»Das glaube ich dir, Valdemar! Die Napoleonskuchen sind aber auch wirklich fein! – Ich gehe jetzt zur Marmorkirche. Kommst du mit?«

Valdemar überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Ja, ich gehe mit dir; ich möchte gern einmal etwas länger mit dir zusammen sein.«

Fröhlich plaudernd gingen wir nun alle drei die Breitstraße dahin. Als wir in die Nähe der Marmorkirche kamen, fiel mir plötzlich meine Begegnung mit Karl wieder ein. Ich blieb stehen und sagte:

»Wenn nur der Karl nicht dort ist!«

»Wie,« fragte Valdemar etwas ängstlich, »meinst du wirklich, daß er jetzt dort sein könnte?«

»Ich weiß nicht; aber ich habe ihn gerade vor Mittag hier in der Nähe getroffen.«

Gunnar redete uns zu, wir sollten doch nicht so bange sein. Wenn Karl erst vor so kurzer Zeit da gewesen sei, meinte er, dann komme er sicher jetzt nicht schon wieder. Er wolle aber gern mit uns gehen bis zum Eingang der Kirche und uns beistehen, wenn wir seine Hilfe brauchten.

Er begleitete uns bis zu einer kleinen Tür in der Bretterwand, die den Bauplatz umgab. Wir gingen alle drei hinein und schauten umher. Es war aber niemand dort.

Da sagte Gunnar: »Nun könnt ihr ohne Sorge sein. Karl ist nicht hier. Bleibt also ruhig da, solange ihr wollt, und schaut euch nur alles genau an.«

Ich dankte ihm, und als er fortging, rief ich ihm noch nach: »Auf Wiedersehen, Gunnar, heute abend um 8 Uhr!«

Valdemar und ich waren jetzt allein.

Mein kleiner Freund, der diesen merkwürdigen Ort schon kannte, führte mich zunächst den Bretterzaun entlang rundumher. Wir schritten durch ein förmliches Dickicht von riesengroßen Marmorblöcken. Sie lagen, schon halb verwittert, auf dem Boden überall an den gewaltigen Mauern herum. Unkraut und hohes Gras wucherten dazwischen.

Eine seltsame Trümmerstätte mitten in der glänzenden Großstadt Kopenhagen!

Nachdem wir das Äußere des Baues betrachtet hatten, gingen wir in die mächtige, dachlose Kirche hinein.

Das war ein ganz eigenartiger, weit ausgedehnter Raum: ringsherum hoch aufragende, kahle Mauern mit großen, leeren Fensterlöchern, und über uns der freie blaue Himmel.

Wir unterhielten uns eifrig miteinander und wanderten eine Zeitlang auf dem sandigen Boden auf und ab und schauten uns alles an.

Keiner von uns beiden hatte eine Ahnung, daß in unserer nächsten Nähe gerade jetzt feindliche Pläne gegen uns im Werke waren, und daß wie von giftigen Spinnen schon ein Netz um uns gesponnen wurde, dem nicht mehr zu entrinnen war. Sorglosen Fliegen gleich sollten wir darin gefangen werden.

Horch! – Was war das?

Wir fuhren beide zusammen. – Wir hatten Schritte gehört! – draußen vor der Kirche!

Wir liefen hinaus und schauten und horchten. Doch niemand war zu sehen.

»Was mag dies gewesen sein?« sagte ich zu Valdemar. »Es waren doch deutlich Schritte, die wir hörten!«

Valdemar warf mir ängstliche Blicke zu. »Vielleicht ist jemand nur rasch vorbeigegangen«, meinte er.

»Glaubst du, Valdemar? – Mir kommt es vor, daß es hier nicht mehr ganz geheuer ist. Dieser Ort ist so einsam! Wenn wir hier überfallen werden, dann können wir uns nicht mehr retten. Hilferufe würden da gar nichts helfen, es würde uns niemand hören.«

»Du hast recht, Nonni. Aber ich kann nicht glauben, daß uns jetzt eine Gefahr droht.«

Kaum hatte Valdemar dies gesagt, da erschrak er wiederum heftig. Er faßte mich am Arm, zeigte mit der Hand nach einem großen Marmorblock, der in einiger Entfernung von uns lag, und flüsterte mir ins Ohr:

»Nonni! Hast du's nicht gesehen, dort drüben?«

»Nein, Valdemar, ich habe nichts gesehen. Was soll es denn sein?«

Valdemar hielt mich immer noch fest und starrte nach dem großen Stein hin. Ich fragte ihn:

»Was hast du denn gesehen, Valdemar? Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ich bin ganz sicher, Nonni, dort hinter dem Stein hat sich etwas bewegt!«

»Wie sah es denn aus?«

»Es war wie der Kopf eines größeren Jungen. Ich glaube, er hat schnell über den Rand des Steinblocks zu uns herübergeschaut.«

»Dann wollen wir einmal hingehen, Valdemar, und sehen, ob jemand hinter dem Stein ist.«

»Ja, Nonni, tun wir das. Aber sei vorsichtig, es könnte sein, daß Karl wieder da ist, und vielleicht noch einige seiner Freunde mit ihm.«

»Das wäre aber schlimm, Valdemar, denn er will sich um jeden Preis mit mir schlagen. Das will ich aber nicht. Man hat mir bestimmt davon abgeraten.«

»Er will sich mit dir schlagen, Nonni? – Dann müssen wir augenblicklich von hier fort! Komm, wir laufen schnell nach der Breitstraße, dort sind wir in Sicherheit!«

Wir gingen zuerst vorsichtig auf den großen Stein zu. Er lag gerade am Weg, der zur kleinen Ausgangstür in der Bretterwand führte.

Auf einmal hielt sich Valdemar wieder an mir fest und rief in größter Bestürzung:

»Nonni! Da sind sie!«

Bei den Steinblöcken um uns herum wurden plötzlich vorn und hinten, links und rechts mehrere Jungen sichtbar, die alle größer waren als wir.

»Es sind lauter Freunde von Karl!« bedeutete mir hastig Valdemar. »Ich kenne sie alle!«

Ohne ein Wort zu sagen, faßte ich meinen kleinen Freund bei der Hand, zog ihn und lief mit ihm zusammen gegen die Ausgangstür.

Doch die großen Jungen stellten sich uns mit ausgebreiteten Armen in den Weg, wie wenn sie uns abfangen wollten.

Rasch entschlossen rief ich Valdemar zu, wir müßten jetzt laufen, so schnell wir könnten. Ich riß ihn mit mir fort, und so sprangen wir ausweichend in einem kleinen Bogen an den Jungen vorbei nach der Türe hin.

Als wir aber hinkamen, standen dort zwei kräftige Burschen davor und bewachten den Ausgang.

Wieder rief ich Valdemar zu: »Komm! – schnell! – Wir überrennen sie!«

Mit dem Mute der Verzweiflung stürmten wir auf die zwei Feinde los und stießen sie mit Wucht beiseite. Doch es gelang ihnen, uns gerade noch an den Kleidern zu erwischen.

So entstand ein kurzes Ringen.

Ich riß mich aber mit einer schnellen, kräftigen Wendung wieder los und wollte eben auch Valdemar von seinem Gegner befreien, da kamen zu unserm Verderben im letzten Augenblick noch ein paar andere Knaben aus ihren Verstecken herangelaufen. Wir wurden umringt. Sie fielen alle gleichzeitig mit großem Geschrei über uns her, überwanden uns und hielten uns fest.

»So«, rief ihr Anführer, »jetzt sind sie endlich gefangen! Haltet sie nur fest! Und wenn sie Widerstand leisten, dann packt sie an den Handgelenken und windet und dreht ihnen die Arme so lange, bis sie genug haben!«

Einige der Buben fingen sogleich an, dieses unter Schulknaben so beliebte Verfahren anzuwenden. Sie drehten uns die Arme herum, daß wir glaubten, sie würden aus den Gelenken springen. Wir mußten vor Schmerz laut aufschreien.

»So ist es recht!« rief wieder der Anführer. »Das wird sie zahm machen!«

Und gleich darauf befahl er: »Hier wollen wir aber nicht bleiben, da könnte jemand kommen! Führt sie in die Kirche hinein, dort sind wir sicherer! Drinnen soll auch der Fremde da seine Kraft zeigen! Karl wird es ihm schon beibringen!«

Die Knaben zogen uns jetzt nach der Kirche zu.

Aber widerstandslos ließen wir uns nicht fortschleppen. Wir wehrten und stemmten uns gegen sie, soviel wir nur konnten.

Valdemar freilich war zu klein und zu schwach, um etwas ausrichten zu können. Mir hingegen gelang es endlich, mich loszureißen. Mit wenigen Sätzen sprang ich nach der Tür am Bretterzaun und riß sie auf.

Drei Jungen, die mich festgehalten hatten, und noch ein paar andere waren mir sofort auf den Fersen. Doch ein Sprung – und ich war draußen.

Blitzschnell schlug ich die Tür zu und hielt die Klinke von außen fest.

Im nächsten Augenblick waren auch schon meine Verfolger an der inneren Seite der Tür und versuchten mit aller Kraft, sie aufzumachen. Doch ich hatte die Klinke so in meiner Gewalt, daß sie sich vergeblich abmühten.

Indessen überlegte ich rasch, was ich nun tun sollte.

Wenn nur der arme Valdemar nicht drinnen gewesen wäre! Sein Los machte mir am meisten Sorge.

Sollte ich nach der Breitstraße laufen und Hilfe holen? – Das schien mir zuerst das einzig Richtige zu sein. Gleich aber wurde es mir klar, daß dies gefährlich für uns beide werden könne; denn so etwas verzeihen Knaben nicht leicht.

Nein, wir mußten unsern Streit allein ausfechten.

Während diese Gedanken mir durch den Kopf schossen, hörte ich plötzlich von der Kirche her einen gellenden Schrei:

»Nonni! – Hilf mir! – Hilf!«

Es war mein Freund Valdemar. Die rohen Burschen waren gewiß soeben daran, den armen Jungen auf irgendeine Weise zu mißhandeln und zu quälen.

Ich muß unbedingt wieder hinein! dachte ich, und muß Valdemar helfen!

»Nonni! – Komm! – Hilf!« hörte ich ihn fort und fort in der Kirche drin schreien.

Jetzt rief ich laut zu meinen Verfolgern innerhalb der Bretterwand hinein:

»Ihr könnt drinnen die Tür nicht aufmachen. Ich bin aber bereit, wieder hineinzukommen, wenn ihr mir versprecht, daß ihr mich nicht anrührt, sondern mich frei gehen laßt!«

»Gut, so komm herein!« antworteten sie. »Wir tun dir nichts!«

Ich machte nun die Tür auf und ging wieder hinein.

Es waren fünf Jungen da. Die andern waren drinnen in der Kirche bei Valdemar. Wir gingen sogleich zusammen hinein. Zwei nahmen mich zwischen sich, die übrigen drei folgten hinter mir nach. Keiner aber rührte mich an.

Valdemar schrie noch immer laut vor Schmerzen.

Als wir in die Kirche eintraten, sah ich, wie soeben zwei von den Buben den kleinen Valdemar bei den Handgelenken hielten und ihm seine Arme umdrehten. Dabei riefen sie ihm zu:

»Ruf ihn zurück! Ruf ihn zurück!«

Valdemar konnte nichts gegen seine Peiniger machen, er rief nur immer laut nach mir um Hilfe.

Als sie mich zurückkommen sahen, hörten sie auf, ihn weiter zu quälen. Ich ging sofort zu meinem kleinen Freunde hin und sagte zu ihm:

»Sei jetzt ruhig, Valdemar, ich werde bei dir bleiben.«

Der Kleine schaute mich dankbar an und flüsterte mir zu:

»Es tut mir leid, Nonni, daß ich dich zurückgerufen habe. Aber sie haben mir die Arme so stark verdreht.«

Empört fuhr ich die rohen Burschen an: »Das ist feige von euch, den kleinen Jungen so zu behandeln!«

Statt mir zu antworten, riefen sie meinen Begleitern zu:

»Warum haltet ihr ihn nicht fest? Packt ihn doch, sonst läuft er uns wieder fort!«

»Nein, ich bleibe da!« erwiderte ich. »Ich habe mein Wort gegeben!«

Dann warf ich einen Blick auf all die Jungen, welche da herumstanden. Es waren sieben oder acht im ganzen. Zu meinem Erstaunen aber konnte ich Karl nicht unter ihnen finden. Das war mir ein Rätsel. Ich fragte sie deshalb:

»Warum habt ihr uns denn angefallen? Mit euch haben wir doch nichts zu tun!«

»Mit uns nicht«, antwortete einer von ihnen, »aber mit Karl!«

»Karl ist aber doch gar nicht hier!«

»Das stimmt. Aber wart nur, er wird soeben geholt!«

Jetzt wurde mir die ganze Sache klar: Der Überfall war von Karl angezettelt worden. Ich hatte ihm vor dem Mittagessen gesagt, daß ich am Nachmittag in die Marmorkirche gehen werde. Da hatte er seine Freunde hergeschickt, damit sie mir auflauerten. Sobald sie mich erwischten, sollte er benachrichtigt werden.

Das alles war jetzt glücklich ausgeführt worden, und nun sollte Karl selbst kommen.

Wir standen da und warteten auf seine Ankunft. Zwei Jungen hielten noch immer den kleinen Valdemar fest. Ich bat sie, ob sie ihn nicht loslassen wollten.

»Nein, das tun wir nicht«, sagte einer. »Er könnte uns sonst fortlaufen wie du, oder gar noch Hilfe holen.«

»Das wird er sicher nicht tun«, widersprach ich. »Ihr könnt euch ja sein Ehrenwort geben lassen.«

Die Knaben schauten einander an.

Ich sagte zu Valdemar: »Nicht wahr, du bleibst freiwillig hier, wenn sie dich loslassen?«

»Ja, das tue ich«, antwortete er.

»Gibst du dein Ehrenwort?« fragten die Knaben.

»Ja.«

»Wenn du es aber nicht hältst«, bemerkte der Anführer, halb ernst und halb im Scherz, »dann bist du ein Geächteter und bekommst deine gehörige Strafe. Wir dürfen dich dann verprügeln, soviel wir wollen. Gehst du darauf ein?«

»Ja, aber ihr müßt mich jetzt freilassen!«

»Gut, dann laßt ihn los!« befahl der Anführer.

Über diesen »Ehrenhandel« mußten wir alle, auch Valdemar und ich, trotzdem unsere Lage so ernst war, doch einen Augenblick laut lachen. Das Ganze war, wie es bei Schulknaben zu sein pflegt, bald bitterer Ernst, bald übermütiges, ausgelassenes Spiel.

Zu meiner Freude ließen die Jungen den kleinen Valdemar jetzt wirklich frei. Er stellte sich sogleich an meine Seite.

Nachdem wir dann noch ein wenig gewartet hatten, hörten wir Schritte draußen vor der Kirche, und gleich darauf kam Karl mit noch einem Kameraden herein.

»So, da bist du ja!« rief er mir gleich zu. »Jetzt, Nonni, wirst du mir aber nicht mehr entschlüpfen! Wir können unsern Streit nun richtig hier abmachen!«

»Aber ich will doch gar keinen Streit mit dir!« gab ich zur Antwort. »Was hast du denn eigentlich, daß du dich immer noch mit mir schlagen willst?«

»Ich will bloß vor diesen Zeugen da mit dir kämpfen, damit es sich zeigt, wer von uns beiden der Stärkere ist.«

»Aber ich habe dir doch gesagt, Karl, daß ich gar nicht mit dir kämpfen will, wenigstens nicht im Ernst!«

»Ja, ja, ich weiß schon!« entgegnete er. »Aber hier geschieht nun einmal nicht, was du willst, sondern was ich will. Verstehst du mich!«

»Bravo, Karl!« stimmten die andern ihm laut bei.

Dann fuhr er wieder fort:

»Wir fechten hier einen regelrechten Zweikampf aus, einen richtigen ›Holmgang‹ wie die alten Wikinger. Erst wenn er zu Ende ist, können wir Freunde werden, eher nicht!«

Mit dem will ich nicht Freund werden, dachte ich für mich; ich hütete mich aber, es auszusprechen, denn ich wollte Karl nicht noch mehr reizen. Ich sagte darum:

»Wir können doch auch Kameraden sein, Karl, ohne daß wir uns schlagen.«

»Nein, nein, das geht hier nicht, Junge! Du hast mich gestern ohne Grund angegriffen, und weil ich schon müde war, hast du mich einen Augenblick auf den Rücken gebracht. Das muß jetzt durch einen neuen Kampf gesühnt werden!«

»Das ist nicht wahr, Karl!« rief nun der kleine Valdemar dazwischen. »Nonni hat dich nicht ohne Grund angegriffen. Er wollte mir nur helfen, weil du mich so geschlagen hast!«

»Was ich mit dir gehabt habe, das ging ihn gar nichts an!« erwiderte Karl zornig. »Sei du nur still! Mit dir bin ich auch noch nicht fertig! Wir zwei rechnen nachher miteinander ab!«

»Jawohl!« bekräftigten die andern, »nach dem Nonni kommt der Valdemar an die Reihe!«

Valdemar antwortete nichts darauf, er war jetzt sehr niedergeschlagen.

Ich tröstete ihn daher, indem ich ihm leise ins Ohr flüsterte: »Hab nur keine Angst, Valdemar, ich helfe dir!«

So machte ich ihm und mir zugleich Mut.

Karl war ohne Zweifel fest entschlossen, böse Rache an mir und Valdemar zu nehmen. Ich mußte also auf einen ernsten Kampf mit ihm gefaßt sein.

Was sollte ich da tun? Man hatte mir dringend davon abgeraten, mich mit Karl in eine Schlägerei einzulassen …

Ich machte jetzt noch einen letzten Versuch, ob es mir vielleicht gelinge, den Kampf zu verhindern. Ich sagte:

»Hör mal, Karl: Wenn ich mich aber weigere, den Kampf überhaupt anzunehmen, was dann?«

»Das überleg dir, Nonni!« erwiderte er. »Ich sage dir, dann fallen wir alle über euch zwei her und schlagen euch halb tot!«

»Das wäre aber eine Feigheit! Ihr seid so viele Große, und ich bin mit dem kleinen Valdemar allein! So etwas haben die alten Wikinger nicht getan!«

»Wir tun, was wir wollen!« das war die einzige Antwort Karls.

»Gut«, sagte ich, »dann bin ich durch die Übermacht gezwungen, den Kampf anzunehmen. Ich tue es aber ganz gegen meinen Willen.«

Ich sah ein, daß ich hier nichts ausrichten könne. Und weil ich unschuldig an der Sache war, so schwanden nun alle meine Bedenken, und ich nahm mir fest vor, mich von Karl nicht besiegen zu lassen.

Ich hatte jetzt auch gar keine Furcht mehr vor ihm. Außerdem wußte ich vom Tage vorher, daß ich es mit Karl, trotz seiner größeren Stärke, im Ringkampf sehr wohl aufnehmen könne.

Ja ich bekam nun eine förmliche Lust, diesem stolzen, gewalttätigen Buben vor seinen Freunden wenn möglich eine Niederlage zu bereiten.

Als wir kampffertig waren, sagte Karl zu seinen Kameraden:

»Jetzt fangen wir an. Ihr seid meine Zeugen.«

»Und du, Valdemar, bist mein Zeuge«, fügte ich rasch hinzu. »Paß nur gut auf, wie alles geht, damit du es nachher genau sagen kannst, wenn es darauf ankommt.«

Karl schlug dann vor: »Ich glaube, es wird das beste sein, wir kämpfen mit Steinen, bis Blut fließt.«

»Ja, ja, mit Steinen!« riefen lebhaft einige der Jungen. »Ja, das ist das beste!«

Sofort liefen die Freunde Karls auseinander und sammelten überall herum in dem weiten Raum der verwitterten Kirche Steine auf. Jeder trug eine Handvoll herbei und legte sie vor Karl hin.

Die Steine waren ungefähr so groß wie Taubeneier. Sie hatten scharfe, spitze Kanten. Karl betrachtete sie und sagte:

»Die sind recht. Macht zwei gleich große Haufen, den einen für mich, den andern für Nonni.«

Ich entgegnete darauf: »Diesen Kampf mit Steinen kenne ich aber nicht, Karl. Wie sollen wir denn mit diesen Steinen kämpfen?«

»Das weißt du nicht?« fragte er verwundert und erklärte mir dann: »Wir stellen uns zwanzig Schritte voneinander auf, jeder mit seinem Steinvorrat. Wer zuerst werfen soll, wird durchs Los entschieden. Dann fangen wir an.«

»Und wir sollen diese scharfen Steine uns an den Kopf werfen?« fragte ich.

»Ja.«

»Das scheint mir aber kein vernünftiger Kampf zu sein. Er ist gefährlich und roh.«

»Das ist mir gleich!« brauste Karl wieder auf. »Wir werfen so lange mit den Steinen aufeinander, bis einer von uns am Kopf oder an der Hand so getroffen wird, daß Blut fließt. Vorher sind wir nicht fertig!«

Ich schaute mit einem fragenden Blick meinen Freund Valdemar an, um zu sehen, was er von dieser Kampfesweise halte. Er schüttelte unwillig den Kopf. Daraus schloß ich, daß er auch dagegen sei und daß ein solcher Kampf gefährlich sein müsse.

Ich hatte mich zwar oft zu Hause in Island beim Spielen im Steinwerfen geübt und besaß daher eine genügende Treffsicherheit, um diesen Kampf wagen zu können. Aber es schien mir unvernünftig, uns beide einer gefährlichen Verwundung am Kopfe auszusetzen. Ich sagte deshalb:

»Karl, ich bin vor diesem Kampf gar nicht bange. Ich kann ganz gut mit Steinen werfen. Aber es ist ein roher Kampf, den nehme ich nicht an.«

»Du lehnst also ab?«

»Ja, diesen Kampf lehne ich ab. Ich schlage dir aber einen Ringkampf vor, wie den von gestern. Wir wollen so lange miteinander ringen, bis einer von uns auf dem Rücken liegt.«

Hiergegen riefen sofort mehrere von den Jungen: »Nein, nein! Mit Steinen! Das ist viel schöner!«

»Nein, das ist roh! Das ist unvernünftig!« widersprach ich fest. »Ein Ringkampf ist besser!«

»Ja, Nonni hat recht!« stimmte der kleine Valdemar mir bei. »Ein Ringkampf ist besser!«

Zu meiner Freude redeten jetzt sogar auch einige von den andern Karl zu, er solle nur auf den Ringkampf eingehen. Im Ringen könne er noch leichter siegen als mit den Steinen, denn ich sei ja bei weitem nicht so stark wie er.

Karl überlegte einen Augenblick. Er warf mir einen prüfenden Blick zu, wie wenn er sich überzeugen wollte, daß ich doch kein gefährlicher Gegner für ihn sein könne. Endlich sagte er.

»Gut, ich will den Ringkampf annehmen. Also, wer von uns beiden zuerst auf den Rücken zu liegen kommt, der ist besiegt.«

Ich erklärte mich damit einverstanden und freute mich über diese glückliche Wendung unseres Streites. Daß ich Karl besiegen würde, daran zweifelte ich kaum mehr.

Rasch wurden nun alle Vorbereitungen zum Ringkampf getroffen. Er sollte innerhalb der Kirchenmauern stattfinden. Karl und ich nahmen eine Prüfung des »Geländes« vor. Es war ziemlich viel Sand da, aber auch überall herum harte Stellen, kleine und große Steine, auch spitze darunter, die aus dem Boden herausschauten. Das konnte gefährlich werden, wenn einer hart darauf fiel.

Nach einigem Suchen fanden wir eine Stelle, wo mehr Sand und etwas weniger Steine waren. Die schien uns für unsern Kampf zu passen. Ein paar Knaben sammelten dort die kleinen Steine vom Boden auf und schafften sie fort; die größeren, die fest im Boden saßen, bedeckten sie mit Sand.

Während dieser Arbeit gab Valdemar mir ein Zeichen, aus dem ich entnahm, daß er gerne mit mir allein sprechen wollte. Ich ging deshalb mit ihm ein wenig abseits von den andern.

Da sprangen sofort ein paar von ihnen zum Ausgang und stellten sich dort auf. Sie glaubten nämlich, wir wollten entfliehen.

Ganz leise sagte Valdemar zu mir: »Nonni, ich will dir einen Rat geben: Ich habe gestern gemerkt, daß du sehr gut im Ringen bist; ich glaube, du wirst den Karl besiegen können.«

»Das hoffe ich auch, Valdemar. Ich bin sogar fast sicher, daß ich ihn besiegen werde.«

»Ja, Nonni; ich will dir aber doch etwas anderes sagen: Ich meine, du solltest besser den Karl nicht besiegen, auch wenn du es kannst, sondern laß du dich lieber freiwillig von ihm besiegen!«

»Aber, Valdemar! Warum denn das?«

»Nonni, ich kenne den Karl! Der will sich immer rächen! Wenn er jetzt wieder verliert, dann wird er sicher so aufgebracht, daß er keine Ruhe mehr hat, bis er dir etwas antun kann. Wenn er aber siegt, dann ist er zufrieden und läßt dich gehen.«

Dieser Vorschlag widerstrebte allen meinen Gefühlen und meinen jetzigen Hoffnungen. – Ich sollte mich von diesem Buben besiegen lassen?! – »Nein, Valdemar!« entgegnete ich, »das darf ich nicht! Das wäre feige von mir!«

»Aber dann bist du nie mehr sicher vor ihm, Nonni! Du weißt nicht, was er für einer ist!«

Ich antwortete: »Da hab nur keine Angst, Valdemar! Ich werde mich schon vor ihm in acht nehmen!«

»Gut, Nonni, dann will ich auch das Beste für dich hoffen«, erwiderte der Kleine, durch meine Worte etwas beruhigt. Er drückte mir die Hand und sagte: »Ich wünsche dir Glück zum Kampf.«

So gingen wir wieder zu den andern zurück.

Karl zog nun gleich seine Jacke aus, und ich folgte seinem Beispiel. Dann stellten wir uns auf, jeder an seinen Platz, mitten auf der Walstatt, einander gegenüber.

Die Jungen drängten sich alle heran und bildeten einen Kreis um uns herum. Einer von ihnen rief:

»Bevor ihr aber anfangt, müßt ihr euch noch die Hand reichen und euch beide grüßen, so wie es die alten nordischen Helden taten, wenn sie zu einem Zweikampf gingen! Man muß immer ritterlich sein!«

Über diesen Einfall mußten wir, trotz der großen Spannung, in der wir alle waren, laut lachen.

Karl und ich reichten uns dann wirklich die Hand und verbeugten uns gegeneinander, worauf das Zeichen zum Kampf gegeben wurde.


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