Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Von jenem Tag an zog Eva heimlich manchen Faden aus ihrem Knäuel und wickelte ihn auf eine Spule. Erst waren sie kurz und oft jäh abgerissen, diese Fäden. Eine Strophe nur, ein Gedanke, der wie ein Glühwürmchen aus dem Gras leuchtete. Ein festgehaltenes Wort, das eine unhörbare Stimme zu ihr sprach.

Dann wurden sie länger, zusammenhängender. Jenen magischen, unsichtbaren Kreis, den die Jerusalemshexe auf den Tisch gezeichnet, schien Eva jetzt in sich zu tragen. Bilder stiegen auf und zogen vorüber, ein quellender Reichtum lebte in ihr. Aber es war mehr Qual für sie als Freude; denn sie spürte wohl das mahnende Verlangen all dieser grüßenden Gestalten; aber sie wußte nicht, wie ihm gerecht werden. Da sah sie denn viele dahingleiten und untertauchen mit der Trauer, die die Unerlösten umgibt. 281

Das machte sie auch traurig und unerlöst, und wer um sie war, dachte manchmal, daß die Eva im Fahrstuhl, die hart und streng Gefesselte, froher und heiterer gewesen sei als dieses unruhige, umgetriebene Wesen, das nur noch leichte Bande zu tragen hatte.

Am meisten mußte Hanne darunter leiden, Hanne, die Getreueste. Wie abgesetzt war sie manchmal, wie entbehrlich geworden. Und blieb doch unveränderlich treu und jeden Rufs gewärtig.

Sie mußte selten mehr erzählen. Sie mußte nur noch mitkommen, dorthin, wo »die guten Plätze zum Erzählen« waren. In die feuchte Kühle des verwilderten Gartens, oder zum roten Stein, oder hinaus auf die Heide am Riesenkopf.

Lang sprachen sie dann oft kein Wort. Und wenn sie redeten, war's oft, als wollten sie nur die Stille scheuchen.

Und einmal blieb Hanne draußen auf der Heide vor Eva stehen, die im dürren, sonnenheißen Gras langhingestreckt auf dem Rücken lag. Sie stand und lehnte sich dabei an den Opferstein und wollte sich nicht hinaufschwingen, weil diese in der Kindheit oft geübte Kunst für Eva noch verschlossen war.

Ein Kränzlein aus grünem, blütenlosem Heidekraut trug sie auf dem glatten, dunklen Scheitel. Eva hatte es im Gehen zusammengeflochten und ihr aufgesetzt. Ein wenig unsicher saß es droben, nicht so selbstverständlich, wie die Kränze in den leichteren und loseren Haaren Evas zu sitzen pflegten.

Und Hanne trug das Krönlein ohne viel Anmut, aber mit einer schlichten Ruhe, die der Anmut verwandt ist. 282

Die Liegende dehnte wohlig die Glieder. »Hanne, warum legst du dich nicht?«

»Weil mir mein Kränzlein sonst herunterfällt.«

»O du, was liegt dran – laß dein Kränzlein fallen.«

Es raschelte auf dem Stein, wo sich die Eidechsen sonnten. Hanne drehte den Kopf. Und abgewendet sagte sie: »Daß du es weißt: Der Semme ist mein Schatz.«

Lautlos zog die Sonne über den lautlosen Mädchen. In dem alten Stein war das alte Glitzern.

Dann klang ein heißes, wildes Schluchzen auf. Eva hatte ihr Gesicht ins Gras vergraben. Hanne nahm ihr Kränzlein vom Kopf und kniete neben der Weinenden. Da schaute Eva auf und hatte etwas in den Augen, das wie Haß war. »Warum hast du das getan, du?«

Die Gescholtene neigte sich tiefer. »Warum weinst du?«

»Sag mir's!«

»Sag du mir's.«

Der leise Sommerwind ging über die Heide, und ringsumher war ein Wispern, ein Raunen von heimlichen Stimmen.

Jäh richtete Eva sich empor. Ganz nahe und ganz zornig sah sie in der Gefährtin Gesicht. »Er sieht aus wie ein Vogel. Häßlich ist er.«

»Er ist gut.«

Ein hämischer, ein entstellender Ausdruck glitt über Evas Züge. »Küßt man einen, weil er gut ist?«

Hanne beugte sich zurück. Glut färbte ihr Gesicht. »Warum wirst du einmal den Deinen küssen?« sagte sie leise. 283

Da nahm Eva das Kränzlein aus dem Gras und zerriß es wild in kleine Fetzen. »Ich sag dir's nicht – dir sag' ich's nicht – das ist – du bist –!« Und dann schlug sie die Hände vors Gesicht, und ihr junger Körper bebte.

Mühselig, als seien ihr die Glieder schwer, stand Hanne auf. Das Rot auf ihrem Gesicht war der alten Blässe gewichen. Ein paarmal schluckte sie, als sei ihr die Kehle eng, dann sagte sie seltsam eintönig: »Mein Vater und meine Mutter sind tot. Er ist mir wie Vater und Mutter. Sein Gesicht ist nicht schön, aber er hat noch ein Gesicht, und das ist schön. Meine Augen sehen wohl, daß er aussieht wie ein Vogel, aber meine andern Augen sehen das andere.«

Da lachte Eva hell und bös hinaus. »Und dein anderer Mund, der küßt wohl auch den andern?«

Hanne sah sie an, ruhig und wie verwundert. »Ich habe keinen andern Mund, das weißt du wohl.«

Eva stand auf und ging davon. Ihr Schritt war schleppender, als da sie hergekommen.

Mit dunklem Blick sah Hanne ihr nach und zauderte zu folgen. Und war dann doch plötzlich neben ihr. »Du gehst schlecht, Eva!«

»Ich gehe, wie ich mag.«

»Nein,« klang es ruhig, »du gehst, wie du bist.«

Da blieb Eva stehen. Ein Kampf entbrannte und verging auf ihrem beweglichen Gesicht. Geduckt, wie eine, die bereit ist, einen Schlag hinzunehmen, stand Hanne neben ihr.

Dann brach es aus der bangen Stille heraus: »O du! Ich hab sein anderes Gesicht auch schon gesehen. Wenn er 284 den Stuhl schob und ich nicht umblickte. Weiß es deine Großmutter?«

»Daß er ein anderes Gesicht hat?« klang es befreit, fast schelmisch.

»Daß er dein Schatz ist?«

»Sie weiß es heut, und morgen weiß sie es nicht. Sie kann den Wirrwarr in ihrem Kopf nicht mehr auseinanderwickeln.«

»Weiß es die Fev?«

»Sie weiß es, aber sie glaubt's nicht. Ehe der Knäuel von ihrem Flachsgarn auseinander ist, glaubt sie's nicht, hat sie gesagt. Weil das mit der Christiane passiert ist. Sie meint, es sei wieder so.«

Eva schritt aus. Ihr Fuß schien leichter geworden. »Hast du ihr darum geholfen Fäden aufwickeln?«

»Ja, darum.«

»Deine Finger sind flink gelaufen.«

»Ach, du,« sagte Hanne leise und warm, »deine laufen auch einmal, wenn es um das geht!«

Da schaute Eva über die Heide hin, und die schönen fernen, fremden Geschichten grüßten zu ihr her, als kämen sie näher und näher.

Vor dem Dorf trennten sich die beiden.

»Was tust du jetzt, Hanne?«

Blutrot lief es über der Blassen Stirne. »Bei der Fev guck ich hinein,« und sie machte die Bewegung des Garnwickelns. »Und du?«

Leise färbte sich Evas Gesicht. Ihre Augen glänzten 285 auf. »Weiß ich's? – Ich tu immer, was sie mich heißen.«

»Dann hast du's gut. Dein Vater ist im Wald und Tabea in der Stadt.«

»Vielleicht muß ich auch Fäden wickeln,« sagte wie nachsinnend Eva.

»Und vielleicht tust du's auch, damit etwas wahr wird,« meinte Hanne und schaute weg.

Eva griff leise nach dem Arm der Gefährtin. Dunkle Glut überzog ihr Gesicht. »Siehst du das mit deinen andern Augen?«

»Ja,« klang es zurück, »schon lang hab ich das gesehen.«

Da eilte Eva den Weg der Kirche zu, ohne umzublicken, und ihre Schritte waren fast wie die einer Gesunden.

Die blasse Hanne aber ging gelassen die enge Gasse zur Fev hinunter.

*

Heinz Sommer wollte eine Fabrik bauen am Riesenkopf. –

Das war der Merkwürdigkeit fast mehr, als Meßberg ertragen konnte. Zwar die erste und dringlichste Frage, wo er das Geld dazu hernehme, löste Tante Dine den Leuten mit der ihr eigenen freundlichen Bereitwilligkeit.

Sein ferner älterer Bruder am andern Ende der Welt, so sagte sie, habe Geld in Hülle und Fülle, und es sei ihm eine wahre Gefälligkeit, wenn man es ihm abnehme und im Vaterland in ein sicheres Geschäft stecke. Und für ein sicheres Geschäft hielt Tante Dine – auch das verhehlte sie nicht – alles, was ihr Neffe Heinz in die Hand nahm. 286

Denn, sagte sie, das sei nicht von ungefähr, wenn einer in seiner Jugend einen so zähen »eigenen Sinn« habe. Sie machte jetzt mit gutem Bedacht zwei kleine Wörter aus einem großen, denn die Erfahrung vieler Jahre hatte sie gelehrt, von den großen Wörtern und Worten nicht alles zu erwarten.

Warum aber die Fabrik hinauskommen sollte an den Riesenkopf, an den grünen, stillen Fluß, das wußte Frau Winter nicht recht zu sagen, sooft man es auch von ihr wissen wollte.

Vielleicht wußte es Pfarrers Heinz, der als Bauherr Dr. Sommer hieß, selbst nicht recht.

Hätte er nicht auch näher der Stadt, näher der Eisenbahn, näher dem ganzen regen Leben der Welt bauen können?

Wenn sein eigener praktischer Verstand ihn so fragte – und er tat es oft, öfter, als dem Bauherrn lieb war –, dann gab er ihm heimlich zur Antwort: Du bist nicht alles, und du durchschaust nicht alles! Ich kann nicht mehr, wie früher wohl, nur mit dem Errechenbaren rechnen und das Wägbare erwägen. Ich muß – seit einem Tag, den ich keinem sage – so viel Unwägbares und nicht zu Errechnendes in meine Pläne, in meine Taten einbeziehen. Oder, wenn ich ganz ehrlich sein will: so viel Unnennbares und Unwägbares diktiert mir Plan um Plan und Tat um Tat, daß ich nicht mehr auf jedes Warum das passende Darum habe.

Nur eines weiß ich: daß ich nicht unentschlossener, nicht wegloser bin als früher. Aber meine Entschlüsse und mein Weg erscheinen mir oft nicht mehr als meine Sache. 287

Und wenn sein Verstand ihn darob leise verspottete und flüsterte, das sei nicht wahre Mannesart, dann hielt er ihm entgegen: Ich kenne Männer, die sind erst ganz reif und ganz männlich geworden, als sie wie die Kinder wurden; als sie trauten und vertrauten und nicht mehr rechneten und erwogen. Denn die ganze Welt wird nicht von eisernen Balken getragen und gehalten, sondern allein von einer ewigen Kraft, deren Wesen, Wirken und Umfang keiner mißt und ausdenkt.

Als Pfarrers Heinz den ersten Gang zu Forstmeister Auerstein tat, um mit ihm über den Erwerb des Streifens Land am Fluß zu verhandeln, war Eva in ihres Vaters Zimmer.

Das heimliche Aufstrahlen von innen her, von dem sie selbst nichts wußte, breitete sich über sie aus wie leises Licht.

Sie wollte aufstehen und gehen und ließ sich doch so gern überreden zu bleiben.

Sie saß ganz still und hörte von Flurnamen reden, von Zahlen, von Maßen, von Terminen. Und hatte doch immer einen Ton im Ohr, als werden in der Ferne Geigen gestimmt und Hörner und Flöten. Ein unbeschreiblich schönes Erwarten glomm in ihr auf, ein seliges Träumen in die Tiefe des kommenden Lebens hinein. Sie aber meinte, sie denke an eine Fabrik mit einem Schornstein, daraus der Rauch über die Heide wirbele, und an Fahrstühle, an künstliche Glieder, an ärztliche Instrumente und allerlei Dinge, die in dieser Fabrik gemacht werden sollten aus Pfarrers Heinz's Willen und Weisheit heraus. Und einmal, als die Männer schweigend auf eine Karte sahen, fragte etwas ganz keck, 288 ganz triumphierend aus ihr heraus: »Warum baust du dein Haus jetzt doch nicht nach Ceylon, Heinz?«

Der Gefragte schaute sie an. Auch er wußte nicht, daß seine hellen Augen Verräter waren. »Wäre dir das lieber? Es läßt sich noch machen.«

Sie verzog die Lippen, wie sie es als Kind oft getan. »Was geht's denn mich an!«

Da saß neben den zweien, die wie Geblendete waren und redeten, ein Sehender, dem von den kurzen Reden die Augen wacker geworden waren, wie Simson von jenem verbotenen Honig.

Ein Leid, eine Trauer stieg in ihm auf. Nun war sie dahin, die Zeit des Vergessens. Der See der Vergangenheit fing wieder an, unruhig zu werden und Wellen zu schlagen. Man konnte nicht länger im Nachen liegen und sich treiben lassen.

Noch einmal suchte der Forstmeister dem Unausweichlichen auszuweichen. »Ja, warum bauen Sie hierher in diesen stillen Winkel der Welt? Sie sind doch ein Weitgereister und sollten besser gelegene Plätze kennen.«

Pfarrers Heinz strich über sein kurzes Haar. »Weil ich weit umhergekommen bin, weiß ich, daß überall die Mitte der Welt ist. Wo ich eine Wasserkraft habe, da kann ich bauen. Warum nicht hier?«

»Sie haben weit zur Bahn. Sie finden nicht unbeschränkt Arbeitskräfte.«

»Aber ich werde solche finden, die nicht ihren ganzen Menschen an die Fabrik verkaufen müssen. Männer und Frauen, die den Pflugsterz und die Sense noch kennen, und 289 die darum nicht um dreißig Silberlinge für jeden Verrat zu haben sind. Solche brauche ich für meine Sache, denn wir werden nicht arbeiten, um reich zu werden, sondern um Dienst zu tun auf wichtigem Posten. Und wenn ich weit zur Bahn habe, dann hat man auch von der Bahn weit zu mir. Ich brauche sie nicht, alle die Gaffer und die geriebenen Leute, die um Geld Waren suchen und aus Waren Geld machen. Ich brauche nur die, die Leidenden helfen wollen. Und die finden den Weg zu mir und ich zu ihnen.«

»Sie sind ein sonderbarer Fabrikant. Sie werden kein Großindustrieller werden.«

»Nein,« sagte Heinz, und seine Stirne rötete sich, »das ist mein Ehrgeiz nicht. Ist es nie gewesen. Man denkt da immer an das Ausgedehnte, ich aber muß immer an das Verfeinerte denken, an das Vollendete, an ein inneres Maß – ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich bin da meines Vaters Sohn.«

Der Forstmeister sah ihn an, wie wenn die blauen Augen tief hineingehen wollten in des Jüngeren Seele. »Ja, ich verstehe. Sie denken an Dimensionen, die heute wenig gebräuchlich und wenig beliebt sind. Ich kenne das; ich bin auch eines Vaters Sohn.« Und dann setzte er plötzlich hinzu: »Man glaubt ja gar nicht, was das ist und bedeutet, das Blut, das der Mensch in den Adern hat!«

Heinz Sommer merkte nicht, daß das von dem Forstmeister ein Hürdensprung war. Ein Hinwegsetzen über die Hemmnisse, von denen er spürte, daß sie ihn zurückhalten wollten vom Nötiggewordenen. 290

Und Heinz Sommer wußte damals auch nicht, warum der Forstmeister plötzlich die Uhr zog und zu seiner Tochter sagte: »Eva, möchtest du nicht die Post holen, sonst geht der Botenfritz wieder aufs Feld und bringt sie erst heut abend.«

Eva ging gern zum Botenfritz. Auch heute. Der Männer Augen folgten ihr zur Tür. Der eine sah sie schlank, aufrecht, kaum noch berührt von den einstigen Krankheitsbanden, der andere sah ein Findelkind im ersten Schnee.

*

Mit einem Stoß Pläne war Heinz Sommer ins Forsthaus gekommen.

Mit einer einzigen, schweren, dunklen Frage belastet schritt er hinaus. Daß eine halbe Stunde das alles bergen kann! Erst eine Helle und Weite ohnegleichen und dann dieses qualvolle Sich-im-Kreis-drehen und kein Licht durch die enge Mauer schimmern sehen!

Ein grimmiger Schmerz, ein schmerzvoller Grimm! Warum hatte der Forstmeister den schönen, blühenden, lachenden Garten so brutal verwüsten müssen! Den Garten, an dem die Tür noch zu war!

Ach Heinz, der Hagel am Vorabend der Pfingsten! Weißt du noch, wie da rings um dich her in wenigen Minuten die Fluren unterm Eis lagen! Das war ein Symbol, das dir galt, dem Heimkehrenden.

Stöhnend brach etwas nieder in dem Mann, der ohne Weg in den Wald hinter dem Forsthaus hineinlief.

Er hatte eine Liebe gehabt, eine köstliche, taufrische Liebe, von der heimlich sein Herz nur so wußte, wie man im Traum 291 von etwas weiß. Wie ein großer Glanz, dessen Quelle man nicht kennt, war diese Liebe nun jahrelang über allem gelegen. Über der Arbeit und dem Feierabend, über dem Plänemachen und Luftschlösserbauen, über dem Streben und Träumen. Und nun kam da einer und durchschaute, wo des Glanzes Quelle und Grund war, und warf eine schwarze Hülle darüber, daß plötzlich überall Dunkel lag.

Ach Heinz, du hattest zu viel auf das hölzerne Schifflein verfrachtet, nun ist es gekentert und schwimmt kieloben und du bist bettelarm!

Er spürte das salzige Wasser in den Augen und schämte sich nicht. Und hatte sich doch als kleiner Junge geschämt zu weinen.

Ja, als kleiner Junge, und dann viele Jahre lang hatte er nie geweint und immer einen eigenen Willen gehabt. Nun weinte er und wußte nicht mehr, was er wollte, was er wollen könnte! –

Plötzlich stand er unter den herrlichen Tannen am Maienbuckel und sah unten den grünen Fluß und den Steg.

Hier hatte er die Rinde geholt zu dem unseligen Schifflein. Hierher jenen Lauf gemacht durch den Schnee, der keine Spur verlorengab und der dann auch die Kleine ans Wasser führte auf seiner Fährte. Eine Zärtlichkeit stieg in ihm auf, wie er, der Mutterlose, sie nie gekannt. »Mir nach bist du gezogen, Eva, mein Kind, mein Mädchen, mein Lieb! Du hast dich nicht gefürchtet, du Kleine, vor der totenstillen, weißen Einsamkeit, weil du in meinen Fußstapfen gingst. Du wirst dich auch nicht fürchten, wenn ich dir sage: Geh 292 mit mir in die weite Welt, wo man nicht nach uns fragt, wo wir nach niemand fragen. Ja – nun will ich doch mein Haus auf Ceylon bauen, nun, nachdem ich das weiß –«

Wie ein Wipfel, den der jähe Sturmstoß zur Erde beugte, richtete sich sein Glückshunger wieder auf Eva! Du bist ja noch da! Du lebst, du blühst auf für mich! Was kümmert's mich, wo deine Wurzeln liegen! Ich will dich, die Blume aus der Wurzel, das junge, das starke, das heiße Leben, das in dir pulst und das mir entgegenlodert! Ach du, ich weiß es ja jetzt, daß du mich liebst und lieben mußt. Ich weiß es und habe es wohl schon lange gewußt, aber nie verstanden. Dieser Mann, der dich von mir reißen wollte und mich von dir, der hat uns zusammengegeben. Der hat mir die Augen aufgetan, daß ich deine und meine Liebe sehe, wie sie selig ineinanderfließen.

Mit brennender Stirne blickte Pfarrers Heinz in die Ferne. Alle Leidenschaft seiner starken Seele loderte auf, wie ein Feuer, dem endlich Luft wird. Eva, gehst du mit?

Es rauschte ein Schritt im Wald, ein ferner Schritt, den man in der stillen Luft weithin hörte.

»Sie wird kommen,« dachte der erregte Mann, »sie wird kommen und wird mir Antwort geben.«

Schwer klopfte sein Herz. Ein Windstoß trug das Rauschen des Wassers herauf.

»Sie wird mir wenigstens einen Boten schicken, daß mir Antwort werde« – so stimmte er sein heißes Erwarten herab. 293

Der Schritt verhallte irgendwo. Langsam stieg Heinz Sommer den Hang hinab, an den jungen Tannen hin, die unterm Schnee ausgesehen hatten wie ein Häuflein zugedeckter hockender Kinder, und die nun schon über seine eigene Höhe hinausgewachsen waren.

Hatte ihn nicht eben etwas gequält? Ganz leise nur? So, wie wenn man eine wunde Stelle unachtsam berührt? Ein Häuflein Kinder – das dann heranwächst! –

Ein Hund kläffte in der Schonung zur Linken. Er sah hinüber und folgte mit den Augen dem schwarzen, kleinen Köter, der da herrenlos und auf eigene Faust jagte. Keine Rasse, kein Blut! – – Schon wieder der Schmerz an der verborgenen Stelle.

Durch Brombeergeranke und blühendes Johanniskraut schaffte er sich durch auf den Weg, der gegen Fluß und Steg führte. Plötzlich stand Semme vor ihm, der Knecht. Er trug eine Axt, und seine Schritte waren fast lautlos auf dem moosigen Pfad. Sah er nicht aus wie ein Vogel, wie ein Vogel im Bilderbuch? Eine Kinderstimme sagte das, und die Kinderstimme sprach weiter, leise Worte, die alle schmerzhaft über die verborgene wunde Stelle streiften. »Weißt du, warum er so aussieht? Mir hat es die Fev gesagt. Weil sein Vater den Jammervogel hat mit einem Stein totwerfen wollen.«

Eva, Eva! Ist das deine Antwort auf meine heiße Frage von vorhin? Ist der Semme der Bote von dir, den ich mir erflehte? Soll er mir sagen, daß wir nicht miteinander in die Welt hinausziehen können, weil das immer mitgeht, das 294 Unerbittliche: daß im Blut Schicksale liegen, dunkle, nicht zu berechnende Gewalten, Sünden und Segen der Väter. –

»Semme,« sagte der Mann mit seltsam rauher Stimme, »denkst du noch dran, wie der Blitz neben uns herunterging?«

Der Knecht grinste. Sein großer, glattrasierter Mund verzog sich, die dunklen Augen, die so seltsam dicht neben der schmalen Nase lagen, leuchteten auf. »Ich denk schon dran. Weil es an dem Abend angefangen hat.«

»Was hat angefangen?«

Semme nahm die Axt auf die andere Schulter. Eine Helle lief über sein Gesicht, ein Stolz, eine Verschämtheit, ein Aufblühen, das ihm etwas ganz Fremdes gab. »Die Hanne geht mit mir.«

Die zwei sahen sich in die Augen und dann seitwärts, und dann war die große Stille um sie her. – – –

Heinz Sommer, warum fängst du denn jetzt nicht zu lachen an! Es ist doch ein merkwürdiges Paar, Semme, der Sohn der Jerusalemshexe und des leichtsinnigen Bauernknechts, und Hanne, die Tochter zweier Schwindsüchtigen. Er mehr als vierzig, sie keine zwanzig! Er lang und häßlich, sie kurz und nicht schön! Sie haben Mut, die beiden, den Mut, den du nicht hast!

Ganz bleich war Heinz Sommer. So bleich war er damals nicht gewesen, als der Blitz neben den Gäulen herabfuhr.

»Semme,« sagte er, wie an den Worten würgend, »so sollst du's auch wissen: die Eva geht mit mir.« 295

Aber als er es gesagt, hätte er das Wort zurückholen mögen. Der Neid hatte es ihm erpreßt. Der heiße Neid auf diesen Sicheren, der da nahm, ohne zu fragen, ohne zu beben.

»Semme,« bat er, »sagst es nicht weiter. Wir wollen nicht in der Leute Mäuler sein, die Eva und ich. Du bist kein Schwätzer, ich weiß.« –

»Nein,« sagte der Knecht, und es erlosch etwas in seinem Blick, »ein Schwätzer bin ich nicht, sonst hätt' mich keiner dürfen ansehen um das mit der Christiane!«

Pfarrers Heinz sagte nichts. Es war ihm, als stehe eine Stunde gegen ihn auf, in der er sich zum Richter gemacht hatte, ohne etwas von der Menschen Seelen zu wissen. Er spürte ein Gedemütigtsein vor diesem Knecht, das ihn beklemmte und ihm jede Frage verbot.

Aber Semme sprach weiter auch ohne Frage.

»Sie ist zwei Jahre mit mir gegangen, und ich bin gewesen zu ihr, wie es recht ist. Dann hat einer den Lumpen an ihr gemacht. Ich hab ihn wohl gekannt. Aber ich hab nicht gewußt, daß er ein Lump ist. In Schande wäre sie gekommen. Mir hat sie's gesagt. Ich drauf: Christiane, wenn du ihn läßt – ich laß dich nicht. Sie sagt: er nimmt mich nicht. Eine andere hat er. Dann ist sie ins Wasser.«» –

Leis, fast eintönig hatte der Knecht gesprochen, aber seine große, grobe Hand am Axtstiel zitterte.

Heinz Sommer konnte nicht wegblicken von dieser ungeschlachten Hand. Er hatte eine Scheu, die Augen bis zu des Mannes Gesicht zu heben. 296

Wo lag das Blut- und Rassezeichen an diesem Häßlichen? Wo trug er das Mal, an dem man erkennen konnte, daß er hohen und edlen Geschlechtes war? Oder sind nicht die hohen und edlen Geschlechts, die Lasten schleppen für sich und andere in stiller Selbstverständlichkeit?

»Semme,« sagte er, und es fiel ihm nichts Besseres ein, »die Hanne wird nie mit einem Lumpen laufen. Die hat Augen im Kopf.«

Leis lachte der Knecht. Wieder wechselte die Axt von einer Schulter auf die andere. »Ei Donner – und ich hab' zu ihr gesagt: Hanne, hast wohl keine Augen im Kopf, sonst tätest dir einen schöneren Schatz suchen!«

»Was hat sie darauf gemeint?« fragte Pfarrers Heinz und dachte nebenhinaus, seinem heimlichen Neid nach.

Der Knecht schüttelte den Kopf. Fast väterlich sah er auf den Jüngeren und Kleineren herab. »Jeder soll um solche Dinge seinen eigenen Schatz fragen – wenn er einen hat.«

Sie gingen grüßend und lächelnd auseinander, die zwei; der eine dem Dorf, der andere der einsamen Heide zu.

Auf den Mithrasstein setzte sich Pfarrers Heinz. Er zog Pläne und Karten und Zeichnungen aus der Tasche und sagte seiner Seele vor, daß er das Gelände studiere und Wege und Zufahrtsstraße durch die Heide zöge. Nichts anderes.

»Ja, wie ist denn das?« klang ihm dann eine Antwort. »Du wolltest doch jetzt gar nicht hierher, sondern nach Ceylon bauen.«

»Wenn sie mitgeht, wenn sie mitgeht,« zirpte ein Zaunkönig irgendwo. 297

»Sie geht mit!« sagte die Seele, fast aufbrausend.

»Welch ein merkwürdiger Narr bist du,« raunte es, »meinst du, auf Ceylon gelte es dann nicht, das Gesetz vom Blut und seiner Kraft? Du bist zu feig zum Verzichten. Du bist wie einer, der den Kopf duckt, um unter dem Regen durchzulaufen. Es handelt sich nicht darum, wohin du deine Fabrik bauen, sondern auf was du das Glück deines Lebens gründen willst. Ob du einen Findling von dunkler Herkunft zu deinem Weibe, zur Mutter deiner Kinder machen willst. Darüber mußt du dir klar werden, das ist die Frage, die es zu lösen gilt.«

Heinz Sommer kniff die Augen zusammen, als schätze er eine Entfernung ab: Fünfzig Meter. Ja, fünfzig Meter werden genügen! – »O du feiger Kauz! Vielleicht haben Zigeuner das Kind ausgesetzt. Vielleicht hat eine leichtsinnige und gewissenlose Magd aus jenem üblen Wirtshaus an der Waldstraße es heimlich geboren? Vielleicht war's auch die schmutzige Schweinemagd von Biala? Der Forstmeister scheint das fast zu glauben. Oder scheint er es nicht zu glauben? Ist mir das nur so vorgekommen?« –

Pfarrers Heinz sprang vom Stein. Er hielt es nicht mehr aus, von Sonne und Licht umspült da oben zu sitzen. Ins Heidekraut, an die Erde warf er sich und wühlte den Kopf ins Dunkel, wie in unerträglicher Scham. »Eva, Eva,« stöhnte es in ihm, »mein Morgengebet, mein Abendgesang, mein Glockenläuten, mein Kirchengang, meine einzige, köstliche Liebe! Du kannst, du darfst keinen Flecken tragen. Du kannst, du darfst deinen Ursprung nicht in Zuchtlosigkeit, in Dirnenhaftigkeit, in Gemeinheit haben!« 298

Wie aus der Erde, der dunklen, kühlen, raunte es: »Hast du nicht gesagt: Trauen, Vertrauen ist alles! Vielleicht hat Not nach Glück, Herzeleid nach Seligkeit, Verzweiflung nach Hingabe das Kind an den Weg gelegt? Siehst du sie nicht, wie sie ist? Trägt sie kein Mal an sich, das sie ausweist?«

»Wie soll ich das Mal, das Zeichen sehen? Ein Kind sah ich, das heimliche Glut und fremde Schönheit in sich hatte. Dann trug sie Ketten.«

»Ketten decken kein Mal, kein Zeichen zu.«

»Wie kann ich's finden – ich liebe sie – meine Augen sind gehalten.«

»Deine Augen sind offen. Du hast gesehen, woher sie Kraft holt. Am Vorabend der Pfingsten hast du's gesehen und gewußt. Da war dir alles klar und licht. Da wußtest du die letzte Wahrheit: Daß das eines Menschen Mal und Zeichen ist, woher er sich Kraft holt für seine Schwäche.«

»Am Vorabend der Pfingsten! Ich habe auf Pfingsten gewartet. Nun ist Eis gekommen und Winter.«

»Auf Pfingsten wartet man nicht. Pfingsten kommt, wenn die Zeit erfüllet ist. Die Zeit aber und Stunde weiß niemand vorher. Das Eis schmilzt, und der Winter vergeht. Man muß nur lernen umschreiben, was gestern herrlich gepaßt hat. ›Forstmeisters‹ Eva wäre dir recht gewesen zum Weibe. Eva muß dir erst recht werden. Sonst hat sich nichts verändert seit einer Stunde.«

»Aber das Blut, das Blut, das in meinen Kindern, in meinen Söhnen strömen wird!« 299

»Du hast – an einem Tag, von dem du keinem sagst – gelernt, daß das Unwägbare und nicht zu Errechnende das Stärkste ist auf der Welt. Dein Wissen und Können wolltest du damals hinwerfen und dir die fremde Perle kaufen. Und heute rechnest du und wägst du mehr als je und glaubst an Blut, wie du je an Errechenbares und Wägbares glaubtest. Wenn Blut den Menschen macht – ich sag dir, der Mensch muß auch das Blut machen können. Es gibt kein Gesetz, das stärker wäre als eine Kraft, die anfängt, sich zu bewegen und aus dem Schlaf zu erwachen.« –

Auf dem Stein zirpte ein Vöglein: »Wenn sie mitgeht, wenn sie mitgeht.«

Heinz Sommer richtete sich auf. Seine Augen glänzten: »Eva, gehst du mit? Nicht nach Ceylon. Ins Leben hinein – in unser Leben? – Ins Glauben hinein – ins starke Glauben!« –

*

Ein flacher, einstöckiger, weißer Bau erstand am Flußufer. Aber nicht dort, wo Eva dazumal mit ihrem hölzernen Schiff ins Wasser gegangen war.

Heinz Sommer schonte diese Stelle. Es war da ein so herrlicher Platz für Seeschlachten, für Hafen- und Molenbauten, für Leuchttürme und Wasserräder, der mußte erhalten bleiben für später.

Nicht alle Söhne und Töchter des Bauherrn würden wohl einst das heiße und wilde Blut haben, das ihre Mutter vor ein wenig vogelartiger Häßlichkeit ins eisige Wasser trieb! Es würden vielleicht, nein, es würden gewiß auch zähe, 300 unerschrockene und unerschreckbare Mädchen und Knaben darunter sein, mit eigenem Sinn, die wußten, was sie wollten, und die sich kein Vorhaben stören ließen.

Vielleicht, nein gewiß, würden auch solche darunter sein, die mit klarer Sicherheit auch hinter häßlichem Schein schönes Wesen zu wittern vermochten, wie Hanne, die Treue. Solche, die besondere Wirklichkeiten spürten, Wirklichkeiten, die nicht abgezogen waren von den Dingen, sondern aus denen heimlich alle Dinge herauswuchsen, wie die Blüten auf dem Seespiegel aus der unsichtbaren Pflanze im tiefen, dunklen Grund.

Vielleicht würde ein Knabe, ein Mädchen darunter sein, das Glauben hätte, echten Glauben, wenn auch nur als ein Senfkorn, und das dann sagen würde zu diesem Berge – –

Ach, Heinz, welche schönen Möglichkeiten liegen wohl in Evas unbekanntem Blut. – Und du bist noch immer zu feig, sie zu fragen? Du wartest immer noch auf ein Zeichen, und es wird dir doch kein Zeichen gegeben werden als deine Liebe, die sich sehnt, sie an dich zu reißen.

Du hast dem Forstmeister versprochen, noch ein Jahr zu warten auf alle Fälle. Zu warten, zu beobachten, zu suchen.

Hatte der Mann ein Recht, das von dir, dem damals fast Betäubten, zu verlangen? Hat er dir diese Bedingung nicht über den Kopf gestülpt, als du wehrlos warst? Nun bist du nicht mehr wehrlos, nicht mehr betäubt. Nun siehst du, um was es sich handelt; nun weißt du, wo der Feind steht und welche Waffen du nötig hast. 301

Trauen – nichts als Vertrauen! Glauben als ein Senfkorn. –

Es lag ein Zug um des Mannes Mund, der war wie jener Zug um den Mund des Knaben, als er noch seinen zähen Eigenwillen hatte. »Forstmeister, ich werde mir meinen Kalender machen, wie ich ihn brauche! Das Jahr wird um sein an dem Tag und in der Stunde, da ich es will.«

*

Ein Pförtnerhaus erstand neben dem flachen, weißen Bau. Groß war es nicht, aber seine Stuben so hoch, daß Semme den Kopf nicht zu ducken brauchte wie unter den Balken der Fev. Und das war gut. Denn er trug ihn gern hoch, seit die Hanne mit ihm ging. Wie Bann und Last war es von ihm genommen, ein Freigelassener stand er vor einem neuen Leben.

Sein Herr sah ihn an mit den klugen, ruhigen Augen. »Heiraten willst und bei Pfarrers Heinz eintreten? Ich kann nur sagen: Bei mir bist du über dem Wenigen treu gewesen. Nun kann dich dein neuer Herr über viel setzen! Komm und sag's auch der Bäuerin.«

Die Bäuerin gab ihm die Hand. »Semme, ich wünsch dir Glück, so viel, als du einmal Leid gehabt hast, und das ist viel.«

»Woher wisset Ihr's?« fragte der Knecht mit ehrlicher Überraschung.

Die Frau lächelte: »Wenn ich etwas weiß, dann frag ich nie: woher? Mußt auch nicht fragen. Bring einmal die Hanne her, ich möcht sie sehen.« 302

So brachte er die Hanne her.

Und die Hanne ging von der Frau fort wie im Traum. »Semme,« sagte sie, als beide schon draußen schritten auf der einsamen, leise dunkelnden Gasse, »Semme, die Bäuerin ist schon gestorben. Man meint nur, sie sei noch da, ihr meinet's nur.«

»Warum sagst das?«

»Weil's so ist. Sie sieht so aus, ich seh's. Ihr seht nichts.«

»An was siehst's?«

»Wie die Gestorbenen sieht sie aus,« antwortete murmelnd und für sich Hanne, »wie die, die nicht mehr da sind und doch da sind.«

Semme sagte nichts mehr. Er wunderte sich nie über Wunderliches. Es war die Luft, in der er geatmet hatte von jeher, er, der selbst nie Wunderliches sah und hörte.

Als sie am Häuslein von Hannes Großmutter noch Hand in Hand standen, ehe sie sich trennten, sagte Hanne: »In vier Wochen kann's nicht sein. Vielleicht in acht.«

»Hast denn Angst vor dem Hochzeitmachen?« fragte mit seltsamer Trauer in der Stimme der Knecht.

Sie schaute zu ihm auf. Noch war das Dunkel nicht so tief, daß man das Erglühen ihres blassen Gesichtes nicht hätte sehen können. »Angst nicht. – Wegen der Bäuerin ist's. In vier Wochen geht sie vollends.« –

Stumm standen sie noch eine Zeitlang aneinandergeschmiegt. Dann trennten sie sich.

Und in vier Wochen ging die Bäuerin. 303

Tags zuvor war Forstmeisters Eva, das Hexlein, noch bei ihr. Sie saß auf dem Bettrand, sie hatte Augen voll seligen Glanzes, sie hielt mit der kranken Hand die bleichen Finger der Bäuerin.

»So fest kannst du jetzt zulangen?«

Stärker drückte die Hand. »O Christine, nun glaube ich selbst, daß ich einmal wieder ganz gesund werde.«

»Glaubst's jetzt, Kind? Ja, wenn der Vorabend einmal da ist, dann wird auch vollends Pfingsten. Man muß nur warten.«

Eva neigte den Kopf zu der Liegenden. »Christine, gelt, du weißt nicht mehr, was ich gesagt habe damals!«

»Nichts mehr weiß ich. Ich vergesse von heut auf morgen, was dahinten ist. Weißt denn du es noch?«

Eva sank neben dem Bett auf die Knie und preßte den Kopf in die Kissen. »O Christine! Ich hab ihn lieb, ich hab ihn lieb! Viel lieber als die Ursa den Seltstein. Muß ich's ihm sagen, das, was ich einmal dir gesagt habe?« –

»Wie kann ich das wissen, wenn ich doch alles vergessen habe! Wenn du ihn so liebhast, dann wird dir immer zur rechten Zeit einfallen, was du ihm sagen mußt.«

»Glaubst du, daß er zornig würde, wenn ich's ihm sagte?«

»Kannst es ja probieren. Wenn man sich miteinander verspricht, ist es schon gut, wenn man weiß, von was jeder Teil zornig wird.«

Tiefer wühlte sich der Kopf in die Kissen. »Ich werde ganz zornig, wenn man mir nicht den Willen tut.« 304

»So will ich ihm sagen, daß er dir einmal den Willen nicht tun soll.«

Eva hob das Gesicht mit den leuchtenden Augen. »Bei ihm werde ich nicht zornig deswegen, kannst mir's glauben.«

»Ja, was soll ich dann Pfarrers Heinz raten, damit er dich kennenlernt?« –

Des Mädchens lachendes Gesicht wurde ernst. Durchs offene Fenster sah sie hinaus in den von herbstlicher Klarheit erfüllten Tag.

»Christine,« sagte sie dann leise, »das weiß ich nicht. Ich kenne mich selber nicht. Ich bin, wie wenn viele in mir wären. Gute und Böse.« –

Es war still in der Stube. Dann klang die Stimme der Frau: »So sind wir alle. Mich wundert nur, daß du das so früh schon weißt. Das kommt sonst erst heraus, wenn im Herbst das Reifen anfängt.«

»Ich wüßt's auch nicht,« sagte wie nachsinnend Eva; »aber ich schreibe eine Geschichte, und da hab ich's gemerkt.«

Die Frau sprach nicht. Sie hatte ein Gefühl, als schaue sie einer Schlafwandelnden bei ihrer Wanderung zu und dürfe sie nicht anrufen.

»Die Guten und die Bösen,« fuhr Eva träumerisch fort, »sind immer alle ich. Sie haben mein Herz und meinen Sinn und wissen, was ich weiß, und tun, was ich tu. Und ich habe auch ihr Herz und ihren Sinn und weiß, was sie wissen, und tue, was sie tun. Glaubst du das?«

Wieder sagte die Frau nichts. Und wieder fuhr Eva fort: »Die mit dem schönen, langen Haar und der Kette um den 305 Hals, die dann gestorben ist, als ihr Kindlein noch ganz klein war, die bin ich. Und der, den sie so liebgehabt hat über alles Maß hinaus, für den sie fortgezogen ist von den Eltern und aus der Heimat, und für den sie Schmach und Schande getragen hat, der bin auch ich. Und das Kindlein, das der Mann dann den Leuten gab, die er für gut hielt und die doch so schlecht und gewissenlos waren, daß sie es im Schnee aussetzten, das bin auch ich. Ja, sogar das Meer und der Wald und der Sturm und die Glut am Himmel und alles in meiner Geschichte bin ich – verstehst du das?«

»Eva,« sagte die Frau, so zart und leis, wie man ein Kind anruft, von dem man nicht weiß, ob es noch schläft oder schon am Erwachen ist, »ich glaube, daß ich das verstehe. Der, in dem alles lebt und webt, ist ja unser Vater. Und wir können nicht ganz aus der Art schlagen.«

Sie saßen ganz still, ganz versunken beieinander, die Braut und die Sterbende, die beide ahnend vor des neuen Lebens Toren standen und ins Kommende hinüberlauschten mit betenden Herzen.

»Christine,« sagte jetzt Eva, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, »glaubst du, daß ich einmal gut sein werde?«

»Ja, hältst du denn dafür, daß es einen Wert habe? Sie müssen oft den Narren Gottes spielen, die, die gut sein wollen!«

»O du – nun weißt du doch noch alles, was ich gesagt habe!«

»Und du, was ich sagte.«

Sie hielten sich an den Händen und sahen dem 306 Sonnenstrahl zu, der durch die Stube glitt und der zartfingerig und liebkosend jetzt über das weiße Bett hintastete. »Kind,« sagte dann die Bäuerin innig, »freigegeben bist du nun bald. Deine Ketten sinken mehr von Tag zu Tag. Der dir die Freiheit anvertraut, der traut dir wohl auch das Gutsein zu!«

*

Am andern Tag ging die Bäuerin.

Niemand war bei ihr in der Stube. Man schläft am besten ein, wenn nichts sich rührt.

Es standen dann bald viele um ihr Lager. Nicht alle hatten Augen. Manche waren wie die weinende Stasel: Sie spürten etwas und wußten nicht was.

Aber Eva, als sie mit Pfarrers Heinz hinzutrat, sah um den Kopf der Liegenden einen goldenen Kreis, als stehe weit, weit hinter ihm eine Sonne, die woanders leuchtete.

Das Mädchen schmiegte sich an den Mann. »Nun ist sie ganz schön geworden. Als ich ein Kind war, wußte ich, daß man stirbt, wenn man ganz schön ist.«

Da klopfte des Mannes Herz laut und heiß.

»Wie konntest du es wissen?«

»Alle, die in mir sind, sagten es.«

Ihn schauerte. Hatte sie nicht unbewußt in die heilige Stille der Stunde einen leuchtenden Stammbaum hineingezeichnet?

Ein tiefer Friede geleitete die zwei aus der Stube.

 


 


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