Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Wie war er eigentlich in sein Bett gekommen? In schwerem Besinnen lag Heinz Sommer und dachte nach, und sein Herz klopfte einen harten Takt dazu. Glockenläuten kam dünn und gedämpft von draußen. Und nun war alles da: Der Kirchgang, die Suche nach Eva, der furchtbare Heimweg.

Wie lange her war das alles? Lagen Stunden dazwischen oder Wochen? Er richtete sich auf. Er griff nach seiner Uhr auf dem Nachttisch. Zwei Uhr. Rief das Läuten zum Gottesdienst? War's noch, oder schon wieder Sonntag? Oder war vielleicht eine Beerdigung?

Warum jagte sein Herzschlag plötzlich so rasend? 166

Nach der Klingel griff er und läutete heftig.

Tante Dine erschien so rasch, als hätte sie vor der Türe gewartet. Ihr freundliches, rundes Gesicht war ganz bleich, eine Sorgendecke lag über der Fröhlichkeit.

»Nun, wie geht's?« sagte sie, und man hörte das Erzwungene an der Leichtigkeit ihres Tones.

»Warum läutet's?« fragte er kurz, fast barsch zurück und legte den Kopf ins Kissen.

»Es ist zwei Uhr, Gottesdienst ist.«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust unter dem weißen Nachthemd. Dann klang ein leises Lachen auf. »Tante Dine, ich weiß eigentlich gar nicht, wie lange ich hier liege. Hilf mir ein wenig. Denke, ich sei schwer betrunken gewesen.«

Sie setzte sich auf den Bettrand. Entrüstung stand in ihren Augen. »Nein, das denke ich nicht. Ich habe doch gesehen, wie dir Vater die Eva vom Arm nahm.«

Er schaute gegen die Decke. Also um Stunden nur handelte es sich, seit er alles erlebt hatte! Ein leiser Schauer griff ihm ans Herz. Der Gedanke durchfuhr ihn: vielleicht ist's mit unserm ganzen Leben so! Wir meinen lange Jahre für uns zu haben, und alles ist doch nur ein Augenblick.

»Was macht sie?« fragte er zögernd.

Die Sorgendecke auf der Tante Gesicht schien dichter zu werden. »Der Forstmeister hat sie hinübergenommen. Sie ist nicht bei sich. Schüttelfröste soll sie haben. Ihr Schifflein hält sie wie im Krampf in der Hand.«

Heinz hob den Kopf und sah der Frau ins Gesicht. 167 »Gesteh's,« sagte er, »nun möchtest du haben, daß ich zu Kreuze krieche und pater peccavi sage.«

Sie wehrte leise mit der Hand ab. »Gar nichts Lateinisches möchte ich von dir haben. Nur wissen möchte ich, wie alles gekommen ist.«

Er richtete sich jetzt so auf, daß er im Bett saß. Seine Lebensgeister schienen völlig zurückgekehrt.

»Wie alles gekommen ist? – Nun, sie wollte natürlich ihr Schifflein schwimmen lassen und ist dabei ins Wasser geraten.«

»Aber daß du dazu kamst! – Wußtest du denn davon? Und wußtest du, wo Straubs Garten ist?«

Auch vor Heinz türmte sich das große Verwundern auf, daß alles so gekommen war, wie es kam.

»Dort war sie nicht,« sagte er wie in Gedanken, »sie war draußen an dem Steg, dem Maienbuckel gegenüber, wenn du das weißt.«

Die Frau ließ die Hände sinken. Es sah aus, als lähme sie das Entsetzen. »Dort draußen – allein – bei solchem Wetter?« stieß sie dann mit versagender Stimme hervor.

Sie versank in ein Schweigen, von dem Heinz seltsam klar spürte, daß es voll Entrüstung, voll Anklage, voll tiefer Empörung war. »Und du,« fragte sie endlich noch ganz benommen, »wie kamst du dort hinaus, so weit – –«

Er spürte, wie ihm auf einmal die Zähne wieder klappern wollten. Ja, wie kam er dort hinaus? Was war diese Angst gewesen, die ihn auf die Spur geführt hatte? ›Schutzengel‹ ging es ihm durch den Sinn, ohne daß der Spott aufwachte. 168

»Ich weiß nicht,« sagte er leis, »gestern war es so schön dort draußen.«

Sie stand vom Bettrand auf. Schlittenglocken kamen die Gasse herauf und am Pfarrhaus vorüber. Durchs Fenster sah sie hinunter. »Er hat den Doktor geholt, der Forstmeister. Sie hätten sich's sparen können, wenn sie die Kleine – –«

»Tante Dine,« fiel Heinz ein, »könntest du hinüberschicken und fragen lassen?«

Sie nickte und ließ den Fenstervorhang wieder übereinanderfallen. »Ich gehe selbst und bringe dir den Doktor her.«

»Was fällt dir ein!« rief er rasch. »An mir ist nichts zu doktern. Wenn ich einen recht heißen Tee bekommen könnte –«

Da griff sich die Frau an den Kopf. »Über andere kann ich losziehen, aber was meines Amtes ist – –« und sie ging aus dem Zimmer.

*

Das Forsthaus zu Meßberg war ein langgestreckter, äußerlich nüchterner Bau, an dem keine schönen Formen und kein besonderer Schmuck zu sehen war, es sei denn, man wollte die paar alten, behauenen Steine dafür gelten lassen, die von Klosterzeiten herstammten und ziemlich wahl- und sinnlos hineinverbaut waren.

So grinste ein fratzenhafter, als Wasserspeier gedachter Kopf über der Haustüre, und an der Ecke, zwischen derben Werksteinen, lachte ein breitgedrücktes, mit seltsamem Schneckenbart geschmücktes Männlein in die fremdgewordene Welt. 169

Die zweiflügelige, gerundete Haustüre glich einem kleinen Scheunentor. Doch war sie aus festem, altem Eichenholz und mit zwei mächtigen Ringen geziert, die früher als Klopfer gedient hatten.

Ein breiter Flur dehnte sich durch die Tiefe des Hauses, und rechts und links führten flache Steintreppen zum ersten Stockwerk empor.

An Raum war nirgends gespart, wohl aber an freundlichem Schmuck und wohnlich machendem Zierat.

Die hohen, grünlichweiß getünchten Wände in Flur und Treppenhaus waren mit Geweihen und ausgestopftem Kleingetier behängt; breitgeschaufelte Elche und die abnorm geformten Gehörne kümmernder Rehböcke bildeten Gruppen, die wohl den Weidmann erfreuen konnten, die aber den Eindruck des Kalten und Unwohnlichen nicht aus dem hallenden Aufgang zu bannen vermochten.

Auf den oberen, langgestreckten, mit dicken Matten belegten Flur mündeten zahlreiche gleichförmige Türen, die aussahen, als führten sie zu Klosterzellen.

Aber die in langer Flucht ineinandergehenden Zimmer waren groß und hoch, und wenn die Sonne durch die hohen Fenster brach, wirkten sie freundlich und wohnlich.

Breite, alte Öfen aus bunten Kacheln standen traulich in den Ecken, bereit, die großen, knorrigen Klötze aus dem nahen Wald zu fressen; die Fußböden aus hellem Holz waren durch schwärzliche Friese in Vierecke geteilt, es gab altmodische Tapeten mit blühenden Rosenranken und farbig gestrichene Wände mit kunstvoll aufgemalten Borten. 170

Eine vornehme, altväterische Besonderheit lag über diesen großen Stuben; sie söhnte den Forstmeister immer wieder aus, wenn sonst in dem weitläufigen Amtssitz nicht alles zum Besten bestellt war.

Thomas Auersteins von den Vätern überkommener Hausrat stimmte gut zu den Räumen. Die schönen, dicken Teppiche und Felle brachten Wärme herein, die spiegelblanken Möbel aus fremden, alten Hölzern standen zufrieden an ihren Plätzen, als seien sie ausgesöhnt mit der Wanderfahrt, die man ihnen zugemutet hatte.

Evas Stube ging nach Südosten. Man hatte das Bett von der Wand gerückt und näher gegen das Fenster gestellt. Fast verloren stand es in dem großen Raum mit den blaugestrichenen Wänden und glänzendweißen Türen. Ein zertretenes Bärenfell mit mächtigem Kopf und aufgesperrtem Rachen lag davor.

Ein wenig öde wirkte das Zimmer. Die Möbel und die Bilder an den Wänden waren anderswo übriggeblieben, nicht für ein Kind ausgewählt. Die Hand Tabeas war mehr nüchtern als mütterlich. Es hingen da ein paar anspruchsvoll große Stiche, Rokokoschäferszenen in prunkenden, altmodischen Rahmen und ein mächtiges, fleckig gewordenes Gastmahl des Plato.

Aber darunter gab es, offenbar von Evas eigener Hand an die Wand genagelt, kleine dürre Kränzlein aus Heidekraut und winzigen Immortellen, dazu Scherenschnitte aus dem Papier alter Schulhefte und einen mit schwarzer Seide auf Silbergrund genähten Spruch: ›Ohn' Fleiß 171 kein Preis,‹ ein Geschenk von Frau Winter aus dem Pfarrhaus.

Eine leise Wärme füllte das Zimmer. Es war alles, was der weiße, mit Messingzierat geschmückte Ofen herzugeben vermochte. Für ernstliche Arbeit war er in seinem Alter nicht mehr zu haben.

Tabea kauerte mit rußigen Händen und vergrämtem Gesicht vor der Ofentüre, und Frau Winter saß neben dem Bett. Es roch nach Essig und Baldrian.

Das Gesicht der Kranken war vom Fieber gerötet; man sah die geschlossenen Augen unter den Lidern sich unruhig bewegen. Schwer ging der Atem; manchmal klang ein bellender Husten auf, manchmal ein paar hastige Worte, die meist nicht zu verstehen waren.

Dann und wann legte die Frau die Hand auf Evas Stirn. Dann taten sich die blicklosen Augen flüchtig auf, um schwer wieder zuzufallen. Die braunen Kinderfinger auf der Decke begannen ein lautloses, unheimliches Spiel.

Frau Winter nahm den Schwamm aus dem Essigwasser. Das Herz zitterte ihr in unausdenkbarer Angst. Suchte die Kleine den Kirchhofschlüssel?

Unter der kühlenden Waschung hörte das schreckliche Spiel der kleinen Hände auf.

Aber nun begann Eva zusammenhängender zu reden. Tabea trat ans Bett, bleich, verstört, mit zerzaustem Haar. Sie horchten beide auf die Worte ohne Sinn, die dem brennenden Mund entquollem Von der Fev und von Jerusalem, von Semme und einem Vogel war die Rede und dann ein 172 winselndes, klagendes, unaussprechlich trauriges: O je – o weh!

Frau Winter tropften die Tränen aus den Augen bei den herzbeklemmenden Jammerlauten.

Plötzlich schrie Eva auf. Nicht sehr laut; aber so erschütternd, als käme der Schrei aus tiefster, verzweifelter Not. »O laß mich, laß mich doch!« und dann ein gellendes: »Heinz!«

Frau Winter konnte die Qual nicht mehr ertragen. Mit zitternden Knien stand sie auf und fing an, die nassen Tücher zuzurichten.

»Noch nicht,« flüsterte Tabea, »erst in einer halben Stunde.«

Ein merkwürdiger Blick traf sie. »Siehst du,« sagte er, »daß du ein Mietling bist. Du schaust auf den Uhrzeiger, wenn der Sand doch im Stundenglas verrinnt.«

Mit der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, wenn Liebe und Angst sie treibt, hob sie das glühende Kind aus den Kissen und legte es in die nassen, kühlen Tücher.

Über ihr eigenes heimliches Bangen und Entsetzen hinüber redete sie dabei Worte voll Mitleid und Beruhigung, ja Worte freundlichen Scherzes.

Der brennende Leib in den Tüchern kühlte ab, das fiebernde Blut ließ nach in seinem tollen Jagen, das rasend klopfende Herz tat langsamer.

Die Kranke schlug die Augen auf, und es war Blick darin.

Ein banger, suchender, flehender Blick. »Ist Heinz fort?« klang eine leise Frage auf. 173

Schon wollte Tabea sagen, er sei nie dagewesen, da sah sie, wie Frau Winter sich zu dem Kinde neigte. Ihr Gesicht, das eben noch so voll Angst gewesen war, lächelte. »Soll ich ihn wieder rufen, den Heinz?«

»Ja,« klang es matt und kurz zurück.

Von dieser Stunde an war Heinz täglich am Krankenbett. Ja, in ein paar ganz bangen, schweren Nächten wurde er gerufen und mußte bleiben, und es war, als hätte sein Rettungswerk um ihn und die Kleine eine eiserne Fessel geschlagen, die sie beide aneinanderkettete.

Aus all der Todesangst heraus, die die Fiebernde quälte, sollte er sie nun ebenso tragen wie aus dem eisigen Wasser und dem stürzenden Schnee. Das hölzerne Schifflein, das armselige Spielzeug, hatte sich wie zu einem Schicksal ausgewachsen, und wenn Heinz es liegen sah, dort auf dem Bord neben dem weißen Ofen, dann durchlief ihn ein Schauer, und er meinte oft, er sehe das leblose Ding grinsen in heimlichem Wissen.

Mit Heinz zusammen saß oft der Forstmeister an dem Bett der meist Bewußtlosen. Sein Gesicht war bleich und gealtert; ernst und dunkel blickten die Augen auf die Kranke.

War es denn nicht sein Einziges, was da lag? Sein Einziges auf dieser weiten und kalten Welt? Sein Amt, sein Wald, sein Deutschland – ach, sie konnten nimmermehr das eine ersetzen, was auf Erden das Höchste ist: ein Mensch, der ganz zu einem gehört!

Mit einer wunderbaren, nie erlebten Deutlichkeit spürte das der wortkarge Mann. – Daß sie seines Blutes nicht 174 war, diese mit dem bitteren Tod ringende Kleine – was verschlug das! Sein eigen war sie gewesen; er hatte sie erwachen und Mensch werden sehen; in seiner Obhut stand bis auf den heutigen Tag dies junge, erst halb bewußte Leben.

Und ihr rätselvolles Auftauchen aus einer fernen Sturmnacht heraus, die völlige Dunkelheit ihrer Herkunft, dieser Schein von Wurzellosigkeit auf der Erde – war alles nicht dazu angetan, sie ihm vielleicht noch ganz anders als ein Geschenk des Schicksals auf den Weg zu legen, als wenn sie sein und jener unglückseligen Toten leibliches Kind gewesen wäre?

So saß er stumm, bleich, grübelnd neben dem Bett, allein mit seinen schweren Gedanken.

Und einmal kam eine Stunde, die ihn im Innersten erschütterte. Da redete das mutterlose Kind, das sich scheinbar nie nach einer Mutter gesehnt, nie an eine Mutter gedacht hatte, von seiner Mutter.

Die pflegenden Frauen waren weggegangen, Heinz stand unten am Bett neben dem Fenster. Die karge Wintersonne kam weiß und schräg in die Stube. Da fing es an.

Sie schien zu schlafen, die Kleine; ruhevoll sah sie aus, nicht wie sonst, wenn phantastische Bilder sie quälten und irre Worte aus dem brennenden Mund brachen.

»Mutter,« sagte sie leis und klar, »warum hast du geweint?«

Heinz sah, wie des Forstmeisters Augen sich weiteten und wie der Mann sich hinbeugte zu der Fiebernden. Da wünschte er sich weit weg und schaute durchs Fenster nach 175 den fernen Tannenwipfeln; aber seine Ohren konnte er nicht schließen.

»O wie sind deine Haare so schön lang und weich! Laß mich sie streicheln! Schenke mir die Kette an deinem Hals! Tabea sagt, daß du gestorben seiest! Ich kann dich nie sehen. Hanne kann die Gestorbenen sehen; aber man bekommt das Frieren davon. Oh, ich fürchte mich! Ich friere so schrecklich!« Ihre Worte gingen unter in einem Stammeln und Zähneklappern, und der Forstmeister zog ihr die Decke hoch und legte ihr die Hand auf die Stirne.

Heinz trat hinzu. Er wagte kaum, den andern anzusehen. »Soll ich Tante Dine rufen, oder Fräulein Tabea?« fragte er flüsternd.

Aber der Forstmeister winkte stumm ab und zog seinen Stuhl ganz dicht vor das Bett, als sorge er, daß ihm ein Wort entgehe. Doch kam nichts mehr.

So war es ein schreckliches Auf und Ab an dem Lager der Kleinen, bald leise Hoffnung, bald erneute schwere Angst, und kein freundliches Licht wollte sich zeigen.

Manchmal, wenn Heinz nur als Besucher für einen Augenblick kommen wollte, mußte er bleiben, weil sein Anblick und sein Nahesein für die Kleine Beruhigung war. Das furchtbare Gewirr von Bildern und Vorstellungen, die sich unter dem Sturm der Krankheit in ihrer Seele und ihrem Hirn jagten, schien sich zu lösen und zu legen, wenn Heinz an ihr Bett trat.

Und oft dachte er, man müßte helfen können, wenn man wüßte, welche Gaukelwelt hinter der braunen, heißen Stirne 176 ihr Wesen trieb. Angestrengter lauschte er auf jedes Wort aus dem fiebernden Mund, und er suchte begierig nach Zusammenhängen.

Grübelnd, gequält, nach einer helfenden Tat verlangend, stand Heinz einmal wieder auf dem Bärenfell und schaute nach dem Gastmahl des Plato hinüber. Aber er sah die Gestalten auf dem Bild nicht. Etwas anderes tauchte auf, was ihm seither entschwunden gewesen und nun plötzlich in das geheimnisvolle Geschehen verwebt war. Vom wirbelnden Schnee, wie von dickem Nebel umhüllt, ragte der Steg über den Fluß empor, und darüber eilte eine lange Gestalt, unkenntlich, undeutlich, im Nichts verschwindend.

Daß er das ganz vergessen hatte!

»Tante Dine,« fragte er halblaut, aber in einer Erregung, die ihn selbst befremdete, »Tante Dine, wer ist Semme?«

»Ach,« sagte leise die Frau, »damit meint sie den Knecht von Johannes Straub; dorthin lief sie oft.«

»Was ist das für ein Mensch?«

»Nun, er ist ein hagerer, häßlicher, ein wenig blöder Kerl, aber der Bauer lobt ihn.«

»Einer Schurkerei ist der wohl nicht fähig?«

Verwundert sah ihn die Frau an. »Was fragst du? Ich weiß nichts von ihm, als daß er der Fev, der alten Taglöhnerin, ihr Sohn ist. Die Mutter ist kein schlechtes Weib.«

Sie sprachen nicht weiter; aber in der Seele des Heinz hatte sich eine Ahnung, der Schein eines Zusammenhangs, eines Verdachtes festgebissen und quälte nun wie ein Widerhaken. 177

Manchmal, wenn niemand im Zimmer war, beugte er sich über die Kleine und sprach das Wort »Semme« aus. Und immer reagierte sie darauf mit sichtbarer Unruhe. Dann legte er ihr die Hand auf die heiße Stirne und sagte eindringlich: »Der Heinz ist da.«

Heimlich, zäh, wie durch undurchdringliches Gestrüpp, ging er seinen Weg, auf den ein fast ungreifbarer Verdacht ihn gestellt hatte, und dieser Weg führte ihn an einem grauen Abend vor die Tür der Fev.

Er kam vom äußeren Bauern her, wo ihm die Stasel gesagt hatte, daß der Semme eben bei seiner Mutter sei.

Das Häuslein der Taglöhnerin stand da, als sei es im Schnee begraben gewesen und habe sich nun mit Mühe und Not wieder ein wenig Luft gemacht. Auf allen Gesimsen und Vorsprüngen hockten Schneestreifen und Schneehäuflein, tief hing das weiße Dach, und ein schmaler, von Schneebergen begrenzter Weg führte zur Haustür.

Eine Zeitlang betrachtete es Heinz von außen, etwa so, wie man einen fremden Menschen erst stumm mustert, ehe man sich mit ihm einläßt.

Dann trat er durch die unverschlossene Türe in einen Raum, der Küche und Flur zugleich war, und dann nach kurzem unbeantwortetem Klopfen in die niedere, von schwelender Wärme erfüllte Stube.

Die Taube an ihrem Faden fing zu schaukeln an; ihr tiefes, seltsames Nicken war wie ein überhöflicher und zugleich unheimlicher Willkommensgruß, denn in der grauen, dämmerigen Schwüle sah der nickende Vogel merkwürdig lebendig aus. 178

Am Tisch in der Stubenmitte saßen Mutter und Sohn. Schon waren ihre Gesichter nicht mehr deutlich zu sehen. Sie blickten beide stumm dem Besucher entgegen und standen nicht auf.

Heinz trat hinzu. Es war ihm fast lieb, daß das Tageslicht schon erloschen war, denn plötzlich überkam ihn Befangenheit. Was wollte er eigentlich von diesen zweien?

Nun stand der Knecht langsam auf. Hager, den kleinen Kopf geduckt, als sei der dünne Hals zu schwach, ihn hoch zu tragen, stand er Heinz gegenüber.

Dem fuhr es sofort deutlich durch den Sinn: »Ein Schuldbewußter.«

»Wo waren Sie am Sonntag in der Kirchzeit?« fragte er kurz, daß es war, als werde dem Hageren die Pistole auf die Brust gesetzt. Der schaute auf. Das von der grauen Dämmerung überhauchte Gesicht spiegelte Schrecken und ein scheues, ungeschicktes Ausweichen.

»Ich –« klang es nach einer Weile des Schweigens grob und doch feig, »das sind meine Sachen, denke ich.«

Heinz hatte mit einem Male ein so tiefes Gefühl seiner Überlegenheit über diesen hilflosen Menschen, daß es ihn wie Mitleid ankam.

»Ja,« sagte er fast freundlich, »weil alles, was am Sonntagvormittag geschah, Ihre Sachen sind, deshalb bin ich gekommen. Gerade deshalb. Forstmeisters Eva –« Er hielt inne. Der Knecht hatte sich plötzlich geduckt, wie unter einem Faustschlag. 179

Das Weiblein stand auf und hielt sich am Tisch. »Was ist denn, was ist denn?« kam es tonlos aus ihrem Mund.

Heinz mußte fast lächeln. Diese Menschen waren rasch hinter den Zaun getrieben, da gab es kein Entrinnen mehr.

»Was hattest du mit Forstmeisters Eva vor?« fragte er hart und trat ganz nahe vor den Knecht.

Das häßliche Gesicht wurde sichtlich fahl. Scheu gingen die Augen durch die Stube und blieben dann an der kleinen Mutter hängen.

»Sag's,« bat sie auf einmal wimmernd, und dann kam ein Gestammel, von dem Heinz nur das eine Wort verstand: Christiane. Aber dieses Wort schien eine geheimnisvolle Macht über den Knecht zu haben. Er riß sich zusammen. Das Vogelartige seines kleinen Kopfes trat plötzlich scharf hervor, in seine Häßlichkeit kam etwas wie Linie und Charakter. Zu dem Weiblein hingewandt, als sei kein Besucher da, sagte er heiser: »Sie ist selber hinein. Angst habe ich ihr machen wollen. Den Teufel hat sie im Leib. Den Hund hat sie auf mich gehetzt.«

Heinz hatte ein fast unheimliches Gefühl. So, als sei eben ein sonst stummes Tier in der Erregung sprechend geworden. Er mußte sich Gewalt antun, um seine Sache weiterzuführen.

»Um ihm Angst zu machen, treibt man kein Kind ins eiskalte Wasser,« sagte er drohend.

Der Knecht schaute ihn an. Hämisch fast. So, als habe er das Schlimmste nun hinter sich und fürchte das Weitere 180 nicht mehr. »Selber ist sie hinein. Vor mir geht sie in die Hölle. Da braucht's nicht viel.«

Die verhaltene Genugtuung, die Heinz aus des Menschen Stimme zu hören glaubte, brachte ihn in Zorn. »Dich freut's wohl noch,« fuhr er ihn an, »du bildest dir etwas darauf ein, wenn eine vor dir in den Tod geht! Hast keinen Finger gerührt, ihr zu helfen.«

Der Knecht öffnete ein paarmal den Mund. Es sah aus, als ringe er nach Luft, oder nach Worten, die nirgends für ihn zu erhaschen waren. Fast wie das eines Toten, war sein Gesicht. Dann ächzte er laut und schritt schwer nach der Türe, die schmetternd hinter ihm zufiel.

Eine dumpfe, beklemmende Stille war in der Stube. Dann schaute die Alte auf und fing eintönig zu reden an. Nicht, wie für den Besucher, sondern wie für die eigene bekümmerte, leidvolle Seele.

»Das ist, weil ihm alles wieder einfällt. Weil sie immer wieder aufsteht vor ihm, die Christiane, weil sie ihn nicht fahren läßt. Er hätt' der Eva nichts getan, aber den Hund hätte sie nicht auf ihn hetzen sollen. Das ist's – den Hund – man hetzt nicht den Hund –«

»Was ist's mit der Christiane?« fragte Heinz in das Murmeln des Weibes hinein.

Sie schaute auf mit einem so verlorenen Blick, als komme sie aus weiter Ferne her. »Mit ihm gegangen ist sie zwei Jahre lang.«

»Und dann?«

»Dann hat sie vielleicht gesehen, was die Eva gesehen hat.« 181

»Was hat die Eva gesehen?«

»Daß er aussieht wie ein Vogel im Bilderbuch. Ins Wasser ist sie.«

Der Horchende wußte nicht, warum ihn auf einmal das dunkle, fremde Leid dieser fremden Menschen so aus der Nähe angrinste.

»Darum sei sie dann ins Wasser, meint Ihr?« fragte er nach langer Stille.

»Der Herrgott weiß es,« murmelte das Weib, »was zwischen zweien ist, sieht kein dritter.«

Der Besucher, der als Ankläger, als Richter gekommen war, spürte, wie ihm langsam der Boden unter den Füßen entwich.

Ja, den Hund hetzt man nicht auf einen Menschen, der eine Last, ein Leid, groß und dunkel wie der Tod, in seinem dumpfen Herzen herumschleppt. Aber was konnte die Kleine davon wissen! Was wußte er selbst davon! Man muß sich an die Dinge halten, wie sie sich darbieten, sonst gerät man ins Grund- und Uferlose. Er redete sich zu, er rief sich ins Gedächtnis, wie das spielende Mädchen mit gellendem Schrei vor dem Gefürchteten ins eiskalte Wasser lief; wie sie daheim in Fieberglut lag, wie der Tod an ihrem Bett stand!

Aber über all das schaute der Gedanke herüber: ›Man hetzt den Hund nicht auf einen, der viel Leid trägt.‹

In sich zwiespältig geworden, von Unruhe, fast von Reue gefoltert, wandte er sich zum Gehen.

Das Weiblein trat mit ihm in den jetzt völlig dunklen 182 Flur, in den durch die offenstehende Türe die Kälte von der Gasse drang.

»So macht er's,« klang es aus dem Mund der Fev, »stürzt nur so fort wie ein Narr, tut keine Tür zu.«

Über der Gasse streckte ein dunkles Baumgerippe die Äste in die sinkende Nacht. Die Alte trat neben Heinz und deutete hinüber. »Dort hat der Jammervogel geschrien. Ist gut wissen, daß etwas an die Eva kommen mußte; sie hat ihn zuerst gehört.«

Der Jammervogel! Das war auch so ein Wort, das immer wieder in den Fieberreden der Kleinen auftauchte.

»Was ist's mit dem Jammervogel?« fragte Heinz leise.

»Sie müssen's nicht wissen wollen. Das Lachen vergeht einem.« Trüb murmelte es das Weib.

»Weiß es Eva?«

Die Alte gab lange keine Antwort. Ihr fiel wohl ein, daß so manches Wissen der Kleinen nicht Kinderwissen sei, und daß sie selbst ihr redlich Teil Schuld daran habe.

»Kann sein,« sagte sie dann vorsichtig. »Sie horcht auf alles, und sie fragt um alles, und schreien hat sie ihn hören mit ihren guten Ohren, schon vor mir.«

»Wie schreit er denn, der Jammervogel?« wollte Heinz wissen.

Die Alte trat zurück in den dunklen Hausflur, als solle der Laut nicht auf die Gasse dringen. Und so, aus der Nacht heraus, klang ein furchtbar klagender, mit einer besonderen Kunst nachgeahmter Vogelruf auf: »O–je, o–weh!«

Heinz horchte und spürte, wie ein schweres Grauen ihm 183 über die Seele lief. Eine fremde, dunkle, unbekannte Stimme rief da, die das kleine, alte Weiblein gar nichts anzugehen schien, die aus einer Ferne, einer Tiefe daherkam, in der alles Leid, aller Jammer zu Hause ist.

Er verstand plötzlich, warum die Fev in Meßberg für eine Hexe galt. Und nun hörte er, wie sie in ihre Stube trat und die Tür verriegelte, als hätte sie des Besuchers vergessen.

Langsam, in tiefen Gedanken, wanderte er heimwärts. Was am Sonntag geschehen war, hatte sich für ihn geklärt; aber vieles Dunkle und schwer zu Durchschauende war dafür an ihn herangetreten.

Da und dort fiel der Schein einer Lampe durch unverhangene Fenster auf die Gasse. Wie ein wissend Gewordener spürte er, daß in allen diesen niederen Stuben sich Schicksale abspielten, daß das scheinbar so glatte Meßberger Leben überall seine Untiefen und Strudel, seine Brandungen und Strömungen hatte. Und daß überall Schifflein in schwerem Kampfe standen.

War es des Jammervogels Ruf, der ihm die Seele geöffnet hatte?

*


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