Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Ein furchtbarer Sturm herrschte. Schwer und dunkel jagten die tiefhängenden Wolken am Novemberhimmel. Im Wald zwischen Gutshof und Fluß war ein donnerndes Heulen und Krachen, und vom Fenster seines Zimmers aus sah Thomas Auerstein die breiten Wipfel sich ducken und winden unter den wühlenden, peitschenden Sturmstößen mit jenen merkwürdig klagenden Gebärden, die wie bewußtes Leben und Leiden aussehen.

Da zog es den Freund des Waldes und all seiner Kreaturen hinüber, wie es im Leid einen rechten Freund zum Freunde zieht. Er nahm Mantel und Mütze und trat in das heulende Brausen hinein mit einem seltsamen, streitbaren Kraftgefühl, als könne und müsse er anbinden mit dem Sturm und den wimmernden Bäumen zu Hilfe eilen.

Ein jaulender Stoß entführte ihm die Mütze, gerade dort, wo das weißlich schimmernde Band der Landstraße durch die Bäume zog. Er schaute ihr nach, wie sie im Auf und Ab des Sturmes dahinwirbelte, und fühlte sich plötzlich von einer Last, einer Dumpfheit befreit, als werde das alles mit der Mütze fortgetragen. Da überkam es ihn wie Ahnen, daß der Sturmtag ein guter Tag, der Anfang von einem Neuen, ein Erlöser aus Bann und Acht sei.

Er wandte sich hinein in den krachenden, dröhnenden Wald. Alle Schauer der Gefahr, der lauernden Todesnähe kamen zu ihm her. Aber sie kamen wie Freunde, sie schreckten ihn nicht. Es war, als wollten sie ihm nur zeigen, daß er noch Mut, noch Kraft, noch Willen in sich trage, daß er nicht ganz zermürbt sei an Leib und Seele. 40

Unbeschreiblich wohl tat ihm das. Als einen unverhofften, nicht mehr erwarteten Ritterschlag nach langer Knechtschaft empfand er es. Die Arme hätte er ausbreiten mögen nach neuem Leben, neuem Schicksal.

Als er wieder aus dem Wald auf die weiße Straße trat, war es fast Nacht. Drüben im Gutshof blinkten die ersten Lichter auf. Da wollte vor diesen Lichtern seine Freude, seine Kraft plötzlich wieder versinken. Der Gedanke drang auf ihn ein: Nicht mehr dort hinein! Nicht zurück in die Schmach und in die Lüge, denn deine Ehe ist Schmach und Lüge!

Ein schrecklicher Schmerz durchwühlte ihn, ein Krampf in der Seele, wie er nie zuvor etwas empfunden. Vor das Nichts gestellt fühlte er sich. Keine Möglichkeit ringsum, kein Weg, kein Ziel. Er schloß die Augen, als sei die Nacht nicht dunkel genug. Er lauschte in das Dröhnen hinein und hörte nur die aufheulenden Stimmen in der eigenen Brust.

Und dann kam ein unsagbar Verborgenes, ein schamhaft Heiliges.

Jawohl, Thomas Auerstein! gebetet hast du damals, gebetet aus tiefer Not, wie die Gemarterten, die peinlich Befragten beten: »Ewiger, laß mich nicht zugrunde gehen, laß mich nicht irgendwo wie ein Tier verenden an meiner Scham und meinem Herzeleid.«

Dann wollte der Mann in die Nacht hinaus.

Aber etwas geleitete ihn in sein Haus zurück wie einen auf der Flucht Ergriffenen, der heimgebracht wird. Und die furchtbare Scham wich. Die Schauer des Gebetes, die 41 Schauer der durchlebten stolzen Stunde im toddrohenden Wald legten sich wie zu Schutz und Trutz um den Heimkehrenden her.

Mit schmollenden Vorwürfen und in kindischer Verstimmung empfing ihn oben an der Treppe sein Weib. Sie hatte sich vor dem Sturm gefürchtet und zürnte dem Mann, der sie allein gelassen hatte. Knechte waren ausgeschickt worden, den Herrn zu suchen, und es war der Keifenden leicht abzuspüren, daß sie das mehr aus Zorn als aus Angst getan hatte.

Aber ob ihm das Gebaren der unerziehbaren Frau wieder einmal härteste Prüfung war, der Mann, der aus einer so hohen Stunde herkam, zwang die Kälte, die in ihm hochsteigen wollte, hinunter. In seiner Seele war ein Schreien, ein Glauben: Es soll alles gut werden von heute an!

Er war wie einer, der sich aus Ratlosigkeit, aus Verzweiflung, aus Sehnsucht nach Unerreichbarem einen Rausch, den Rausch des Vergessens und der Betäubung, der Täuschung antrinkt.

Zu einem Fest wollte er den Abend machen. Aber die Erinnerung an jeden erzwungenen Freudentrank schmeckt bitter wie Galle.

Lang glänzten die Lichter aus dem Zimmer der Gutsherrschaft in jener Nacht. So lang, bis der Sturm winselnd einschlief und eine große, tiefe Stille über die Welt sank.

Thomas Auerstein lag wachend im Bett und lauschte in die Nacht. Er wartete auf die Knechte, die noch nicht zurück waren. Er fühlte keine Angst um sie. Zu genau wußte er, 42 daß sie ihn nicht mit Schmerzen suchten, sondern an der Waldecke bei Spiel und Trunk in der üblen Schenke saßen und sich über die Herrin, vielleicht auch über den Herrn, lustig machten.

Er hörte keinen Laut außer dem leisen Atem des schlafenden Weibes neben sich. So tief und schwer lastete die Stille, daß es ihn vom Lager und ans Fenster trieb. Er tat es auf, um in den Hof zu sehen. Da quoll lautlos eine Wolke Schnees herein. Des ersten, längst erwarteten Schnees in diesem Jahr, der, weich wie Watte, alles einhüllte und jeden Schall verschlang.

Vom Lager der Frau her klang verschlafen die Frage: »Was tust du am Fenster, worauf wartest du?«

Dem Horchenden kam's auf die Lippen, er wußte nicht wie und warum: »Auf etwas Neues, Schönes möchte ich warten.«

Sie schlief schon wieder, als der Mann sich niederlegte und ihr vom ersten Schnee erzählen wollte, und sie hörte auch nicht das Stampfen und Poltern der heimkehrenden Knechte, nicht den gedämpften und doch aufgeregten Lärm, der bald darauf den Hof erfüllte und der Thomas Auerstein in die Kleider schlüpfen und hinuntergehen hieß. Unter dem vorspringenden Dach am neuen Pferdestall standen die Männer, und der schwache Lichtkreis einer Laterne beleuchtete ihre abenteuerlichen, in Schnee gehüllten Gestalten. Sie zeigten einander etwas, oder stritten um etwas, und die harten Laute aus ihren Kehlen klangen wie nach Streit.

Der Schnee dämpfte seinen Schritt, und als der Herr unter sie trat, fuhren sie erschrocken auseinander. Einer aber, 43 Jonas, der Rothaarige, der auf einem Auge blind war, hielt etwas in den Armen, und dieses Etwas rührte sich und fing zu winseln an. Thomas Auerstein glaubte erst, es sei ein junger Hund, den sie irgendwo gefunden oder gestohlen hätten. Aber es war ein Kind.

Jetzt halte an mit deinen Erinnerungen, Forstmeister! Gehe über diesen Augenblick, als du das Köpfchen eines Kindes in einem schmutzigen Kissen erkanntest, nicht flüchtig hinweg! Mach dir dein Erschrecken, deine Verwunderung, deine Verblüffung noch einmal klar; mach dir klar, wie du instinkthaft den Kopf drehtest nach einem weiblichen Wesen, das dem Knecht sein Bündel abnehmen könnte, und wie du die flachshaarige Masa, die Küchenmagd, herzuwinktest, die plötzlich im Hintergrund auftauchte.

Du wundertest dich nicht, du schaltest nicht, daß das Mädchen so mitten in der Nacht unter die Männer trat, du warst wie überrumpelt von Dingen, die du noch gar nicht im Zusammenhang überschauen und dir erklären konntest; du tatest, was du tatest, und redetest, was du redetest, aus den seltsamen, für dich nicht durchsichtigen Umständen heraus, und ahntest nicht, daß nachher jedes deiner Worte und all dein Tun vom eigenen Weib umgeschmiedet werden könnte zu einer furchtbaren Kette von Häßlichkeiten, in der kein Glied fehlte oder versagte.

Im Schnee, nicht weit vom Gutshaus, hatten die Knechte das Bündel gefunden. Ein Mädchen war das Kind. Später, als die trübe Flut, die in den nächsten Tagen und Wochen sein Leben wie mit Schlamm überzog, sich etwas verlaufen 44 hatte, nannte Thomas Auerstein den Findling »Eva«. Weil Eva ihm wie ein Name vorkam, der unsichtbar neben jedem Kissen geschrieben stehe, darauf eines Mädchens Kopf liege.

Der Mann wußte später nie mehr recht, wie die Nacht zu Ende ging; ob er Schlaf suchte und fand oder nicht. Nur das wußte er, daß er ein paarmal dachte, ob das Findelkindlein in der Mägdekammer das Neue, das Schöne sein könne, das der Sturmtag ohne Worte versprochen hatte?

Er wußte, daß er wie ein märchengläubiges Kind sich eine Geschichte aussann, darin zwei winzige Händlein den eisernen Panzer der Selbstsucht, der Lieblosigkeit von einem Frauenherzen klopften.

Und er wußte, daß er an diese selbsterfundene Geschichte gar nicht glaubte, sondern immer nur sich vorlog, er glaube daran. Er wußte, daß er die hohe Stimmung der Stunde im Walde längst entwichen fühlte, als er sich immer noch daran klammern wollte.

Je mehr es gegen den Morgen ging, je nüchterner wurde alles Licht über den Dingen. Aber wie ein Verzweifelter wehrte er sich dagegen, wieder im alten Elend zu versinken.

Aus diesem erzwungenen Aufschwung heraus mochte er am kommenden Tag anders gewesen sein als sonst. Er mochte eine Gehobenheit zur Schau getragen haben, die etwas Fiebriges, Krankes, Übertriebenes an sich hatte, wie die Leistung eines schlechten Schauspielers.

Die tatsächlichen Geschehnisse jenes Morgens lagen wie ein wirrer Knäuel zusammengeballt in der Erinnerung des 45 Mannes. Wenn er zurückdachte, suchte er nur immer nach einem Schlüssel, nach einer Erklärung für das Unerklärliche, nach einem Sinn in dem Sinnlosen, das kam. Ein Gerücht stand auf – und das eigene Weib schleuderte es sofort dem erstarrenden Mann ins Gesicht –, daß der Findling dieser Nacht Thomas Auersteins Kind, und die ganze Aussetzungsgeschichte von ihm in Szene gesetzt und durchdacht sei.

So – das ist kurz die Sache.

Forstmeister Auerstein, es sind Jahre darüber hingegangen! Du sitzest jetzt als einsamer Mann am blauen Ried im Meßberger Wald. Der Gutshof, in dem dir die Schmach geschah, liegt in weiter Ferne, und die Erde deckt das junge Weib, das dir deine Liebe, dein Glück, deine Ehre zerpflückte und zerriß mit den Händen eines verzogenen Kindes. Nur dein Hund schnuppert neben dir im Heidekraut, die Sonne spiegelt sich in dem moorigen Tümpel zu deiner Seite, diese Sonne, die schon so viel Menschenleid, so viel Menschenschmach gesehen hat – warum also brennt dir in dieser Stunde noch die Scham im Gesicht?

Nach einem Rattenkönig von Lügen, von Gemeinheiten, die aus einem unbekannten Abgrund emporquollen, nach Szenen, an die der Mann jetzt mit seinen scheuesten Gedanken nicht mehr rühren mochte, kehrte Linda Auerstein, geborene Leintal, zu ihrem Vater, zu ihren Schwestern zurück. – –

Sie wollten sie erst nicht aufnehmen. Sie glaubten an den Mann und führten seine Sache gegen das vor übler Leidenschaft blinde Weib. 46

Aber als er sich, gelähmt von dem Unglaublichen, so gar nicht rechtfertigte, als er sich dumpf und gleichgültig behandeln ließ wie ein Schuldiger, da lähmte dieses Gebahren den Kampf jener Wohlmeinenden, und die »Kleine« blieb noch einmal Siegerin.

Bis dann der Starke über sie kam, der sie und ihr verwildertes Herz zerbrach.

Sie wollte den Gatten an ihr Bett rufen lassen. Ein Bote kam auf schaumbedecktem Pferd. In der Abenddämmerung war's, und hinten überm schwarzen Wald glühte dann und wann ein flammendes Wetterleuchten auf, ein Wintergewitter, das nie Gutes bringt.

Thomas Auerstein starrte dem Mann ins Gesicht, als hätte er ihn nicht verstanden. Dann lachte er laut auf. »Sie stirbt? Sie ist vielleicht schon tot? Nun, ich bin auch gestorben; ich bin längst tot, sag' ihr das!«

Hat er dem Boten diese Worte ins Gesicht gerufen? waren es nur Schreie seines Herzens, die nicht laut wurden? Er wußte es heute nicht mehr. Er wußte nur, daß er nicht hinüberritt, daß er in den Forst hinausging und die ganze Nacht draußen war.

Ach, diese Nacht! Seine Füße irrten auf hundert Wegen und seine Seele auf tausend! Heute war ihm, als hätte er in jener Nacht die Kraft von vielen Jahren verbraucht, als könne sich das, was man Zeit heißt, zusammenballen zu einem wirren, harten Knäuel, der nicht Anfang und nicht Ende hat, so daß Stunden wie Jahrhunderte und Jahrhunderte wie Stunden aussehen. 47

Als der Morgen aufzog und der Mann nicht weit von der Schenke aus dem Wald auf die Straße trat, war ihm zumut, als hätte er ferne Welten durchstreift und Länder und Meere zwischen sich und die Heimat und sein vergangenes Leben gebracht.

Wie ein Fremdling kam er sich vor, wie ein Namenloser, den keiner kennt, von dem kein Band zum anderen führt.

Im Lauf des Tages kam Botschaft, daß sie gestorben sei. Eine der Schwestern schrieb, ein Herzkrampf habe das junge Leben geendet.

Thomas Auerstein las die Worte, und sie trafen ihn nicht härter, als wenn sie gelautet hätten: es fiel heute nacht ein Stern.

Er ging nicht hinter ihrem Sarg; er schickte keine Botschaft. »Laß die Toten ihre Toten begraben,« zog es ihm durch den Sinn; aber er fühlte sich wie von einer anderen Welt, die mit der Verwirrung dieses Planeten nichts mehr zu tun hat.

Wochenlang war er in dieser Entrücktheit. Oder waren es Monate? Ein Sommertag stieg auf, da sah er den Findling auf den Armen einer Magd, die über den Hof ging.

Aufrecht saß das Kind, und es hielt eine rote Rose im Händlein. Die Lieblichkeit des Bildes mußte ihm in die Seele gegangen sein. Erhielt die Magd an und fragte, wie die Kleine gedeihe. In diesem Augenblick waren alle Zusammenhänge wieder da, die Lähmung wich von ihm, er wachte auf.

Und es war, als seien unter der Decke seiner langen Dumpfheit Kräfte in ihm zusammengeströmt wie heimliche Rinnsale, die einen Bach geben. 48

Das Verleumderische und Gemeine, das sich an ihn herangewagt hatte, trat er rasch genug unter die Füße. Er nahm das lachende Kind mit den großen dunklen Augen der Magd vom Arm und trug es über den Hof, ohne Scheu und mit der ganzen stolzen Sicherheit seines reinen Gewissens. Da war der Bann gebrochen. Wenn nicht für die, deren niedrige Seelen gerne in der Tiefe herumwühlten, so doch für ihn selbst. Von jenem Tage an sorgte er für das Kind als ein Vater. Sein Stolz verbot ihm, es in irgendein Asyl zu geben.

Er lernte es lieben! Er sah es aufwachen aus der geheimnisvollen Dumpfheit oder Gebundenheit, die über kleinen Kindern liegt. Er sah in die dunklen Augen nach und nach ein Etwas kommen, das ihn anzog wie ein inhaltschweres Rätsel. Eine Seele glaubte er erwachen zu sehen, und damit stand auf einmal seine Verantwortung vor ihm.

Er hielt Umschau nach einer Pflegerin für das Kind, denn es war ihm klar, daß er es nicht den lässigen Mägden lassen könne, die ein Spielzeug in ihm sahen, ein drolliges Tierlein.

Er fand lange keine. Die frechen Gerüchte wachten noch einmal auf und erschwerten Suchen und Finden.

Aber er ließ nicht locker und gab nicht nach. Da tauchte Tabea auf. Er ahnte, daß die älteste seiner Schwägerinnen die Hand im Spiele habe, und freute sich noch einmal an der vornehmen Treue des alten Mädchens, das ihm helfen wollte. Tabea trug männliche Haartracht und männliches Wesen zur Schau. Aber zu dem Kinde war sie mütterlich, wenn auch in einer etwas kurzen Art. Sie nahm bald schon die Zügel des 49 Hauswesens in die Hand; aber man spürte durch, daß es weniger aus drängender Tüchtigkeit als aus einer leisen, nicht bösartigen Herrschsucht heraus geschah, wie sie oft denen eigen ist, die nach langer Dienstbarkeit ein wenig Luft um sich fühlen. Das frühverwaiste, mittellose Mädchen genoß es auf ihre Art, auf dem reichen Gutshof die oberste Weiblichkeit zu spielen und nach langen Jahren des Herumgestoßenseins eine bleibende Statt gefunden zu haben.

So gingen Jahre hin, und Thomas Auerstein meinte oft, seine Seele sei wieder im Gleichgewicht. Aber eines Tages und dann wieder und wieder pochte eine merkwürdige Angst an sein Herz, das heraufwachsende Kind sei unter den vielen Dienstleuten nicht am rechten Ort. Und zu gleicher Zeit war es wieder da, jenes Gefühl des Abstandes, des innerlichen Geschiedenseins von den Leuten fremden Blutes, das ihm sein Herrsein so drückend erschwerte, so merkwürdig in die Nähe des Unrechts rückte.

Da machte er endlich Schluß und trat in den Dienst des Reiches. Es war kein leichtes und noch weniger ein leichtsinniges Aufgeben der Heimat. Gehen doch Ketten von der eigenen Scholle zu eines echten Mannes Herzen. Aber bei ihm war's wie Notwehr, und die trägt ihre Rechtfertigung in sich selbst.

Als Thomas Auerstein sich nach Meßberg meldete, wußte er, daß Gebeine seiner Ahnen in der Gegend moderten. Ganz anders als die, die nie in der Ferne, nie unter fremdem Blut gewesen, wertete er diese Tatsache. Von einem Stelzfuß, einem alten Haudegen hatte ihm in seinen 50 Knabenjahren schon der Vater erzählt, von einem Bastel Auerstein, der tausend Taten und Untaten in der weiten Welt getan und dann in den letzten Jahren seines stillgewordenen Lebens sein Wesen in der Meßberger Gegend getrieben hatte und auch in der Nähe gestorben und begraben war.

Von der Sippe seiner Mutter aber, des Pfarrtöchterleins, das tausend Tugenden gehabt hatte, schläft einer in der alten Kirche von Meßberg. Mächtig ergriff es den Mann, als er zum erstenmal an einem stillen Abend in das leere Gotteshaus trat, zu dem ihm ein halber Kretin den Schlüssel verschaffte.

Das letzte Sonnenlicht spielte durch den Raum, und jener uralte Geruch nach Weihrauch, Frömmigkeit und gestorbenen Seelen, der gute Kirchen füllt, schlug ihm entgegen und erlöste ihn für eine Stunde von der Unruhe dieser Erde.

So trat er vor den Stein, auf dem geschrieben steht: »Hier ruht in Gott der letzte eines Geschlechts: Anselm Veit von Siegeborn. Ihre Werke folgen ihnen nach.«

Da sah Thomas Auerstein wieder den Stammbaum vor sich, über dem sein Vater gerne brütete und der ihm als Knabe etwas so Wunderbares war mit all den in Kreise eingezeichneten Namen, die er nach und nach auswendig lernte, er wußte nicht wie.

Dieser Anselm Veit von Siegeborn war auch in solch einen Kreis gebannt, und nun stand ein Spätgeborener vor seiner Gruft, und auf dem roten Sandstein der Platte glänzte die Abendsonne.

Als der Forstmeister die Daten und Schriftzeichen las, wurde ihm so warm und heimelig, als hätte ihm seine Sippe 51 den Willkomm geboten; nur daß ihm statt Brot und Salz ein letztes Sonnenleuchten gereicht ward. – – –

Forstmeister, der Abend sinkt! Dein Hündlein winselt vor Hunger. Und auch dir knurrt der Magen. Warum denkst du immer und immer wieder diese alten Dinge durch? Warum machst du keinen Strich unter das, was vergangen ist, heiratest wieder, hast Kinder, die deines Blutes sind, und lebst ein neues Leben?

Ja warum? Warum? Vielleicht weil dein schweres, reingehaltenes Blut nicht von vielen Wegen weiß und nur ein einziges Müssen kennt. Warum gibt's Pflanzen, die nur einmal blühen? Du bist wie sie, und all dein Fragen nützt dir nichts.

Du wirst deinem Beruf leben. Er ist schön, wenn auch nicht so reich und schön, wie der Knabe in den nordischen Wäldern es sich träumte. Dort war die Weite und die Fülle. Hier ist die Ordnung und das System. Dort warst du frei und obenauf, hier bist du eingefügt, wie ein Glied in einen Organismus.

Und außer deinem Beruf hast du das Kind, die Eva.

Wie stehst du denn zu ihr? Sie ist die Kleine nicht mehr, die du heimlich mit jener Zärtlichkeit umhegtest, die männliche Männer für kleine Kinder haben. Sie entwächst dir. Wo wächst sie hin? Nie fiel ein Licht auf ihre Herkunft. Wie willst du auf den Weg schließen, den sie nimmt? Es gärt ein fremdes Leben in ihr, das dich oft erschreckt. Und dennoch wagst du nie, es mit Gewalt zu dämpfen. Du hast vor allem, was Wachstum heißt und eigene Art, die hohe Achtung dessen, 52 der losgekommen ist von dumpfem Schulmeistergeist. Nicht umsonst stehst du Jahr um Jahr inmitten der Natur und hältst dich fern von der gespreizten Menschenklugheit, die alles macht und gar nichts werden läßt.

Du fühlst, wie dieses fremde Kind, dieses Mädchen ohne Herkunft deinem eigenen Leben doch nur angeklebt ist, so eng du sie an dich kettest. Wenn sie Vater sagt, hörst du einen Unterton mitschwingen, der dir wie Lüge klingt. Wenn du sie erziehen willst, ist dir wie einem, der im Dunkeln tastet und nach den falschen Dingen greift.

Aber über all dieses hinweg weißt du, daß sie dir lieb ist im tiefsten Herzensgrund. Lieb, wie etwas Schönes, Freudiges, das aus deiner Dunkelheit herausgewachsen ist und Licht um sich verbreitet hat.

Oft war dir schon, als müßtest du ihr das Geheimnis ihrer Herkunft sagen. Als sei ihr dies, so jung sie auch noch sei, zum Besten. Ihre fragenden, prüfenden Augen schienen dir manchmal in die Tiefe zu starren auf diesen einen fernen Punkt. Dann kam dir der Gedanke, die Leute in Biala hätten vielleicht dem Kinde von der Sache gesprochen, und es hafte von daher unbewußt und vergessen etwas in der jungen Seele, das ins helle Bewußtsein strebe. Aber Tabea, mit der du darüber sprachst, bestritt es und beschwor dich, der Kleinen zu schonen. Die Kurzhaarige, die sonst so hart und männlich tat, war weich und angstvoll, als sie dich zu schweigen bat, und du spürtest mit leiser Freude, wie sie an dem Mädchen hängt, um das sie sich oft nur wenig, vielleicht allzuwenig kümmert. 53

Ein andermal begriffst du selbst nicht mehr, daß und warum du hattest sprechen wollen. Da erschien dir's grausam, in des Kindes Welt, deren fast grelle Buntheit du oft ahntest, den Schatten hineinzuwerfen, der alles überdunkeln würde.

So blieb es, wie es war, und wenn du nach solchen Stunden des Umherirrens in der Vergangenheit durch den stillen Wald dem Forsthaus zuwandertest, erschien dir dein Leben wie ein Strom, der einmal starkes Gefäll und große Kraft gehabt hatte, nun aber in flachem Bett langsam dahinzieht und vielleicht nach und nach versanden wird, ohne das Meer zu erreichen.

Gut war's, daß die Meßberger des Forstmeisters Wanderstecken und nicht seine Seele sahen. Sonst wäre vielleicht manches Wildererblut wärmer geworden, als nötig ist. Denn je müder der Hirte sich zeigt, je lebendiger wird die Herde.

*


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