Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die weite Schleife des Flusses, die sich um den Riesenkopf wand, war wie eine graue Nebelschlange. Über das stille Land zogen die Rabenscharen; das Rauschen ihrer Schwingen drang aus der Höhe und dann und wann ein Krächzen, das 130 vielleicht ein Kommando war. An den Hecken raschelte das dürre Laub, und die Pfaffenhütchen leuchteten in stolzer Pracht. Die letzten Pilze moderten an der feuchten Erde, und wenn die Sonne die schweren, grauen Nebel niederzwang, glänzte die müde Welt auf, als zucke ihr neue Hoffnung durchs Herz.

Aber der kurze Schein verblaßte mit dem Nahen des frühen Abends, und wieder lagerte ringsum die sterbensbereite Stille.

In Meßberg war eingeschafft, und das weite, hügelige Feld leer. Da und dort ging noch ein Gespann; die Schollen, unter denen die Samenkörner schlummerten, glänzten dunkel und waren vom silbrigen Gewebe der Spinnen schimmernd überzogen.

Auf der weiten, nassen Heide am Riesenhals ragte grau und glanzlos der uralte Stein. Die strahlenden Tage seiner hohen Gottheit waren dahin. Das müde, bleiche Leuchten, das dann und wann noch vom Himmel floß, war nur ein Abschiednehmen, kein Feiern mehr. Zwei winzige Vögel zirpten, knicksten und wippten mit den Schwänzchen, dort, wo einst Opferbrand und ‑gabe gelegen hatten.

Aber auch die beiden Zaunkönige zogen jetzt schimpfend vom Stein ab, denn auf dem glatten, nassen, vom Heidekraut fast überwucherten Weg kamen zwei von jenen großen Geschöpfen daher, die nach ihren Erfahrungen unter allen Kreaturen am meisten zu fürchten sind.

Hintereinander schritten sie. Voraus, mit emsigem Zeigen und Reden, die barhäuptige Eva, der die feuchten 131 Haare ums Gesicht hingen, und ihr nach ein ebenfalls barhäuptiger junger, schweigender Mann von hoher Gestalt, in dessen dunkelblondem, kurzgeschnittenem Haar der Nebel in kleinen, nassen Perlen hing.

Die Züge des Fremdlings waren klar und klug; um den noch bartlosen Mund lief ein Ausdruck von leiser Härte, der aber durch den offenen Blick der dunkelgrauen Augen gemildert war. Die breite Stirn ließ ahnen, daß Gedanken dahinter arbeiteten und ein zielbewußter Wille. Die starke Nase trug eine leichte weiße Narbe, wie von einem Schnitt oder Hieb; dichte, dunkle Brauen beschatteten in klarem Bogen die Augen.

Einen grauen, ziemlich vertragenen Anzug und schwarze, glänzende Ledergamaschen trug der Mann oder der Jüngling; seine Halsbinde war auf eine besondere, eigensinnige Art gebunden, in der Rechten trug er einen dünnen, offenbar selbstgeschnittenen Stock, mit dem er dann und wann einen Hieb in die Luft oder nach dem dürren Stengel einer wilden Möhre, einer verblühten Wegwarte tat.

Einmal pfiff er kurz, wie wenn man einem Hund pfeift. »Kleine, wohin führst du mich? Ich habe nicht so viel Zeit übrig!«

Eva stand und schaute zurück. Ihre Augen blickten bittend. »Wir sind gleich da – dort ist der Stein.« Und sie lief wieder voraus in heißem Eifer.

Jetzt legte sie dem Opferstein die kleine Hand an die Flanke. »Hier,« sagte sie, gegen den Heranschreitenden blickend, »hier hat Hanne die blaue Schlange gesehen.« 132

Der Fremdling besah sich den Stein. Erst ziemlich gleichgültig, dann aufmerksam und genau. Seine scharfen Augen entdeckten die Spuren der fast verschwundenen uralten Schrift und all der Zeichen, die selten ein Wanderer erblickte, und die unter dem Nagen der Flechten langsam zerfielen und verschwanden.

Er sagte nichts über das, was er sah. Es mochte ihm vor dem Kind nicht der Mühe wert sein. Was würde diese Kleine aus dem Dorfe, die ihm von ungefähr begegnet war, und die er in Wanderlaune angesprochen hatte, von alten Inschriften wissen wollen? Die blaue Schlange, die wohl eine Blindschleiche sein mochte, und von der sie ihm sofort erzählt hatte, war ihr wichtiger. Um ihretwillen war sie allein auf die nasse einsame Heide hinausgelaufen. Ein schönes Leben hatten diese Kinder, die man laufen ließ, wohin sie mochten!

Er nickte Eva zu. Etwas herablassend, etwas väterlich. Seine Jugend stand dabei auf seinem sonngebräunten Gesicht. »Das glaube ich gerne, daß hier eine blaue Schlange haust. Schade, daß Hanne nicht da ist, um uns ihr Versteck zu zeigen. Ist Hanne deine Freundin? Läuft sie auch allein in die Heide hinaus?«

Mit einem oft geübten Schwung hatte sich Eva auf den Stein gesetzt. Jetzt rückte sie zur Seite, um dem Fremden Platz zu machen. Einträchtig, wie ein ungleiches Geschwisterpaar, saßen sie oben und schauten über die von Tauperlen behängte Heide hin, auf der leichte Nebel vom Flusse her landeinwärts wanderten. 133

Eva schüttelte den Kopf. Etwas wie Eifersucht lag darin, oder wie Hochmut, der Hanne nicht die gleichen Rechte gönnte.

»Sie darf nicht. Ihre Großmutter läßt sie ja nicht. Seit sie krank war, darf sie nichts mehr.«

Der Fremdling blickte von der Seite auf seine Begleiterin. Es war, als schätze er ab, wohin dieses, unter der zerzausten Hülle offenbar doch nicht verwahrloste Kind wohl gehören könne.

»Aber du darfst?« sagte er dann vorsichtig tastend, »dich läßt man überall hinlaufen?«

Vielleicht spürte Eva etwas Tadelndes aus den Worten. Wie Trotz stieg es in ihr empor. Dann lachte sie. »Vater ist im Wald, und Tabea meint, ich sei nach der Schule im Pfarrhaus.«

»Ja, warum bist du denn nicht im Pfarrhaus?«

»Er ist doch immer noch nicht gekommen.«

»Wer ist nicht gekommen?«

»Der Heinz von der Schule – ihr Kleiner. Sie warten immer auf ihn, jeden Tag, und er kommt nicht.«

Mit einer übermütigen Gebärde schlug der Fremdling auf seine Ledergamaschen, daß es klatschte. »Warum geht der Kerl nicht her?« rief er. »Vielleicht hat er ein schlechtes Zeugnis und mag es nicht zeigen.«

Eva schaute erschrocken zu ihm auf. Dann schüttelte sie den Kopf. Es war eine so merkwürdig altkluge, eine so tadelnde oder mißbilligende Gebärde, daß der junge Wanderer neben ihr plötzlich hell auflachte. 134

Da reckte sie sich auf. Aus ihren dunklen Augen blitzte die Entrüstung. »Was ist da zu lachen! Der Heinz hat kein schlechtes Zeugnis. Klug ist der, vielleicht klüger als du!« Sie achtete in ihrem Zorn nicht auf die Anrede, die ihr wie etwas Gewohntes entschlüpfte.

In dem Zurechtgewiesenen spukte seine Jugend. Mit dem Stöckchen fuchtelte er in der Luft. »Weißt du, das glaube ich einfach nicht, daß der Heinz klüger ist als ich. Pfarrersbuben sind nie klug. Schlingel sind sie. Bei mir daheim heißt ein Sprichwort: Pfarrers Kinder und Müllers Vieh geraten selten oder nie. Bei diesem Heinz ist's sicher auch nicht anders.«

Das bräunliche Gesicht des Kindes zuckte seltsam. Man sah ihr höchste Erregung an. Ihre derben Schuhe klopften gegen den Stein. Ein paarmal öffnete und schloß sich ihr Mund, ehe sie eine Gegenrede fand. Dann brach es fast stammelnd aus ihr heraus: »Du sollst nicht solche Sachen sagen. Wenn du doch den Heinz gar nicht kennst.«

»Kennst du ihn denn?« fragte rasch der Fremdling.

Sie schüttelte ihre Haare zurück. Alle die Worte, die Frau Winter vor wenigen Tagen zu ihr gesprochen, kamen jetzt zu ihr her, als seien es ihre eigenen Gedanken. Ihre dunklen Augen schauten über die Heide hin. Sie log nicht. Sie erzählte nur. »Ich kenne ihn, ja wohl. Als er ganz klein war, hat er einmal auf den Mond gehen wollen. Und weil man das nur kann, wenn man gestorben ist, hat er fürchterlich geschrien. Mit dem Justus, das ist sein Bruder, hat er ausgemacht, daß sie nicht sterben wollten. Der Herr Pfarrer hat sie darum die unsterblichen Brüder genannt. Aber jetzt wissen sie, daß man 135 sterben muß.« Sie stockte ein wenig. Ihre Augen, die nicht von der grauen Ferne wichen, suchten etwas, dann sprach sie langsam, unsicher weiter: »Sie wissen viel. Sie sind sehr klug. Die Nähe kommt ihnen immer grau vor und die Ferne golden. Lokomotivheizer haben sie werden wollen, weil man sich da nicht waschen muß und immer Eisenbahn fahren darf. Und auch Weltreisende. Aber da muß man viel Geld haben. Der Heinz kann sich alles ausdenken. Daß ich da bin, weiß er auch, und er bringt mir keine Puppe mit, weil ich mir da nichts draus mache.«

Immer langsamer, nachdenklicher hatte sie gesprochen. Plötzlich wandte sie jäh das Gesicht dem Fremdling zu und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Siehst du was?« klang es fast angstvoll.

»Was soll ich sehen?« fragte er überrascht.

Sie näherte ihm ihr Gesicht mit den starrenden Augen: »Siehst du nichts?«

Wieder fragte er, und diesmal beunruhigt: »Was soll ich denn sehen?«

Sie atmete tief auf. »Also du siehst kein Teufelein in meinen Augen? – Gewiß nicht?«

Wie entspannt lachte der Wanderer. »Ich sehe keines. Es muß weggeschlüpft sein. Hast du eines?«

Sie nickte schwer mit dem Kopf. »Ja, und wer es sieht, der wird hintersinnig. Ich bin froh, daß du es nicht gesehen hast. Wenn es nur der Heinz auch nicht sieht. Weißt du, was das ist: hintersinnig?«

Über des Mannes Gesicht glitt etwas Dunkles, das für 136 einen Augenblick die helle Jugend zudeckte. »Denken kann ich mir's,« sagte er und blickte auf das nasse Heidekraut, »es ist, wie wenn ein schwerer Stein sich einem aufs Herz legen wollte, immer fester, immer drückender, bis es zerspringen muß.«

Sie schwiegen beide. Wie leiser Tropfenfall klang es um sie her, wie Knistern an der feuchten Erde.

»Seit wann hast du denn das Teufelein?« fragte jetzt der Fremde, ohne aufzusehen.

Sie zog ihr Röcklein über den Knien glatt. Ruhig, sachlich klang ihre Stimme. »Das weiß ich nicht. Tabea weiß es vielleicht; aber ich frag sie nicht. Sie will nicht haben, daß ich die Fev besuche. Sie sagt, die Fev sei gar keine Hexe, nur schmutzig. Aber ich weiß ganz genau, daß sie doch eine Hexe ist. Und ich könnte auch hexen, wenn Tabea beim Beten nichts gerochen hätte.«

Sorglos sprach sie. Sie sah das verwunderte, ein wenig hilflose Gesicht ihres Zuhörers nicht. Nach dem fernen Fluß deutete sie jetzt. »Dort unter der Brücke hätte ich die Blumen durchschwimmen lassen. Tabea ist schuldig.«

»Wer ist Tabea?« fragte der Fremdling, der sich an etwas halten wollte in dem undurchdringlichen Gewirr dieser Reden.

Die Kleine sah ihm flüchtig ins Gesicht: »Nun, das ist doch Tabea, die über mich befehlen darf.«

»Und Vater und Mutter?« –

Sie baumelte mit den Füßen. »Vater ist immer im Wald, weil er Forstmeister ist. Eine Mutter habe ich nicht; die ist schon lange gestorben.« 137

Wieder war es eine Zeitlang ganz still, dann sagte der Wanderer: »So passen wir gut zusammen; meine Mutter ist auch schon lange gestorben.«

Ein Rabenzug strich über ihre Köpfe hin und in den Nebel hinein; sie sahen ihm beide nach und redeten nicht.

»Wer darf über dich befehlen?« fragte dann die Kleine.

Sein schlanker, kräftiger Körper straffte sich. Mit dem Stöckchen klopfte er die Gamaschen. »Bald bin ich mein eigener Herr,« sagte er stolzen Blicks und mehr zu sich, als zu dem Kind, »dann geht es nach Ceylon. Weißt du, wo die Insel Ceylon liegt?« Er fragte es und dachte dabei, daß es töricht sei, diese Kleine das zu fragen.

Sie nickte mit dem Kopf. Langsam hob sie die braune Hand und deutete nach dem Horizont, an dem über die nasse nebelige Erde hinweg jetzt ein greller, goldener Schimmer aufzuleuchten begann von der unsichtbar niedergehenden Sonne.

Er lachte nicht und sagte nichts. Seine Augen hingen an dem fernen, unerwarteten Glanz, der auf einmal eine goldene Lohe über die Heide goß. Wie ein Schauer ging es ihm durchs Herz, er wußte nicht, warum.

Langsam glitt er vom Stein. »Ich muß jetzt weiter. Sie warten daheim schon lange auf mich. Vielleicht kommt der Kleine vom Pfarrhaus jetzt doch auch bald. Aber mitbringen wird er dir nichts, das weiß ich sicher.«

Auch Eva glitt von ihrem Sitz. Es zuckte um ihren Mund. Hochmütig warf sie den Kopf zurück. »Mir ist's einerlei. Ich mache mir nichts aus dem Heinz. Und überhaupt: wenn 138 ich's dem Semme befehle, der kann mir gut ein hölzernes Schiff machen.«

»Ist Semme dein Freund?« fragte der Fremdling.

Sie lachte schrill auf. »Der ist doch häßlich. Wie ein Vogel sieht er aus.«

»Kann man dein Freund nicht sein, wenn man häßlich ist?«

Sie schüttelte stumm den Kopf und schaute ins Weite.

Leise fragte der Wanderer: »Bin ich auch häßlich?«

Sie blickte ihm erstaunt ins Gesicht. Da wurde seine Stirne rot und die schmale Narbe auf der Nase sichtbarer. Und plötzlich wandte er unter ihrem klaren Blick die Augen weg und lachte auf, wie richtige Jungen lachen, wenn sie eine quälende Verlegenheit zu verbergen haben.

»Komm,« sagte er, »es wird bald dunkel; man wird dich schelten, wenn du so lange fortbleibst.«

Sie schritten den Weg zurück, der Landstraße zu, diesmal der Fremdling voraus. Über dem Dorfe war der kurze Abendschein wieder verblaßt. Grau, wie unter dünnen Schleiern, ragten die Giebel. Der Nebel hängte sich stärker in die Haare der Schreitenden. Dunkel glänzten die nassen Radspuren auf der ausgefahrenen Straße, auf die sie nun hinaustraten. Schwarzfleckige Blätter raschelten von den großen Birnbäumen zur Erde und legten sich zwischen ihren rotflammenden Geschwistern zum Sterben zurecht. Seite an Seite schritten die zwei, die sich vor einer Stunde noch fremd gewesen waren.

Sie kamen dem Dorf nahe. Mit einem Ruck blieb Eva stehen. Ihre Augen brannten, als sie den Kopf zu dem 139 Wanderer hob. Leidenschaftlich klang ihre verhaltene Stimme. »Warum gehst du so weit fort? Warum geht ihr alle so weit fort? Pfarrers Justus und Heinz und du auch? Warum muß ich immer allein dableiben?«

Überrascht schaute der Mann auf sie nieder. »Du bist doch nicht allein. Es sind doch Kinder genug im Dorf.«

Sie schlug in die Luft mit einer Gebärde des Unwillens. »Ach die – – ich mag sie nicht! Nur die Hanne mag ich. Aber die fürchte ich. Die sieht immer Sachen. Bleib' du bei mir!«

Wie harter Ernst, wie Leid fast sprang es dem Manne aus des Kindes Flehen entgegen. Er blieb stehen. »Über den Winter bleib ich da.«

»Ist er lang, der Winter?« klang es dringlich.

»Das weiß ich noch nicht. Er kann lang sein, er kann kurz sein.«

»Laß ihn doch lang sein, daß du lange da bist.«

»Ja, wo meinst du denn, daß ich sei?« fragte er lachend.

Sie stutzte. Hilflos ging ihr Blick über sein Gesicht. »Wo ist dein Haus?«

»Das muß erst gebaut werden auf der Insel Ceylon.« Es schwang in die Antwort etwas mit, was nicht Schmerz war, eher ein heimliches stolzes Träumen in Künftiges hinein.

»In Meßberg, meine ich.«

»Da habe ich keines.«

»Dann komm mit mir heim! Wir haben ein großes Haus und viele Stuben. Du darfst in meinem Bett schlafen, dann schlafe ich auf dem Bären. Ich habe oft auf dem 140 Bären geschlafen, als ich noch so klein war« – sie machte eine deutende Bewegung, die eine unmögliche Kleinheit anzeigte – »ich schlafe gern da; viel lieber als im Bett.« Ihre Augen glänzten im Eifer und in der Begierde, zu überreden.

»Habt ihr denn einen Bären?«

»Ja. Aber leben tut er nicht mehr. Als es einmal kalt war im Winter, ist er nach Biala gekommen. Sie haben ihn totgeschossen. In meiner Stube vor meinem Bett liegt er jetzt. Früher lag er in Vaters Stube. Aber Vater fürchtet sich vor ihm und hat ihn mir geschenkt. Ich fürchte mich kein bißchen. Ich greife ihm ins Maul.« Großsprecherisch, in heißer Erregung kamen die Worte daher, und der Fremdling spürte, wie das alles nur Bemühen um ihn, nur ein heimliches Locken und Haltenwollen war.

Es zuckte ihm durch den Kopf, daß er ein Unrecht begehe und viel argloses Vertrauen täusche.

»Höre,« sagte er unvermittelt, »daß du es weißt: ich bin Pfarrers Heinz.«

Es war, als sei ein Blitz vor dem Mädchen in die Erde gefahren. Unter einer jähen Blutwelle wurde ihr Gesicht dunkel, die Augen blickleer. Ein stöhnender Laut entrang sich ihr, dann flog sie wie gehetzt den Weg zurück, in die sinkende Dämmerung hinein.

Der Heimkehrende sah ihr erst nach, dann tat er ein paar Schritte, dann rief er laut ihrer Spur nach: »Kleine!« Aber alle Pfade verliefen leer in die Ferne.

Stiller, als er sich ausgedacht, hielt er seinen Einzug daheim. Von seinem Abenteuer fiel ein Schatten über die 141 Stunde her. Er redete nicht davon. Vor dem Zubettgehen las der Vater nach alter Sitte ein Schriftwort. »Wer ärgert dieser Geringsten eines – – –«

*

Heinz Sommer genoß das Daheimsein.

Das, was jahrelang zwischen ihm und dem Vater gestanden: das Ringen um Selbstentscheidung, um den eigenen selbstgewählten Weg, dieser bald heimliche, bald offene Kampf, den der Vater gelassen und ruhig, der Sohn oft heißen Blutes und gereizt geführt hatte, er war mehr und mehr am Einschlafen und wurde von hüben und drüben vergessen, seit Heinz in ernstlicher Arbeit den Beweis führte, daß er den Willen und die Kraft hatte, ein rechtes Ziel zu erreichen.

Zum Arzt hatte ihn der Vater bestimmt, weil das Blut vieler Ahnen auf diesen Weg wies. Aber den Sohn lockte die Welt der Zahlen, der Formen und Formeln, das Geheimnis der ineinanderspielenden Kräfte, die in der Mechanik in den Dienst der Menschen gezwungen werden und die zum Dank dafür menschliches Wollen und menschliches Können in immer schwindelerregendere Höhe peitschen. Hier war er zu Hause, hier war ihm wohl, auch wenn er vorläufig nichts als Rätsel um sich getürmt sah. Er fühlte Stufen vor seinen Füßen, die zu erklettern ihm keine Mühe zu groß schien, weil er einen fernen Gipfel ahnte.

Frau Winter genoß die Waffenruhe zwischen Vater und Sohn aufs innigste. Sie, die Mittlerin, hatte früher so manchen Stoß von hüben und von drüben aufgefangen, und nun sah sie die veränderte Lage mit einer fast 142 unvorsichtigen Freude, wie ein Schiffer, der, von einer sichtbaren Klippe losgekommen, an die unsichtbaren nicht mehr denkt.

Auf ihren Wunsch hatte Heinz im Forsthaus Besuch gemacht. Sie wunderte sich seiner Bereitwilligkeit und ahnte nicht, daß etwas in dem Neffen ihrem Wunsch vorgearbeitet hatte.

Eva war nicht zu sehen gewesen. Heinz fragte nicht nach ihr. Ein Geheimnis, eine leise, nicht zu berührende Beziehung bestand zwischen ihm und dem Mädchen. Das freute ihn und ärgerte ihn.

Tante Dine sandte Botschaft ins Forsthaus, die Kleine möge doch herüberkommen. Sie kam nicht.

Frau Winter sprach Worte der Entrüstung über die Erziehung dort drüben. Heinz lachte nur. Er hielt nicht viel von Erziehung.

Mit dem Forstmeister verstand er sich merkwürdig rasch. Sie wanderten schon bald miteinander durch die stillen Waldungen, die sich jenseits des Flusses von Höhe zu Höhe schwangen und durch deren Lichtungen man hinabsah auf den von grünen Wellen umspülten Riesenkopf, auf die braun gewordene Heide und das breite Tal, in dem Meßberg lag. Auf solchen Gängen schwiegen sie viel und redeten manches. Die Jugend des einen lockte die Jugend des andern wieder hervor, und der aus der Ferne heimgestrebt hatte, verstand und billigte es, daß der andere von daheim in die Ferne strebte. Sie spürten und grüßten ineinander die Selbständigkeit, die sich nicht umbiegen lassen will, die ihren Weg ahnt und sucht, auch wo er verstellt und versperrt ist. 143

Und sie liebten beide Deutschland mit mehr als mit schönen Worten.

Einmal, als sie tief im Wald auf das feierliche Rauschen in den hohen Wipfeln lauschten, sagte der Jüngere leise: »Rauscht das nicht von allen Herrlichkeiten der Ferne?« Und lächelnd antwortete der Ältere: »Mir rauscht es: Deutschland.«

Da waren plötzlich beiden die Augen feucht.

Oder sie standen bei den Holzfällern am Maienbuckel, dem schönen, alten, steilen Schlag, dessen Tannenriesen weithin grüßten.

Wenn sie die kernigen, wortkargen Männer bei der Arbeit sahen, schien ihnen die Welt im Gleichgewicht, weil hier der Sohn bei seiner Mutter war. Diese Bäume und diese Männer, diese Erde und dieser Himmel – es floß alles zusammen zu selbstverständlicher Harmonie.

Thomas Auerstein genoß es, daß ein Mensch da war, der Augen und Ohren hatte für das, was die Meßberger nicht sahen und hörten, und Heinz Sommer empfand den Umgang mit diesem Mann, der älter war als er und doch nie väterlich wie von hoch oben her, als etwas besonders Schönes, das ihm daheim noch selten geworden war.

Aber so häufig der Pfarrerssohn im Forsthaus aus- und einging – die Kleine ließ sich nicht blicken. Wie ein scheues Tierlein, das, einmal vergrämt, kein gutes Zutrauen mehr fassen kann, hielt sie sich fern von dem Heimgekehrten, dessen Kommen sie so lange erwartet hatte. 144

Durch den Gartenzaun schaute sie manchmal hinüber. Aber die kahlen Beete lagen im nassen Schatten, die Rosenstämme waren zur Erde gebogen, die letzten Blumen vom Reif verbrüht. Auf ihrem Schulweg spähte sie heimlich nach den Fenstern am Pfarrhaus; aber wenn sie jemand erblickte, lief sie davon.

In Heinz regte sich nach und nach Reue. Es tat ihm leid, daß sich die Kleine die Sache so zu Herzen nahm, und heimlich tat es ihm auch leid, daß ihm durch die jäh zerschnittene Freundschaft mit ihr manche Unterhaltung entging. Er war noch jung genug, um an der kaum verhüllten Hingabe dieses heißen Herzens eine Freude zu haben, und durch seine Mannheit schaute noch heimlich der Knabe.

Wieder und wieder machte er jetzt den Versuch, mit dem Forstmeister von seiner kleinen Tochter zu reden. Und immer spürte er eine Befangenheit, die ihn verdroß und über sich selbst ärgerlich machte.

Klang es nicht dumm, wenn er davon redete, daß hier auf dem Lande die kleinen Mädchen viel Freiheit hätten? Warum gerade die kleinen Mädchen? Hätte er nicht sagen können: die Kinder? Ganz einfach, die Kinder! Mußte nun der Forstmeister nicht denken, diese kleinen Mädchen seien ihm irgendwie wichtig!

Aber der Forstmeister dachte sich nichts Besonderes. Er sagte nur mit halbem Lachen: »Was meine Eva anbelangt, die würde sich die Freiheit nehmen, wenn man sie ihr nicht gäbe.«

Ob er sie nicht auch öfter mit in den Wald nähme? 145

»Nein,« klang es, »sie ist im Wald zu aufgeregt. Tausend Dinge sieht sie und spricht davon. Das ist nichts für mich. Ich bin zu alt dafür.«

Sie gingen schweigend weiter. In Heinz tauchte der Gedanke auf, wie er durch seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, erst unbewußt und dunkel, dann deutlich das Gefühl gehabt hatte, daß sein Vater zu alt sei für ihn und daß deshalb immer irgendwo ein falscher Klang mitschwinge im Lied seines jungen Lebens. Es hatte ihn nie unglücklich gemacht, nur oftmals gereizt und in seinem Wesen verzerrt, weil er von zu hartem Holz war, um nachzugeben.

Aber vielleicht litt dieses scheue, dunkeläugige Mädchen? Vielleicht war sie wirklich unglücklich und wäre über einen Freund recht froh? – Etwas in ihm lachte ihn aus. ›Heinz, mach dir nichts vor! Die ist nicht von dieser Sorte!‹ Aber er blieb eigensinnig: ›Sie wird mich schon brauchen! Sie ist allein!‹

*


 << zurück weiter >>