Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An einem Morgen, als Heinz, spät, wie gewöhnlich, die Augen auftat, war eine merkwürdige, klare Helle in seinem Zimmer.

Er rieb sich die Augen und sprang mit einem Freudenschrei aus dem Bett. Er war da, der langerwartete erste Schnee, und die Welt lag in glitzernder Pracht.

Er kleidete sich an mit einer Hast, wie sie ihm aus der Schulzeit selig-unseligen Angedenkens noch geläufig war.

Im Wohnzimmer traf er köstliche Wärme und Helle, die durch all die vielen Fenster strahlte. Vater und Tante 146 hatten leuchtende Gesichter, als sei es ihr Verdienst, daß des Gastes Wunsch nun so schön über Nacht erfüllt worden war.

Neben ihrem sie weit überragenden Neffen ans Fenster tretend, machte die Tante jene alten, von der Knabenzeit her bekannten Scherze, daß nun der Sommer dem Winter in die Augen sehe und ihm seine größere »Weißheit« neide.

Ein beglückendes Gefühl von Heimeligkeit flutete in Heinz empor. Es klang in ihm aus, so daß er fast davor erschrak: Siehst du – das wirst du draußen nie finden!

Als ob ihm die Augen mit einem besondern Wasser gewaschen seien, sah er im Zimmer umher und empfand, wie sauber gedeckt der Frühstückstisch sei, wie blank das Geschirr, wie traulich die weite Stube, wie hübsch die altmodischen Gardinen, die Möbel, die Bilder, der warme Ofen. – Und er sah auch den Vater an, der lesend am Tisch saß. Lesend, immer lesend! Eine große Wärme quoll in ihm auf. Er empfand, daß dieser Mann tat, was er tun mußte. Daß dieses Zurückgezogensein auf sich selbst und eine unsichtbare, geistige Welt beim Vater kein Verknöchern war, sondern ein Sichausleben. Und so, wie er war, so mußte man ihn nehmen und lieben; so hatte ihn gewiß die Mutter geliebt. – Heinz hatte plötzlich den Wunsch und Willen, alles zu lieben an dieser Heimat.

Die Hausglocke schrillte. Tante Dine ging ins Nebenzimmer, um auf die Straße zu sehen. Lachend kam sie zurück. »Eva war unten, um uns zu sagen, daß es geschneit habe.«

Sie lachten alle. Heinz aber durchschaute, wie auch in dieser Kleinen der Freudenüberschwang eine Schranke 147 niedergerissen hatte, und zugleich sah er sie vor sich stehen und mit den dunklen Augen wortlos fragen: Ist das zum Lachen, wenn ich jeden Reichtum mit dir teilen will? –

Tante Dine schenkte den duftenden Kaffee ein und schnitt Brot auf. »Was sie nur hat, die Kleine! Sie ist wie ein Buchfink, der immer wieder in die Nähe kommt, aber sich nie greifen läßt. Daß sie sich so sehr vor dir scheuen würde, Heinz, hätte ich nie gedacht. Früher stand sie oft da, wenn sie auch nie lang zu halten war. Schade, daß du ihr nichts mitgebracht hast. Ich hätte dir von ihr schreiben sollen. Mit einem hölzernen Schiff hättest du ihr Herz gewinnen können.«

– Das hölzerne Schiff! Daß er daran nicht mehr gedacht hatte! »Wenn ich Schnitzzeug hätte, ein Schiff wollte ich schon zuweg bringen. Aber mein Messer ist mir zu schwach. Wenn du mir ein Küchenmesser leihst, Tante Dine?«

Frau Winter stellte ihre Tasse weg. Es reute sie, was sie gesagt hatte. »Nein, nein! Du kennst sie nicht. Wenn du ihr ein Schiff machst – sie geht durch Eis und Schnee an den Fluß und läßt es schwimmen bei Straubs Garten. Es schaut ja kein Mensch nach ihr.«

Heinz lachte. »Ich finde es in der Ordnung, daß das Schiff schwimmen soll. Und ihr werdet doch hier in Meßberg auch einen Schutzengel für die Kinder der Gemeinde haben? Vielleicht den, der früher Justus und mich beschirmte – –?«

Der Vater sah mit hellen Augen auf. »Ich bin zurzeit daran, alles zusammenzustellen über den Schutzengelglauben. 148 Origenes bzw. sein Biograph Redepenning, weißt du, Origenes der Kirchenvater, nicht der Neuplatoniker, der sagte einmal –«

Heinz lachte hell. »Ach Vater, ich dachte schon, du würdest auch unsern Schutzengel, den von Justus und mir, in deine Abhandlung aufnehmen. Da könnte ich dir manches erzählen, was Tante Dine und du nicht weißt. Das war ein Schutzengel, der gegen Feuer und Wasser gut war, ein ganz besonders kräftiger, und wir haben ihn oft auf die Probe gestellt, ob er aufpaßte. Aber ich glaube, die Eva braucht auch einen wachsamen; leicht zu hüten ist die nicht.«

Tante Dine hatte ein bekümmertes Gesicht. »Ja, sie tut, was sie mag. Und dabei kommt sie mir vor wie ein seltener Schmetterling, auf den jeder Narr Jagd macht, wenn er ihn erst sieht.«

Heinz runzelte die Brauen: »Die bleibt schon oben,« sagte er leis.

Sie standen vom Frühstückstisch auf. »Es ist wie Feiertag,« sagte der Vater, »man mag gar nicht an die Arbeit gehen!«

»Sogar du?« rief Heinz lachend, »dann muß der Feiertag ein sehr hoher sein. Wollen wir einen Gang in den verschneiten Wald machen?«

»Ja,« meinte Tante Dine, »tut das. Dann stelle ich derweil meine Mehlschüssel an den Ofen und mein ganzes Backzeug, damit alles gut durchwärmt wird. Heute abend wird gebacken.«

Heinz reckte die Arme und tat einen Juhschrei. Dieses 149 Backen war wie ein klingender Heroldsruf vor dem Christkind her. – Ob ihn Justus im Osten drüben auch hörte? Ob er selbst ihn wieder hören würde, wenn er erst draußen wäre, weit über Land und Meer auf der fernen Insel? – Etwas wie ein vorweggenommenes Heimweh quoll in ihm auf. Er ließ die Arme sinken, und in seinen Augen war ein dunkler, feuchter Glanz.

Es war ihm fast lieb, daß der Vater nun doch an seine Arbeit ging und er allein hinauswandern durfte in die Winterwelt.

Noch führte kein Pfad, keine Fußspur über die schimmernden Breiten. Kaum waren die Linien der Straße zu erkennen. Er wanderte gegen den Riesenkopf. Die Heide war ein weites, glitzerndes Meer. Um den alten Stein, der in unsäglicher Einsamkeit ragte, hatten sich glänzende Schneewehen gelegt. Jetzt gab es hier keine blaue Schlange mehr zu suchen!

Nun waren seine Gedanken schon wieder bei dem kleinen Mädchen. Die würde dableiben in der Heimat, wenn Männer wie Justus und er in der Fremde sich ein Leben zimmern müssen. Wie wohl ihr Schicksal sich gestalten würde? Ein seltener Schmetterling, auf den Jagd gemacht wird von jedem Narren? Tante Dine, wie kannst du so etwas sagen! Sie ist des Forstmeisters Tochter, und ihr Vater scheint ein ganz vornehmer, vielleicht auch ein reicher Mann zu sein; der wird sein einziges Kind schon vor Narren zu hüten wissen! – Es achtet niemand auf sie? – Nun gut, dann hat sie ihre Freiheit! Was will ein werdender Mensch denn mehr? Auf mich habt ihr immer zu viel achten wollen, Vater und auch 150 du! – Aber sie ist ein kleines Mädchen! – O die, die weiß schon, was sie will! Die hat einen störrischen Kopf! – –

Hin und her ging die Rede in seinem Innern, und er konnte nicht Stille gebieten. Beim Stein blieb er stehen und sah sich um in der Runde. Hart klopfte sein Herz. Es war nicht leicht gewesen, durch den tiefen ungebahnten Schnee zu stapfen. Wie auf einer einsamen Insel fühlte er sich, und nur seine Fährte dort führte hinaus zu andern Menschen.

Der blasse Himmel, an dem die Sonne wie hinter dünnen, weißen Schleiern stand, deckte das reglose Land so freundlich und still, als wisse er nichts von seinen Tiefen und seiner nie ermessenen Unendlichkeit. Es gab keine Ferne mehr; die Welt war ganz klein, ganz zu sich und zum Frieden gekommen, ganz ohne Sehnsucht und Ungenügen.

Drüben über dem nicht sichtbaren Fluß ragten die hohen, dunklen Tannen am Maienbuckel. Sie waren zu stolz, um große Lasten zu tragen. Nur da und dort hing ein breiter, weißer Schneefleck im Geäste. Weit war nichts Lebendiges, ja nicht einmal die Spur von Lebendigem zu sehen. Nur auf der weißen Kuppe, die den Stein bedeckte, liefen wie feines Spitzenwerk die Spuren winziger Vogelfüße durcheinander.

Aber unter all dem Leblosen spürte der Einsame so mächtig stark den verborgen pulsenden Lebensstrom, daß es ihm war, als sehe er die glänzende Schneedecke sich leise heben und senken von geheimnisvollen Atemzügen.

Die Schneekappe auf dem Stein schob er zur Seite und setzte sich auf den Platz, wo er vor Wochen mit der Kleinen gesessen. Und nun war sie schon wieder da, schon wieder neben 151 ihm, und ihre Augen wanderten mit den seinen über das glitzernde Meer. Unbehaglicher, reuevoller als je war ihm zumute. Wie arglos, wie vertrauend hatte sie ihm damals bei ihrer ersten Begegnung sofort das volle Herz aufgetan! Wie hatte sie dem Fremdling gleich das Schönste, das Geheimnisvollste der Heide zeigen wollen: die blaue Schlange!

Und wie hatte er ihr gedankt! Zum besten hatte er sie gehalten und seinen Spaß mit ihr getrieben! Er sah auf einmal nicht mehr mit seinen Augen, sondern mit denen der Kleinen, und es war ein übles Licht, in dem er sich da erblickte.

Wieder fiel ihm ein, daß ihm eine Sühnetat zu tun blieb: Das hölzerne Schiff!

Dort drüben am Maienbuckel, wo die Holzhauer an der Arbeit gewesen waren, mußte es unterm Schnee Rinde und Späne geben. Nicht mehr zu seiner Freude allein, sondern im Dienst einer Pflicht stapfte er weiter dem Fluß zu und dort am Ufer hin bis zu dem Steg, der hinüberführte.

Auch hier war noch nirgends eine Fußspur. In kaltem, dunklem Glanz zog das niedrigstehende Wasser zwischen den hohen, schneeüberböschten Ufern, und zerstreute Felsblöcke aus dem Urgestein, das hier zutage trat, hoben ihre Rücken aus der stillen Flut und trugen ihre weißen Kappen noch unberührt, wie sie vom Himmel gekommen waren. Vom Steg sah er hinunter. Hier könnten, wenn es nur Sommer wäre, hölzerne Schiffe schwimmen! Strömungen gäbe es hier und stille, sichere Binnenhäfen, Meeresbuchten, Brandungen, Molen und Plätze für Leuchttürme. Tief war es eigentlich nirgends. Dort vielleicht, in der Mitte, würde ihm das 152 Wasser bis an die Brust gehen. Vielleicht auch bis an den Hals. Aber die Kleine, die müßte weiter draußen, dem Ufer zu, bleiben. Dort die breite, flache Bucht hinter dem Felsblock, die wäre recht für sie. Dort könnte sie etwa bis zu den Knien hineinwaten. Dort könnte man auch eine Seeschlacht machen!

Seine Augen glänzten, er war mitten im Spiel, mitten in seiner Jugend, die noch so nahe bei seinem Heute lag.

Zögernd, ungern nur ging er weiter. Einen Abhang stapfte er empor, eine junge Pflanzung, auf der kleine Schneehügel die winzigen Tannen überwölbten, daß es aussah, als sei hier eine Schar hockender Kinder zugeschneit worden.

Am Rand des Hochwaldes hingen auf den unteren Ästen wuchtige, drohende Schneewächten, als wollten sie jedem den Eintritt in das schweigende Heiligtum wehren.

Bis zum Werkplatz der Holzmacher arbeitete Heinz sich durch. Hier sah es abenteuerlich aus, wie auf einem Schlachtfeld, über das mitleidig eine Decke gebreitet ist. Er scheute sich fast, dieses reine, unberührte weiße Tuch zu lüften; aber dann fing er doch an, nach den begehrten Rindenstücken zu suchen.

Herrliche Stücke förderte er zutag, und ein paarmal rief er den fernen Justus zum Zeugen an, ob sie je in ihrer Jugend solche Rindenbrocken gehabt hätten?

Die Wahl wurde ihm schwer. Hier dieses Stück gäbe ein Kanonenboot, jenes einen schlanken Kutter, dieses einen herrlichen Nachen. 153

Er zog sein Messer. Er hatte vergessen, daß es ihm zu schwach und zu schade scheinen wollte für diese Arbeit. Aber an dem nassen, glatten Zeug verklammten ihm die Finger. Daheim mußte man die Sache machen, daheim im warmen Zimmer, wenn die Lampe brannte und Tante Dine ihre süßen Teige rührte, oder Lebkuchen ausstach, oder Mandeln schnitzelte.

Wenn dann die Kleine vielleicht doch herüberkäme, um zuzusehen? Er selbst wäre in ihren Jahren über jeden Berg gelaufen, wenn man ihm gesagt hätte, irgendwo werde gebacken und ein Schiff geschnitzt. Aber diese beleidigte Hoheit war ja unversöhnlich wie Saul. Oder war es David? Darüber mußte er gelegentlich den Vater fragen, dann hatte der auch seine Freude.

Er pfiff vor sich hin, belud sich mit Rindenbrocken und wandte sich heimwärts. Als er die klare, einsame Fährte vor sich sah, die er selbst in den Schnee gegraben, war es ihm leid, sie zu zerstören oder ihr von ihrer seltsam rührenden Einsamkeit etwas zu nehmen. Einen weiten Bogen schlug er, und immer mußte er zurück und hinübersehen nach der Menschenspur.

Und auf einmal war es, als rede sie zu ihm. »Siehst du,« sagte sie, »so wie deine Tritte im Schnee, so ist all dein Tun und Lassen irgendwo eingeschrieben. Indem du dein Leben lebst und deine Erdenwege wanderst, schreibst du dich ein und weißt es nicht. Nichts bleibt unaufgezeichnet, und nichts kann oder darf ein anderer für dich schreiben.«

Sie schlich ihm nach, seine Spur, sie lief, sie stand mit 154 ihm. Er machte Sätze wie ein aufgehender Hase, Schritte wie ein Kamel, Seitensprünge wie ein bockendes Pferd. Und immer tat die Spur mit und ließ sich nicht abschütteln, nicht irreführen.

Er lief sich heiß, warf die Hälfte seiner Last weg und lachte wie ein Knabe. Aber immer saß ihm dabei ein heimlicher Ernst im Nacken. ›Bin halt ein Pfarrersbub,‹ dachte er plötzlich, ›auch wenn ich Purzelbäume schlage.‹

Frisch von Kälte und Winterherrlichkeit kam er heim. Tante Dine lachte. Ein Kosewort aus der Kinderzeit, das er früher bitter gehaßt hatte, holte sie hervor. »Heinzelmännchen, hast wohl zehn Jahre deines Lebens im Schnee draußen gelassen? Siehst wie ein Junge aus, der vom Schlittenfahren kommt. Und Brennholz schleppst du heim?«

»Schiffsholz,« berichtete er lachend. »Heute abend wird eine Werft eingerichtet. Die Eva soll zu ihrem Geschenk kommen.«

Er legte sein Bündel in der Küche ab und trat in sein Zimmer. Die aus der Schule kommenden Kinder lärmten unter seinen Fenstern. Leise, wie man ein Wild beschleicht, trat er hinter die Vorhänge und spähte hinab.

Zu wirren Knäueln geballt wälzten und balgten sich die Scharen im frischen Schnee. Nur eine stand einsam und unbeteiligt dabei: Eva. Sie trug keine Haube wie all die andern Mädchen; der Wind wehte ihr das Haar ins bräunliche Gesicht, und ihre Augen blickten dunkel und leidvoll. 155

Es zuckte ihm in den Fingern, das Fenster zu öffnen und der Einsamen ein kameradschaftliches Wort hinunterzurufen. Aber er wußte: sie würde sich nur zur Flucht wenden.

Da rief Tante Dine vom Nebenzimmer etwas hinunter.

Eva hob den Kopf. In scheuem, raschem Suchen glitt ihr Blick erst an der Fensterreihe entlang, dann antwortete sie mit Zorn in der Stimme: »Den ganzen schönen Schnee verschmutzen sie.«

Man hörte das Lachen der Tante und eine Gegenrede. Aber Eva schien nicht damit einverstanden. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang fast schrill. »Habt ihr nicht gesehen, wie schön es war heute morgen? Nun zertrampeln sie alles.«

Eine Salve von Schneeballen flog gegen die Anklägerin. Aber sie blieb stehen, aufrecht und trotzig und ohne sich zu wehren; nur ihre Schürze schlug sie über die Bücher, die sie im Arm trug.

Heinz spürte Herzklopfen. Welch eine Gemeinheit, zwanzig gegen eine! Wieder fuhr seine Hand an den Fensterriegel.

Aber Eva, über und über voll Schnee, brauchte seine Hilfe nicht. »Werft nur,« rief sie gellend, »ich sage doch, daß ihr dumme Kälber seid und Schmutzfinken und Schweine und –«

Jetzt flog drüben neben der Tante das zweite Fenster auf, und der Vater selbst mischte sich in die Sache.

»Geht heim,« rief er hinunter, »ich kann den Lärm da nicht brauchen! Müßt ihr denn immer streiten und schreien?« 156

Da verlief sich die Schar mit geduckten Köpfen, und als letzte ging Eva.

Ohne die rechte Freude schnitzte Heinz am Abend das Schiff. Das war eine Arbeit, bei der man teilnahmsvolle Zuschauer, Kritiker und Gehilfen brauchte; dann erst konnte man in jenes Feuer kommen, dem keine Aufgabe zu schwer und zu verwegen ist.

So aber lag eine Nüchternheit über der Sache, die es verschuldete, daß unter dem Messer des Schnitzenden kein Kanonenboot und kein Kutter, sondern nur ein ganz einfacher Nachen mit Ruderbank und Steuer entstand.

In der Küche probierte er ihn auf seine Seetüchtigkeit. Erst hatte er zu wenig Tiefgang, und als dem abgeholfen war, ging er schief. Fast wollte der Meister über seinem Werk erlahmen. Aber über den verschneiten stillen Gärten drüben glänzte ein Licht im Forsthaus. Dort war ein kleines, trotziges Mädchen, dessen Vertrauen und guten Glauben er sich zurückgewinnen mußte.

So bastelte er weiter, bis alles klappte. Dann bat er Tante Dine, das Geschenk heute abend noch hinüberzuschicken.

Sie wollte nicht. »Was denkst du! Sie schläft schon, es ist gleich neun Uhr.«

Aber er bettelte. »Sie schläft sicher noch nicht. Vorhin hörte ich ihre Stimme noch in der Küche. Morgen ist Sonntag, da kann sie am besten damit spielen. Der Forstmeister und Fräulein Tabea sind nicht zu Hause; ich sah sie zur Bahn fahren und noch nicht zurückkommen.« 157

So schickte man die Magd hinüber. »Auf deine Verantwortung,« meinte die Tante.

Er nickte: »Auf meine Verantwortung.«

Heinz wusch sich die Hände und blieb mächtig lang in der Küche. Aber wie sehr er heimlich die Ohren spitzte – er hörte drüben über den Gärten nicht den erhofften Freudenlärm. Unbewegt glühte das ferne Lichtlein durch die Winternacht.

Der Sonntag kam herauf. Nicht die frohe Helle wie gestern erfüllte die Welt. Der Himmel blieb verhängt, und ein leises Grau lag in den gesäuberten Gassen.

Im Pfarrhaus rüstete sich alles zum Kirchgang, und die Magd, schon im Sonntagsgewand und mit dem Gesangbuch in der Hand, rührte noch einmal in dem brodelnden Topf, der im Ofen stand.

Vor dem Haus trat Fräulein Tabea herzu. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, das vornehm knisterte, und ihre Pelzmütze hatte den männlichen Zuschnitt, den sie liebte.

Es gab ein freundliches Grüßen, ein paar Worte über den raschen Wintereinzug, dann trat Tabea neben die Tante und schritt den andern voraus, von ihrer gestrigen Reise erzählend.

Heinz ging dem Vater zur Seite. Sie sprachen nicht miteinander. Dem Pfarrer war die Brille angelaufen. Er nahm sie ab und trug sie in der Hand. Es war eine Bewegung, die Heinz auffiel, als hätte er sie nie so an einem andern Menschen gesehen. Und alles kam ihm plötzlich vor wie ein Schauspiel, dem er als Zuschauer beiwohne, und auf das er gut achten müsse. 158

Dann ertappte er sich dabei, daß er horchte, was die vorausschreitenden Frauen redeten. Ob das hölzerne Schiff nicht zur Sprache kam? Er verstand nur etwas von einer neuen Magd und von feuchtem Brennholz und rauchenden Öfen.

Große einzelne Schneeflocken trieben jetzt wie verirrt durch die Gasse. Wenn Heinz Sommer nach langen Jahren an diesen Sonntagmorgen dachte, sah er immer diese einsamen Flocken in der grauen Luft.

Die Glocken läuteten dünn und ohne den rechten Rhythmus, ein Duft sonntäglicher Speise drang aus den Häusern, die Hunde knurrten vor den Türschwellen, die Menschen grüßten und hatten feierliche Gesichter; die Kinder fanden sich zu Gruppen zusammen; aber Eva war nirgends zu erblicken.

In der schönen alten Kirche mit ihren Gruftplatten und Grabsteinen, ihren dämmerigen Ecken und Nischen, in die nur durch die schmalen, farbenbunten Fenster ein gebrochenes Licht fiel, in der wie mit uraltem Weihrauch angefüllten Luft überkam das Gefühl der Unwirklichkeit den Pfarrerssohn noch stärker.

Und auch des Vaters Predigt konnte ihn nicht herausreißen. Die Kirchenlehrer und Kirchenväter schritten hindurch, Origenes setzt sich mit Celsus auseinander, und uralte Worte kündeten uralte Weisheit und uralten Streit.

In seinen Knabentagen hatte Heinz des Vaters Predigten manchmal verwünscht. Man durfte mit seinen Gedanken nicht davon wegwandern, weil es daheim bei der Prüfung 159 am Mittagstisch niemals anging, irgend etwas Allgemeines zu sagen. Festgenagelt wurde man auf die Punkte, die der Vater wissen wollte. Kenntnisse, nicht Gefühle mußte man aus der Kirche heimbringen.

Heute klang und schwang nichts Drohendes von der schönen, dunklen, holzgeschnitzten Kanzel her; die Worte durften auch einmal untergehen in den eigenen schweifenden Gedanken.

Eva! – Ob Eva da war? Unter den Kindern dort unten saß sie nicht. Sie schien sich die Kirchenväter zu schenken. Vielleicht war sie draußen im Schnee, in der köstlichen Einsamkeit.

Die steile alte Bank, die seine langen Beine wie im Schraubstock festhielt, wurde Heinz plötzlich sehr eng und unbequem. Er hätte nicht dort hinaus denken sollen! An dem unberührten, leise atmenden Schneefeld gemessen, waren auf einmal die Worte des Predigers leblos und ohne Glanz. Es lag Staub darüber und Moderduft, wie aus Gräbern heraus.

Nun kam zum Glück das Amen. Mit seiner kräftigen Stimme sang Heinz klingend den Schlußvers. Er liebte die alte, starke Weise, und seit er denken konnte, hatte er es so gehalten: je weniger er bei einer Predigt mitgegangen war, desto machtvoller hatte er nachher gesungen.

Dunkel strömten die Scharen aus der Kirche und in die nahen Gassen hinein. Dort stand Tante Dine und diese Tabea, und die Weiber, die vorübergingen, sprachen ein paar Worte, die Männer lüfteten grüßend die Hüte. 160

Drüben über dem Kirchplatz tauchte jetzt der Vater auf und wartete in Barett und Kirchenrock auf die Seinen. Sein blasses Gesicht war ein wenig gerötet, wie von unmerklicher Befriedigung und schleierzartem Selbstbewußtsein. »Habe ich es recht gemacht?« stand schüchtern und verhüllt, aber doch lesbar in seinen Augen.

Und Tante Dine und Tabea schwangen das Weihrauchfaß mit leichter Geste, und auch Heinz streute ein Körnlein in die kleine rauchende Glut.

»War Eva nicht in der Kirche?« fragte er jetzt die Baltin, deren Kleid neben ihm knisterte, und er schaute dabei in den düsteren, schneeschweren Himmel.

Sie schüttelte den Kopf. Ein ärgerlicher Ausdruck flog über das verwelkte Gesicht. »Sie wollte wieder einmal nicht. Und der Herr Forstmeister erlaubt nicht, daß ich sie in die Kirche zwinge.«

Heinz ging es durch den Sinn, was doch dieser Forstmeister für ein vernünftiger Vater sei! Aber in die zustimmende Zufriedenheit hinein fuhr auf einmal unvermittelt und stark wie ein Blitz, bei dem man auch nicht weiß, woher er kommt, der Gedanke: ›Sie läßt das hölzerne Schiff schwimmen.‹

Ein eisiger Schauer ging ihm durch den Leib, als wate er durch kaltes Wasser. Sein Fuß stockte; er konnte jetzt nicht ruhig mit den andern heimwärtswandern und sich an den gedeckten Tisch setzen.

»Verzeihung!« sagte er zu den Schreitenden, und seine Augen irrten die Gasse entlang, »ich muß vor Tisch noch einen Gang machen, sonst kann ich nicht essen.« 161

»Aber komme bald!« hörte er die Stimme der Tante noch hinter sich, alles andere versank in einer schweren Angst, einer schweren Gewißheit, die er selbst nicht begriff.

Einmal fuhr es ihm durch den Kopf, daß er ja gar nicht wisse, wo Straubs Garten sei. Aber seine Füße zögerten deshalb nicht auf dem Wege. Wie wenn ein fremder Wille sie bewegte, so trugen sie ihn dorthin, wo er gestern gegangen, und Straubs Garten war vergessen.

Auf der Straße vor dem Dorf liefen jetzt Rad- und Fußspuren genug durch den Schnee. Aber dort, wo der Pfad in die Heide einbiegt, dort war noch seine einsame Fährte. Er blieb aufatmend stehen. Dort draußen war sie also nicht.

Schon wollte er über sich lachen, da sagte es in ihm: Siehst du denn nichts? Und er sah, daß in seinen Stapfen ein Kinderfuß gegangen war. Deutlich war die Spur eingedrückt, Schritt für Schritt, wie er gestern gegangen.

Seine Augen glänzten auf. Das hätte er auch so gemacht an ihrer Stelle! Aber schon wieder kroch die Angst hoch, der er nicht wehren konnte.

Er kam zum Opferstein. In die Schneehaube neben den feinen Vogelspuren hatte sich eine Kinderhand ein paarmal eingegraben. Etwas Rührendes hatte das: Kinder und Vögelein! Er machte eine Grimasse. Seit wann war er elegisch? – Die Kinderspur verließ seine gestrige Fährte nicht. Er spitzte die Lippen zum Pfeifen. Dieser improvisierte Sonntagmorgenspaziergang war doch etwas ganz Schönes! Die daheim konnten lange Mägen bekommen. Vielleicht rauchte der Vater eine Pfeife! – Er tat, als ob er lache und lustig 162 sei, und doch war die Angst da, die Angst, so schwer, grau, unheilschwanger wie der niedrige Himmel.

Wie gut, daß er gestern seine eigene Fährte nicht zerstört und zertreten hatte! Sonst wäre ihm wohl Evas Spur nicht mehr sichtbar geworden. Vielleicht aber hätte ein ausgetretener Pfad diese Kleine, dieses Teufelsmädchen, gar nicht so gelockt wie die einsamen Stapfen! Ging es ihm nicht selber so, wenn er in sonst unberührtem Schnee eine Spur sah? Etwas Magisches lag darin, ein leises Locken: komm doch, komm doch und sieh, wohin ich dich führe.

Ja, das war schon so: Er selbst hatte recht eigentlich diese Eva ans Wasser hinausgeführt! Seine Spur im Schnee und sein hölzernes Schiff. Wenn etwas passierte – – Unsinn! Was wird dieser Halbwilden passieren, die an Freiheit gewöhnt ist!

Ein Stöckchen dürfte sich der Forstmeister wohl schneiden für seine Tochter! Zu viel Zwang ist nichts, aber zu viel Freiheit ist auch – – – Gellte da nicht ein Schrei? Was war das gewesen? – Schutzengel, vergiß, daß ich gespottet habe! Wieder ein furchtbarer, schriller Schrei! Es fing zu schneien an. Erst in kalten, einsamen Flocken, dann ganz plötzlich in emsigem, durcheinanderwallendem Gestöber. Bald lief er wie in eine weiße Wand hinein, und die Stapfen im Schnee vor seinen Füßen waren noch das einzige, was er von der ganzen weißen Erde sehen konnte.

Ach Heinz, das heißt einsam sein! So einsam bist du eigentlich nie gewesen, wie jetzt zwischen den weißen, wirbelnden Wänden, die mit dir wandern, wo du hingehst. 163

Wie lange noch, dann würden auch die Stapfen verschwinden, über die sich dicht und dichter eine flaumige Schicht legte, dann wären überhaupt alle Brücken zur übrigen Welt abgebrochen.

In eine Abenteurerstimmung wollte er sich hineinreden, und es war doch immer die Angst da, die nüchterne, hölzerne Angst, die sich einfach nicht wegschieben ließ, und der es um Abenteuer nicht zu tun war.

Er wußte nicht mehr, wo er eigentlich war. Der Fluß konnte nicht weit sein.

»Eva!« rief er fast gegen seinen Willen in die Schneewand hinein. Plötzlich tauchte das Wasser auf. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er abwärts gegangen war. Das dichte Gehäuse, das ihn umgab, hatte alle Maßstäbe verschlungen. Wie Blendwerk kam es ihm vor, daß da vor ihm ein dunkles, stummes, offenes Maul gähnte, in dem die weißen Schwaden lautlos versanken. Und nun rechts der Steg! Abenteuerlich, fremd, vergrößert stiegen seine Formen aus dem Gestöber.

Lief da nicht eine Gestalt darüber? Aber das war kein Kind, das war eher ein Riese. Ach nein, gar nichts war's. Der Schnee allein umtaumelte den Steg.

Eva! – – War eine Antwort gekommen? Nun wurde es ernst. Etwas Hartes, Eisiges tauchte in ihm auf. Er kannte das. Das war der Heinz Sommer, der etwas durchsetzte.

Er trat ans Wasser. Wie eine weiße, strömende, rollende Wand stürzten sich die immer dichter werdenden Schwaden hinein. 164

Ein Schwindelgefühl wollte ihn überkommen. Oder war das kein Schwindelgefühl, war das ein tödlicher Schrecken, ein Erkennen im Herzen, ohne daß die Sinne noch etwas wahrnahmen?

Dort, Heinz – dort! Er watete hinein. Langsam, langsam. Das Wasser ist nicht eisig. Heiß ist es! Dort!

Auf seinen Armen trug er Eva ans Ufer, von einer heißen strudelnden, dicken weißen Rauch ausströmenden Flut umbrandet. Oder war alles immer noch Schnee? Schon wieder Schnee? – –

An einen der Granitfelsen in Ufernähe angeklammert, vom Wasser bis an die Brust umspült, hatte sie gestanden, unbeschreibliches Entsetzen im verzerrten Gesicht, ihr Schifflein, sein Schifflein in der hoch erhobenen Rechten.

Nun lag sie starr an seiner Schulter. Seine Arme zitterten unter der nassen, kalten Last. Oder war es ihr Körper, durch den immer wieder dieses schreckliche Zittern lief?

Er dachte nicht mehr; er war eine Maschine. Das Harte, Eiserne, das er an sich und in sich kannte, breitete sich über sein ganzes Wesen aus in einem Maße, wie er es nie geahnt hatte.

An seinen Fußspuren festgeklammert wie an einem Rettungsseil, stapfte er keuchend den Weg zurück. Nahm er nie ein Ende? Verlief er in die Ewigkeit?

Wie schwere, weiße Wogen stürzte der Schnee aus dem herabgesunkenen Himmel. Der Keuchende vermochte kaum mehr die Augenlider zu heben. Sein Herz hämmerte, und ihm war, als fülle dies furchtbare Pochen die Welt mit dumpfem, dröhnendem Hall. 165

Auf einmal hörte er ein Vögelein zirpen, ganz leis und süß und frühlingshaft.

Ach Heinz, erwache nicht! Träume nur diesen Traum weiter von einem singenden Vögelein auf einem einsamen Opferstein!

Und nun ein Haus hinter weißem Schleiergewoge! Lache nicht, ach, lache nicht, sonst zerbricht das Eiserne in dir, das euch beide trägt, dich und die Eva!

Dort hinüber. Das Pfarrhaus. So – das war kräftig geläutet! Es dröhnt nur so! Nehmt sie nur! Nehmt – – Ah – –.

Er taumelt an eine Wand. Jemand hat den starren, kalten, schweren Schneeberg von ihm genommen. Nun ist das Eiserne zerbrochen.

Nun darf er lachen.

Laut lachte er auf, und dann nichts mehr.

*


 << zurück weiter >>