Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Es kamen und gingen die Jahre. Das leuchtende Rot auf den Dächern blaßte ab. Im stattlichen Pfarrhaus und im weitläufigen Forsthaus wechselten die Insassen.

Unter den Pfarrern war einer – nein zwei –, die von dem Besonderen wußten. Aber sie waren klug genug, nicht davon zu reden. Sie fühlten, daß man eine hartmäulige Zeit nicht mit schleierzarten Dingen aufzäumt, und taten danach. Es genügte ihnen und war ihre heimliche Freude, daß sie durch jenes unmerkliche Anstreifen von der anderen Seite her beständig an die unausschöpfbare Fülle alles Seins erinnert und so durch die bitterste Fährlichkeit ihres harten Berufs hindurchgesteuert wurden: durch die Fährlichkeit, immer Sicherheit zeigen zu müssen, auch wo oft nur Sehnsucht vorhanden ist.

Auch im Forsthaus kamen und gingen die Männer. Von einem – Jägermeister hießen sie damals noch – erzählte man sich noch viele Jahre nachher allerlei tolle Geschichten. Er soll einst seine ganze große Jagdmeute blau angestrichen haben, weil der regierende Herr die Hunde nicht schön in der Farbe gefunden hatte. Ein andermal ließ er im Kesseltreiben einen zahmen Eber mittreiben, so daß ein hoher Jagdgast darauf zu Schuß kam.

Wild und zügellos in Sitten und Sinnen, führte er dann in das Forsthaus ein wunderschönes, schwarzbraunes Weib ein, von dessen Herkunft niemand etwas Rechtes wußte. Er setzte auch, soviel man erfuhr, keinen Pfarrer ins Brot um der Schwarzhaarigen willen. Wie Einsame auf einer Insel, geschieden von aller Welt und nur heimisch im Wald, 15 lebten die beiden ein Leben, das allen Ärgernis war, weil keiner es kannte.

In einer Seuchenzeit, die hart über Meßberg dahinfuhr, starb als erste die Schwarze, und sie nahm ihren neugeborenen Knaben mit ins Grab.

Da irrte der Mann Tage und Nächte durch den Wald, der damals noch von den Hängen herunter bis dicht an Meßberg heran ging.

Es hieß, er habe erst fluchend und dann klagend ihren Namen in die Einsamkeit hineingerufen, und in einer Kluft zwischen Felsen klinge es heute noch, wenn der Sturm von Nordost her brause, wie »Ursa«.

Der Schmerz um das Weib riß des Mannes wilde Seele auf, wie die blitzende Pflugschar den harten Boden. Und auf den gelockerten Schollen fing manches zu keimen an, was keiner vermutet hätte. Jener Jägermeister wurde ein heimlicher Freund der Elenden. Aber nicht derer, die ihre Not schamlos vor sich hertragen, sondern der verschwiegenen, die ihre Bürde lautlos schleppen.

Auch die Heimatlosen und Landfremden, die Stromer und Vaganten, die er einst grimmig gehaßt hatte, weil sie Wild und Wald gefährlich wurden, sie hatten jetzt – so hieß es – eine heimliche Freistatt bei ihm und er helfe ihnen weiter um Gottes willen, als ob sie seine Brüder seien, weil die Ursa aus ihrer Zunft gewesen.

Der Wald und das Wild aber wurden ihm Heimat und Freundschaft. Sie waren es auch, die seinen letzten Seufzer hörten an einem Frühlingsabend, als die Schnepfen über die 16 Waldblöße strichen und der Himmel in Glut stand. Auf der Höhe, am Stamme einer einsamen Föhre sitzend, fand man ihn. Um seine bleiche freie Stirn spielte das Haar im lauen Wind, seine Augen standen offen, als schauten sie weit hinaus in fremdes, seliges Land, und seine Züge trugen jenes seltsam stolze, überlegene Lächeln, das nur der Tod auf sein Antlitz prägen kann. Am Föhrenstamm aber lief ein Eichhorn mit gellendem Pfeifen in die Höhe, und in dem rauschenden Wipfel sang ein Vogel ein Lied, das kein Meßberger kannte.

»Wolf und Ursa von Seltstein« steht heute noch auf der verwitterten Platte, die das Doppelgrab deckt. Gestrüpp wuchert darüber und freche Nesseln, die so gern aus den Gräbern der Vergessenen sprossen.

Aber die seltensten Vögel singen den ganzen Sommer über dort ihre fremdartigen Lieder. Und wenn der Schnee auf den breiten Hügel stäubt, fangen heimlich die Christrosen unter dem erfrorenen Gras zu blühen an.

In der Vorstellung der Meßberger und aller am Riesenkopf lebte der alte Jägermeister als eine Art Eulenspiegel. Wenn irgendwo ein toller und verwegener oder auch törichter und lustiger Streich geschah, so sagte man von seinem Urheber: »Er ist ein Kerl wie der Seltstein.« Aber gestorben ist seither niemand mehr so einsam, schön und friedvoll wie jener Jägermeister.

Zwischen Dorf und Forsthaus war, solange man denken konnte, nie oder doch recht selten, völliges Einvernehmen. Ja, es hatte schon Zeiten grimmigen Hasses gegeben. Die Meßberger konnten das Wildern nicht lassen. Sie sahen kein 17 Unrecht darin, oder gaben doch vor, keines darin zu sehen. Der Herrgott – sagten sie trotzig – habe den Wald nicht nur für den Fürsten wachsen lassen. Als gar in späteren Jahren redegewandte Aufklärer in das abgeschiedene Dorf kamen, als betriebsame Männer aus fernen Städten den ganzen billigen Abfall und Kehricht aus den Studierstuben herzuschleppten und unter die Bauern verteilten, so daß man auch zu Meßberg erfuhr und durchschaute, daß die Sache mit dem sogenannten Herrgott nur freche Bauernfängerei sei – da schwoll auch vielen von denen der Kamm, die seither noch das Joch Gottes, wenn vielleicht auch unwillig, getragen hatten.

Sie hoben die Stirnen wie zornige Stiere, maulten stündlich von Menschenrechten, und merkten darüber nicht, wie man ihnen ihr stolzestes und schönstes aus den Händen nahm und zerbrach. Das waren dann die, die sich wie Helden vorkamen, wie Vorkämpfer für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn sie des Fürsten Hasen und Rehe in scheußlichen Schlingen fingen und keine Obrigkeit scheuten und anerkannten.

Als diese neue Narrheit am schlimmsten wütete, war zu Meßberg ein Forstmeister, dem der Tod wie ein Werwolf im Nacken hing. Er fühlte wohl, wie das Untier saugte und saugte, und über dem Bemühen, es noch einmal abzuschütteln, überließ er Wald und Wild ihrem Schicksal.

Aber im Pfarrhaus, drüben über den Gärten, hauste ein Gesunder. Hartmut Bauer hieß er. Ein kleiner, fast häßlicher Mann. Im Wald, wenn der Sturm durch die Wipfel 18 brauste, machte er manchmal seine Predigten, als könne er da etwas für sich heraushören. Kein Wunder, daß dann die Meßberger unter seinen Worten die Köpfe beugten und das Gefühl hatten, eine zornige Kraft schüttle sie. Manchmal saß er auch auf der lichten Höhe, wo man den Seltstein gefunden hatte. Die Föhre, an deren Stamm er sich lehnte, war wohl nicht mehr dieselbe, die über dem Toten gerauscht hatte. Aber einsam und wissend stand auch sie auf der Blöße.

Des Pfarrers Augen müssen dort oft das gleiche ferne, selige Land erschaut haben wie der Tote, denn sein unschönes Gesicht war dann überloht von hoher und seltsamer Schönheit. Die Predigten, die er dort oben holte, bot er seiner schwarzen Schar unter der Kanzel so dar, wie ein Rosenstrauch seinen Duft in die Lüfte streut, oder wie die Quelle ihr Wasser bietet.

Er hatte erlebt, daß der, dessen Name jeden Menschenmund versengen müßte, aufglüht im Menschen neben dem dunklen und dumpfen Tier. Er hatte erlebt, daß dieses unaussprechlich süße Licht verborgene Kräfte auflodern, ungeahnten Reichtum hervorbrechen läßt. Er hatte erlebt und durchschaut, daß es dieser Reichtum und diese Kräfte sein müssen, die dem dunklen und dumpfen Tier zu Leib gehen, so, daß es nicht nur für eine Stunde sich knirschend duckt. Darum war sein Predigen wie sein Leben ein immerwährendes Ausschauen nach diesem wunderbaren Licht, ob er nicht irgendwo ein Fünkchen sehe, ein scheues Glimmen, einen heimlichen Schein.

Und wo er solches fand, da schaffte er, oft unter tausend Nöten, Luft und Nahrung für den Gottesfunken; denn seine 19 Seele ahnte, daß ein echter Priester des Allerhöchsten nicht mehr und nicht weniger tun kann als dieses eine.

So geschah's, daß durch des Pfarrers heimliche Hilfe in manchen Meßbergern die Glut aufleuchtete, vor der das Tier flieht, so daß der Mensch werden kann. Und diese paar Leute waren es dann, die das Dorf – man weiß nicht wie und wodurch – sauber machten von den übelsten Gesellen. Sie sprachen nicht viel und predigten gar nicht, sie gingen ihrem Tagwerk nach und lebten scheinbar ihr altes Leben.

Aber es muß doch etwas von ihnen ausgestrahlt sein, das den Frechen und Verwilderten unleidlich wurde, so daß sie davor flohen.

Unter Hartmut Bauer wanderten die ersten Meßberger Burschen ab in ferne Städte, wo das Geld, dieser liebste Gott aller Unreifen, seine Altäre haben sollte.

Wenn seine Besten gegangen wären, hätte es der Pfarrer leichter und mit mehr Zuversicht ertragen. Wußte er doch, daß man in den Städten, wo die gefährlichsten Wirbel des Lebens unaufhörlich kreisen und unaufhörlich Opfer in sich schlucken, nur Leute brauchen kann, die Kraft und Licht in sich tragen. Die ungebändigten, fremden Schwätzern verfallenen Halbwüchsigen sah er in einen gähnenden Strudel stürzen. Aber je angstvoller er die Verblendeten halten wollte, je ungestümer drängten sie fort.

So konnte der sorgende Mann nichts tun, als den lärmend Abziehenden still nachschauen und hoffen, daß auch dieses scheinbar Sinnlose, dieses wollend und doch willenlos Sich-in-den-Abgrund-Stürzen einen Sinn haben, ja vielleicht 20 eine unbewußte Opfertat sein mußte für ein höheres Ganzes und einen verborgenen Fortschritt.

Hartmut Bauers Gedächtnis blieb zu Meßberg heimlich im Segen als das eines Gerechten. Aber etwas Besonderes wußte niemand von dem Mann und seinen Taten zu sagen. Er war wohl gewesen wie das liebe Brot, von dem es auch kein Rühmens gibt.

Und wieder zog eine Welle im Strom der Zeit vorüber und eine neue grüßte die alten Ufer und trug neue Menschen und neues Geschehen empor.

Ins Meßberger Forsthaus zog ein Forstmeister, der hieß Thomas Auerstein und kam aus dem Baltenland.

Die Meßberger meinten, das liege noch weit hinter Amerika, und sie waren lange Zeit scheu und zurückhaltend mit ihrem Urteil. Seinem Blut nach war der Mann kein völliger Fremdling. Er erzählte selbst, daß Vorfahren von ihm hierzuland gelebt hätten und in die Erde gebettet seien. Aber seine Sprache und sein hoher, sehniger, bei aller Breite schlanker Körperbau, sein glattrasiertes, sonnenbraunes Gesicht, seine blauen, scharfblickenden Augen waren doch ganz anders, als man es zu Meßberg gewohnt war.

Auch die Frauensperson, die dem verwitweten, aber noch nicht alten Mann den Haushalt führte, und die er aus der Ferne mitgebracht hatte, mutete fremd an. Sie hieß Tabea und trug die graumelierten Haare kurzgeschnitten nach Männerart. An dem schwarzen, knisternden Seidenkleid, in dem sie jeden Sonntag zur Kirche kam, ermaßen die Meßberger sowohl ihre Frömmigkeit als auch ihre und des 21 Forsthauses Vornehmheit, und sie konnten keine rechte Brücke hinüber finden.

Ein kleines dunkelhaariges Mädchen war dann noch da, das Eva hieß und aussah wie etwa ein Zigeunerkind. Auch angezogen war es so: dünne, meist rote Röcklein, die kaum über die nackten Knie reichten und dazu sehr oft einen Riß hatten, was die Meßberger Kinder mit Schadenfreude, die Mütter mit Mißfallen bemerkten.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war Thomas Auerstein kein großer Jäger, soviel er im Wald streifte. Vielleicht mochten ihm, der in fernen Forsten Hirsch, Elch, Wolf und Bär gejagt hatte, die paar Hasen und Rehe des Reviers als zu ärmliches Wild erscheinen. Vielleicht aber auch hatte sich, wie das gewiß schon dann und wann gerade einem echten Jäger gegangen ist, etwas in sein Leben geschlichen, was das Angesicht der Welt für ihn verändert hatte, so daß er im gehetzten, scheuen Waldgetier auf einmal etwas anderes sah als die ihm verfallene Beute. Selten trug Thomas Auerstein Büchse oder Flinte. Einen derben Stock in der gebräunten Faust wanderte er am liebsten durch den Wald und sah nach dem Rechten. Oder was wäre sonst sein Tun dort draußen gewesen? Der kleine schwarzbraune Dachshund, der nicht von seinen Fersen wich, war ein verschwiegener Begleiter. Was auch seine nachtdunklen Augen sahen – er plauderte nichts aus, und von ihm erfuhr kein Meßberger, daß der Forstmeister draußen nicht immer im Dienste war. Daß er manche lautlose Stunde auf irgendeiner einsamen Lichtung oder auch in der blühenden Heide saß oder auf dem Rücken lag und die 22 Sonne, ja oft sogar noch Mond und Sterne über sich hinziehen ließ.

Und ob sich der kleine Hund oft wie in schüchterner Bitte um Vertrauen dicht an seinen Herrn drängte oder dem Versunkenen die Hand leckte – auch er erfuhr nicht, was in Thomas Auersteins Seele vorging in diesen stummen, einsamen Stunden.

So ausdauernd und hingenommen kann keiner in der völligen Einsamkeit liegen, der nicht eine ganze eigene Welt, sei es der Vergangenheit oder der Zukunft, der Erinnerungen oder der Hoffnungen in sich trägt.

Daß es nicht Hoffnungen, nicht Pläne waren, verrieten des Mannes Augen, in denen oft die wache Bewußtheit wie erloschen schien, als sei die Seele fortgezogen.

Dann war Thomas Auerstein in den nordischen weiten Wäldern, die über seiner Kindheit und seinen schönsten Mannesjahren gerauscht hatten. Er sah dann den mächtigen Fluß zwischen breiten, sumpfigen Uferstreifen schwer und träg dem alten Meere zuwallen. Er sah die ziehenden Wellen glänzen im Abendlicht und hörte das Krächzen und Schrillen, das Pfeifen und Schreien des Sumpf- und Wassergevögels, das im Röhricht nistete oder seine Horste in den ufernahen Wipfeln hatte. Diese vom roten Himmelsschein überlohten Abende mit ihren hunderterlei Stimmen wölbten sich vor dem rückschauenden Mann auf wie ferne heilige Domeshallen, deren tiefe, feierliche Stille die Vogelschreie nicht brachen.

Er spürte wieder, wie dem Kind, dem erwachenden Knaben 23 diese Abende zuerst das Innerste bewegt hatten, daß das große, ehrfürchtige, stummachende Erstaunen über ihn gekommen war, das Erschauern vor dem Schöpfer der Welt.

In diesen lohenden Stunden zwischen Waldrand und Fluß kam ihm auch zum erstenmal zum Bewußtsein, wie lärmend und voll Unruhe der Gutshof seines Vaters sei, und daß hundert schreiende Vögel nicht so laut seien wie zwei streitende Knechte.

In diesen Abendstunden wuchs der Plan in ihm, Förster zu werden, statt, wie es des Vaters Wunsch für sein einziges Kind war, den weiten Landbesitz dereinst zu übernehmen und zu bewirtschaften.

Oder spielte, für des Knaben Seele noch fast unbewußt, damals schon das andere mit herein, das später dem Mann so viel zu schaffen machte, ja das ihn im letzten Grunde von dort oben forttrieb?

Was war es, dieses andere? Wie ließ es sich in Gedanken, in Worte fassen? Unterm Meßberger Himmel, im Meßberger Wald, der über dem Manne jetzt rauschte, wurde es zu einem Ungreifbaren, einem Dunst, der unter den Händen entglitt und zerfloß, und dort oben war es so drückend, so quälend gewesen! Weit ausholen mußte der Mann mit seinen Erinnerungen, seinen suchenden Gedanken, wenn er an die Sache geriet. Hundert unscheinbare Dinge, hundert untergegangene Gefühle mußte er wieder hervorscharren und zuhauf treiben, wenn er jetzt sich klarwerden wollte über das, was einstmals so selbstverständlich, so immer gegenwärtig gewesen war. 24

Ja, so ließ es sich wohl sagen, so stellte es sich jetzt dar: Thomas Auerstein hatte von frühester Jugend an darunter gelitten, Herrenkind zu sein, zur Oberschicht zu gehören in einem Land, in dem die Unterschicht von anderem Blute, anderer Rasse, anderer Sprache war.

Sie litten alle daran, die deutschen Herren; das begriff heute der Mann, wie es einst der Knabe dumpf und dunkel gespürt hatte. Sie trugen wie einen Instinkt in ihrem reingehaltenen Germanenblut das Gefühl in sich, daß Männergemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, staatliche Gemeinschaft ihre Weihe, ihren Wert, ihre Festigkeit nur dort erlangen kann, wo Blutsgemeinschaft den tiefsten Untergrund bildet.

Dieses heimliche Leiden des Herrentums dort oben, das die wenigsten durchschauten und das doch allen im Blut rumorte, es machte manche von den Herren anmaßend, hochfahrend, befehlshaberisch. Sie litten am Herrenkoller und wußten es nicht.

Andere wieder, und zu ihnen gehörte Lorenz Auerstein, der Gutsherr von Biala und Vater von Thomas Auerstein, wurden einsilbig, verschlossen und schrullenhaft. Es war, als trügen ihre Seelen Scheuklappen, so daß sie den freien, unbeirrten Blick verloren und nur noch in einer Richtung sehen konnten.

Bei Lorenz Auerstein hieß diese Richtung: Deutschtum und Deutschland. Aber dieses Land und dieses Blut seiner Ahnen liebte er nicht mit freier kindlicher Liebe, sondern er trieb einen Kult damit, der etwas Krankhaftes hatte und der sich auf den heranwachsenden Sohn oft wie ein Zwang legte. 25 Manchmal, wenn der Knabe, der sich mählich zum Jüngling, zum Manne wandelte, seine weite und damals noch weiche Seele auftun wollte für etwas, das ihm den Weg kreuzte, schob es der Vater weg mit hartem oder verächtlichem Wort und nannte es undeutsch.

Wäre der Sohn innerlich nicht so gesund und deutsch gewesen, des Vaters krankes Deutschtum hätte ihm manchen Schaden tun können an der jungen Seele.

So aber wurde nur sein Blick scharf unter all diesen Dingen, und er durchschaute, daß er das meiste davon dem fremden Land mit der fremden Unterschicht auf die Rechnung setzen mußte. Aus solchem Grund wuchs ihm frühe schon die heimliche Sehnsucht, der versteckte Vorsatz auf, einst nach Deutschland zu ziehen und sich dort ein anderes, innerlich weniger gefährliches Leben aufzubauen.

Seine Mutter hatte er kaum gekannt. Sie war eine Deutsche aus dem Süden des Reiches gewesen und – wie der Vater noch nach vielen Jahren mit einem merkwürdigen Gemisch von Trauer und Befriedigung sagte – am Heimweh nach Deutschland gestorben. Wie ein Strahlenkranz lag es um diese frühentschwundene Mutter her. Jede Eigenschaft, die eine Frau adeln kann, wußte der Vater, wenn er, der Einsilbige, auf sie zu reden kam, an ihr festzustellen, und sein zusammenfassendes Wort lautete: »Sie war eine Deutsche.«

Für den Sohn hatte sie etwas Unwirkliches an sich, etwas Sagenhaftes. Um so mehr, als sie, das einzige Kind eines längstverstorbenen Pfarrpaares, fast keine und nur ganz 26 weitläufige Verwandte in ihrer fernen Heimat hatte, so daß sie wie wurzellos auf dieser Erde erschien. Als Thomas Auerstein auf den hohen Schulen in Deutschland war, suchte er die schwachen Spuren dieser Mutter. Aber was er fand, ließ ihn kalt und fremd und konnte ihm nichts sagen.

Auf der hohen Schule, am letzten Tag seiner letzten Prüfung, kam auch die Kunde zu ihm, daß sein Vater schwer erkrankt sei. Er eilte heim und kam zum Sterben.

Einer jener glühenden Abende war's, die Thomas nicht vergessen konnte. Der Himmel stand in Flammen, der Fluß war wie Blut, und um die Wipfel der Bäume schien die Lohe zu züngeln. Im Hofe vor dem langhingestreckten Herrenhaus heulte der Hund kläglich auf, als sein junger Herr achtlos an ihm vorüberschritt, und eine Schar verstörter Leute stob vor ihm auseinander. Schon wollte er durch die Türe treten, da fuhr der Arzt in den Hof. Auf seinem hochrädrigen Wagen, den jungen Diener neben sich, kam er daher, ein bartloser schlanker Mann, elegant und fast jugendlich aussehend, solange man ihn nicht scharf betrachtete. Dann aber sah man, daß unter dem hellen, ganz kurz geschnittenen Haar gar manches graue war, und daß viel seine Runen über das gebräunte Gesicht liefen. Mit einem ernsten Blick in den scharfen Augen grüßte er den Sohn des Hauses und zog den Kutschierhandschuh ab, um ihm die Hand zu reichen. Da fiel mit leisem, hellem Klang etwas in die feinen Meerkiesel, die den Hof glitzernd bedeckten. Ein kleiner, goldgefaßter Bernsteinknopf war es aus des Arztes Manschette.

Die Männer bückten sich und suchten. Der Diener stieg 27 vom Wagen, Knechte kamen herbei. Sie suchten alle, suchten und zerwühlten den Kies, und fanden nichts.

Wenn Forstmeister Auerstein mit seinen Erinnerungen bis hierher gekommen war, mußte er ein wenig verweilen und sich wundern. Etwas herzbeklemmend Verwunderliches war es, daß mit diesem kleinen verlorenen Bernsteinknopf ein Mannesschicksal, sein Schicksal anfing.

Hätte damals dieser schwedische Arzt, Baron Leintal, den Knopf nicht verloren, oder hätten ihn die eifrig suchenden Leute gefunden, dann – ja dann!

Der Mann lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. Hätte – wäre – würde! – In den Ketten solch niedriger Bedingtheiten hängt die schwere, wuchtige Schicksalswelt und wird so sicher, ach, viel zu sicher getragen.

Des Vaters Sterben war dann eine stille, schlichte Sache. Der Kranke lebte noch einmal auf, als der Sohn sein Pfleger wurde; aber die Freude des Wiedersehens wirkte nur aufpeitschend und nicht auf die Dauer.

Doch hatten sie noch schöne und wahrhaft heilige Stunden zusammen, die beiden Männer, und das Schönste daran war, daß von dem Sterbenden alles wie eine Schale abfiel, was im Leben so oft sein Wesen und seine Art verzerrt und entstellt hatte.

Der nahende Tod war auch hier ein Vereinfacher. Aus dem verwirrten Zeichengewimmel des sich rundenden Lebens suchte er die Wurzeln und Grundzahlen heraus und stellte sie noch einmal klar und leuchtend auf den Plan.

Ein streng kirchlicher Mann war der Vater, wie die 28 meisten der anderen Herren, immer gewesen. Nun, da es zum Tode ging, zeigte es sich, daß er ein frommer Mann war. Ohne Furcht, ohne Ausflüchte, ohne feige Zerbrochenheit ging er in einem wahrhaft kindlichen Vertrauen und mit wahrhaft männlicher Ruhe der großen Wandlung entgegen.

Und auch von seinem, oft wie durch ein böses Fieber übersteigerten Deutschtum fiel alles Kranke ab. Mit tiefer Einsicht, ja mit prophetischem Blick sprach er von dem weiten Slawenreich und seiner germanischen Oberschicht. Er bestätigte, ohne es zu wissen, in merkwürdigen tragischen Worten des jungen Sohnes Ahnen, daß Herren zu Tyrannen und Knechte zu Sklaven werden müssen, wo keine Blutsgemeinschaft ist, und daß sich beide unter unbegriffenem Stachel winden, bis alles wund und verzerrt ist und der offene Kampf beginnt.

Als der Vater von diesen Dingen sprach, verloren seine Augen den Blick und wurden wie Seheraugen, denen das Sichtbare entschwindet und das zu Schauende aus der Tiefe auftaucht. Von Furchtbarem flüsterte er, und der lauschende Sohn merkte mit tiefster Erschütterung, was alles versteckt und gehütet in dieses schweigsamen Mannes Seele gelebt hatte an bangen Sorgen und zehrender Angst um das Höchste, was er kannte auf dieser ihm nun entschwindenden Erde. Wer so viel und so Herzbeklemmendes zu tragen hatte in aller Verborgenheit, der mochte wohl den anderen oft schrullenhaft erscheinen.

Die letzte Bitte des Vaters an den Sohn, die er mit einem aufflackernden Glanz in den Augen vortrug, war die, 29 ihm auf den Stein zu schreiben: »Hier liegt ein deutscher Mann im Baltenland.«

Friedlich, ja lächelnd ging er hinüber in das andere Land und das nächste Leben.

Die deutschen Herrschaften im weiten Umkreis, die schwedischen und deutschen Honoratioren aus der Stadt kamen geschlossen zum Begräbnis. Zu Wagen, zu Pferd, zu Fuß rückten sie an in hellen Scharen. Der Tag war sonnig, und der Himmel stand in tiefer Bläue über den Wäldern, deren Ränder sich verfärbten.

In der scheidenden Sommerpracht ist das Herz auf Sehnsucht, Wehmut, Heimweh gestimmt. Um die offene Gruft des Abgerufenen standen ergriffene Menschen und zum Teil Menschen, denen es war, als hätten sie an dem Toten etwas versäumt, ihn zu viel allein gelassen, zu wenig verstanden, zu wenig an seinem Wesen teilgenommen.

Sie wußten dabei nicht, daß diese zermürbenden Gefühle um fast jeden Grabesrand hochsteigen, und daß sie die leisen Hammerschläge sind, mit denen der Tod die Kette der Lebendigen sachte wieder zusammenschmiedet dort, wo er ein Glied herausgenommen hat. Weil nicht das Zerstören, sondern das Erneuern sein liebstes und geduldigstes Tun ist.

Für Thomas Auerstein wäre es nun an der Zeit gewesen, den langgefaßten und vom sterbenden Vater gutgeheißenen Vorsatz auszuführen und nach Deutschland zu gehen.

An einem strahlenden Herbstmorgen, als der überreiche Tau auf den Blumenrabatten neben der Haustüre funkelte, als seien Diamanten ausgestreut, trat der junge Gutserbe 30 aus dem Hause, um sich auf den Weg zu machen zum Sachwalter seines Vaters.

Der leichte Wagen war schon angespannt, ein Knecht hielt die Zügel und wandte den Kopf nach seinem Herrn; da bückte sich dieser über die taufunkelnden Blumen, als wolle er eine abbrechen. Und dann tat er es doch nicht, sondern griff in die Kieselsteine am Rabattenrand und nahm mit einem lauten Ruf etwas empor, das er betrachtete, als hätte er einen Schatz gefunden.

Der kleine, goldgefaßte Bernsteinknopf des Arztes war es, den damals so viele mit heißer Mühe vergeblich gesucht hatten.

Heute hatte er dagelegen, offen, lockend, in der Morgensonne funkelnd, als rufe er dringend: »Nimm mich doch, nimm mich doch, hier liegt dein Schicksal.«

Nein, das vom Schicksal hatte er wohl nicht gerufen. Das hatte er wohl absichtlich verschwiegen, hatte harmlos getan, als sei nicht die geringste Gefahr, wenn man ihn aus den Kieseln aufnehme.

Der Forstmeister, der im schweigenden Wald von Meßberg an die vergangenen Dinge dachte, erinnerte sich mit einer fast lächerlichen Genauigkeit an den kleinsten Umstand jener Morgenstunde. Er sah, wie sich das Lettengesicht des Knechts verzog vor heimlichem Ärger, daß nicht er das Kleinod gefunden, er sah, wie das Pferd den schönen Hals bog, als wünsche es auch zu wissen, was hier vorlag, er sah, wie auf einmal, gleich den Bienen, die ein zerbrochenes Honigglas wittern, eine Menge Leute umherstanden, die den 31 Bernsteinknopf sehen wollten, als sei er eine große Merkwürdigkeit.

Die schmutzige, zottelige Magd, die das Schweinefutter zu kochen hatte, sah er unter einer Stalltür stehen und lachend mit dem Kopf nicken, während zwei Hunde an ihr emporsprangen.

Warum ihm das nur alles so klar und bildhaft in der Seele geblieben war!

Er erinnerte sich auch noch, wie er den Knopf in ein Stückchen weißen Papiers wickelte, das er seiner Brieftasche entnahm, und wie ihm dabei das Bild eines Mädchens entglitt und zu Boden fiel, das er bei sich trug seit seinem letzten Semester in Deutschland. Mit der Bildseite nach unten fiel es, und merkwürdig: der Gaul hob den Huf und trat darauf.

Verzerrt wie eine Fratze war das junge Gesicht, als Thomas Auerstein das Bild aufhob und betrachtete, und er wußte nicht, ob er es dachte, oder ob es eine fremde Stimme sagte: Auch dies ist heute zu Ende! Er war nicht traurig darüber, oder doch nur so traurig, wie man einem sonnigen Frühlingstag nachschaut, wenn er verdämmert. Das Mädchenbild und was damit zusammenhing, war nur ein kleines Zwischenspiel gewesen, eine aufblitzende Welle im Strom der letzten frohen, vielbewegten Jahre.

Er fuhr aus dem Hof. Ein paarmal wieherte sein junger Gaul laut auf, als sei es ihm eitel Freude, vor dem leichten Wagen in den sonnigen Tag hineinzutraben.

Zum Sachwalter seines Vaters, einem weißbärtigen, freundlichen Herrn, sollte die Fahrt gehen; aber der kleine 32 Bernsteinknopf in dem weißen Papier in Thomas Auersteins Tasche wollte es anders. Statt an dem alten, ehrwürdigen Haus des Justizrates hielt der Gaul nach flotter Fahrt vor der neuen weißen Villa des Arztes, Baron Leintal, die in einer stillen, vornehmen, etwas abgelegenen Straße lag und im freundlichen Strahl der Morgensonne zwischen den leuchtenden Wipfeln goldblättriger Pappeln hervorglänzte, als sei in ihr eitel Glück zu Hause.

Weißt du noch, Forstmeister, wie ein blondköpfiger Bengel von der Straße herzusprang und sich erbot, den Gaul zu halten! Wie du ihm über das lichte Haar fuhrst und erst nicht glauben wolltest, daß er dem Amt gewachsen sei. Wie er dann die blitzenden Augen hob in Verwunderung und Eifer und vorwurfsvoll sagte: »Ich bin doch ein deutscher Junge!« als ob damit jeder Befähigungsnachweis erbracht sei.

Weißt du das alles noch? Und wie du dann durch die lautlos vor dir aufgehende Tür ins Haus tratest und bei dem ebenso lautlosen Sichwiederschließen dieser Tür einen Augenblick lang das wunderliche und dich beunruhigende Gefühl hattest, du seiest in eine Art Mausefalle geraten, in die man wohl leicht hinein-, aber aus der man nicht wieder hinauskommt! –

Nun, damals kam der Besucher wieder hinaus und sah, daß der deutsche Junge das Pferd gut gehalten hatte.

Oder sah er es nicht? – Sah er überhaupt nicht mehr, was um ihn her vorging? War die große Tarnkappe über die Welt geworfen, so daß rings das Nichts, die dunkle Leere war, daraus nur noch ein einziger Stern strahlte? 33

Warum ließ er seinem Gaul die Zügel und fuhr heim wie im Traum, statt die lange Domstraße hinunter zum Sachwalter, nachdem doch der verhexte Bernsteinknopf seinem Herrn zurückgegeben war?

Drei Töchter hatte der verwitwete schwedische Arzt. Zwei schlanke, hochgewachsene, unschöne, schon gealterte, und eine viel jüngere zierliche, fast kleine.

»Die kleine Leintal« hieß sie in der Stadt, »die Kleine« im Vaterhaus. Nie vorher hatte Thomas Auerstein den Namen gehört. Das echt Schicksalhafte taucht ja meist aus dem Dunkel auf und ist da. Die kleine Leintal wurde Thomas Auersteins Schicksal.

Was hatte er an jenem Tag mit ihr geredet? Im Salon war sie ihm entgegengetreten, die zierliche Gestalt von einem losen, glänzenden Kleid umflossen, das ungebräuchlich, ja ein wenig phantastisch aussah. In ihrem dunklen Haar steckte eine schöne gelbe Rose, ihre großen braunen Augen blickten neugierig, vielleicht sogar keck auf den fremden Gast.

Er hatte sich vorgestellt, hatte seines Kommens Grund angegeben und ihr den eingewickelten Knopf in die sehr kleine Hand gelegt.

Sie lachte auf, faltete das Papier auseinander und hielt den Knopf in die Höhe.

»So,« sagte sie in deutscher Sprache, aber mit fremdem Klang, »nun werde ich Vater auch einmal schelten. Er schilt mich oft, wenn ich etwas verliere.«

»So kommt das öfter vor bei Ihnen?« fragte der Gast und konnte den Blick nicht von ihr lassen. 34

Sie nickte. »Ja, ziemlich oft. Ich bin ein Pechvogel. Meine Schwestern sagen – – – aber nun will ich Vater rufen.«

Sie hatte den Satz nicht ausgesprochen, wie ein Kind, das sich verplappern will und noch zur rechten Zeit abbricht.

Das war alles, was Thomas Auerstein aus ihrem Munde gehört hatte. Dann war der Vater gekommen, und die Kleine blieb verschwunden.

Auf dem Heimweg aber sah der Mann den schimmernden Tag nicht mehr und nicht mehr seinen lustig trabenden Gaul. Wie über einem Welträtsel brütete er über dem unausgesprochenen Satz, und es war ihm in jener Stunde nichts wichtiger, als zu wissen, was wohl die Schwestern von dieser Kleinen sagen könnten.

Der Forstmeister lächelte bei dieser Erinnerung. Aber es war kein freies und frohes Lächeln. Es ging ihm durch den Sinn, wie doch die Natur, oder ein höherer Wille, eine ewige Macht ihren Geschöpfen einen verwirrenden Schleier überbreite in dem Augenblick, wenn die Liebe naht. Oder auch das, was man Liebe zu nennen pflegt.

Wie war's doch, – wie war's doch, Thomas Auerstein? –

Die Vorsätze, die Absichten, die Pläne, die seit des Vaters Tod dem Sohn unablässig Seele und Hirn erfüllt hatten, sie waren mit einem Schlag verschwunden, und etwas anderes füllte ihn völlig aus und hielt ihn fest in der Heimat.

Merkwürdig! Linde Leintal war das erste Mädchen doch nicht, dem er in die Augen blickte! Den Balten auf den hohen Schulen, den Söhnen reicher Gutsherrn machte man 35 es nicht zu schwer in diesem Punkt. Aber es mögen viele durch ein Mannesleben huschen und vorübergleiten – eine krallt sich fest.

Die kleine Leintal wurde für Thomas Auerstein die Eine.

Es war nur der im Abendwind aufschauernde Wald und der kleine, mit den Augen bettelnde Hund um den Forstmeister her, aber seine Lippen kniffen sich doch zusammen, als fürchtete der Mann, es könne ein Laut darübergehen.

Was hilft es, zu schweigen, wenn die Gedanken ungebärdig und heiß durcheinanderwogen! Sie tragen immer wieder die alten Bilder vor die Augen, die alten Klänge an das Ohr, die alten Schmerzen in ein Herz. Was dir geschah, Forstmeister, das geht nicht unter, bis dein letzter Seufzer verhallt!

Jahr um Jahr, seit Baronesse Linda Leintal sein Weib wurde, versicherte sich Thomas Auerstein, daß er einst gespürt, wie nicht echte große Liebe, Liebe, die der seinen gleich und ebenbürtig war, die Kleine in seine Arme getrieben. Er versicherte sich – denn es geht um besten Mannesstolz –, daß ihm schon in der Bräutigamszeit manchmal gewesen, als trete ein finsterer Engel heimlich neben ihn und zeige ihm sein bloßes Schwert: »Sieh, damit werde ich dich aus dem Paradiese treiben!«

Wer will solches sehen, solche Sprache verstehen? Der Mann traute seiner heißen Liebesglut zu, sie werde auch das ganze Sein und Wesen der Kleinen in Flammen setzen.

Aber wenn alles auf Erden in Brand geraten kann, so doch nicht ein Herz, in dem das Eis der Ichsucht wohnt. 36 Es brennt nicht und schmilzt nicht, ja es ist, als ob es kälter werde in den Flammen.

Wie bitter litt der Mann, als sich ihm nach und nach aus tausend kleinen und kleinsten Steinchen wie Mosaik das wahre Bild seines jungen Weibes zusammenfügte! Er zermarterte sich das Hirn, das Herz, um andere Erklärungen, andere Ausdeutungen für das zu finden, was er nicht beim rechten Namen nennen wollte.

Nach und nach, als seien seine Augen plötzlich mit höherer Klarheit begabt, kam er hinter alles, auch hinter jenen unausgesprochenen Satz, der ihn damals auf der Heimreise gequält wie ein wichtiges Welträtsel.

Er durchschaute, daß die beiden Schwestern, feine, tüchtige Mädchen, in der Kleinen den bösen selbstischen Geist spürten, der, ohne Pflicht- und Verantwortungsgefühl, in innerlichen und äußerlichen Dingen keine Ordnung, keine Hingabe kannte. Mit verstohlener Sorge, mit einem halb hoffenden und halb angstvollen Zuwarten betrachteten die beiden die junge Ehe der schönen und trotz allem geliebten Schwester.

Manchmal spürte Thomas Auerstein dieses Sorgen, dieses heimliche bange Tasten. Aber er verstand im Überströmen seines ersten Glücks Sinn und Art davon nicht. Später, als die Schäden anfingen, sich an die Oberfläche zu drängen, und die Schwestern in einer rührend unbeholfenen Weise zugleich des Mannes Partei ergreifen und doch auch ihre Kleine nicht allzutief kränken wollten, da war Thomas Auerstein oft von einer bitteren Bewunderung erfüllt für 37 die Alternden, deren verborgene Seelengröße im gleichen Maß vor ihm aufstieg, wie der Nimbus des einst vergötterten Weibes zusammensank.

Sein eleganter, meist kühlfreundlicher Schwiegervater sagte einmal in tiefster Erregung und mit einem jähen Zucken um den glattrasierten, sonst so beherrschten Mund: »Freue dich, Thomas, daß du kein Kind hast! Die Kleine ist nach ihrer Mutter geraten.«

Die schmalen Lippen des Mannes schlossen sich nach diesem Wort, das wie ein Blitzlicht über ein Leben hinstreifte, noch herber und fester als zuvor; aber seit jenem Tag verstanden sich die zwei Männer oft und öfter auch ohne Worte.

Eine der bittersten Stunden seiner Ehe war für Thomas Auerstein jene, als er mit dem jungen Weib von den Gedanken, Erkenntnissen, Schmerzen sprach, die ihn schon in der Jugend unter dem fremden Dienstvolk gequält, und die das Herrsein so schwer machten und einen, wenn auch noch so versteckten, in tiefste Tiefe gebetteten Schimmer von Unrecht darüber breiteten. Jene Stunde, als er zu ihr sprach von der nie ganz schweigenden Sehnsucht, die Scholle zu verkaufen und in das Land zurückzukehren, wohin Blut und Sprache, die Gebeine der Ahnen und alle letzten Wurzeln seines Wesens ihn zogen.

Schallend lachte sie auf, die Kleine, als hätte ihr der ergriffene Mann eine Posse erzählt. Einen Phantasten, ja einen Feigling nannte sie ihn, der eingebildeten Gefahren und ersonnenen Schwierigkeiten ausweichen wolle, einem Jungen gleich, der im Dunkeln um den Baumstrunk einen 38 Bogen schlägt, weil er da einen stehen sieht mit drohendem Prügel.

Was sie sagte, war kindisch und unreif, aber mit jenem bösen Gift besteckt, das selbstsüchtige Menschen wie der Schlangenzahn ausströmen. Und Thomas Auerstein war von da an zu müde, zu abgetrieben, um dieser Frau fernerhin etwas von seinen Schmerzen zu sagen. Er wagte in bitterem Verzichten nicht mehr, ihrer Ichsucht irgendein Opfer, eine Selbstverleugnung, ein Umlernen, ein Mitgehen zuzumuten.

So wucherte das Unkraut ihrer Seele fort ins Maßlose, und in dem Mann erstarb nach und nach mit der hingemordeten Liebe auch jede Freudigkeit, jeder Mut, das Steuer an seinem Lebensschiff herumzuwerfen und alte Pläne durchzuführen. Er harrte aus auf seinem Posten wie ein vom Schicksal bei der Ablösung Übergangener, ein vom Leben Vergessener.

Der Mann im Meßberger Wald träumte vor sich hin. Die ganze Dumpfheit jener unbeschreiblich lähmenden Jahre stand wieder vor ihm auf. Damals war er gealtert wie im Sturm. Etwas zermürbte und zerbrach in ihm, was niemals wieder nachwuchs. Auch nicht, als dann das kindische, zu keinem Opfer willige und fähige Wesen zuletzt selbst das Opfer werden mußte, das den Mann loskaufte aus dem Wahn, in den er innerlich geraten war.

Aber ehe es so weit war, kam noch jenes über die Maßen Häßliche, jenes Kaum-zu-Glaubende, das der Mann selbst im einsamen Wald und im tiefsten Dunkel nicht aus der Erinnerung heraufholen mochte, weil es ihm immer wieder war wie ein Peitschenschlag ins Gesicht. 39

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