Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Die Welt war weit und still an jenem Tag, wie sie 90 manchmal ist, wenn heimlich die ersten Veilchen sprießen und das Leben aus den Schollen drängend ans Licht will.

Ohne Lärm, wie in Versunkenheit gingen auf den sonnigen Äckern die Gespanne; die Wiesen waren von unten her durchschimmert von frischem Grün, und der Fluß zog still und glitzernd zwischen den Erlen.

Beim Veilchensuchen an der Hecke von Johannes Straubs Obstgarten trafen die zwei Mädchen zusammen. Lose in ihren aufgenommenen Rock gesammelt, trug Eva die Blumen; Hanne hatte ihre Beute zu einem dichten, blau und weißen Strauß gepreßt, den sie mit heißen Fingern mühselig zusammenhielt.

Sie verglichen ihre Schätze und stritten ein wenig, dann streute Hanne ihre Blumen zu den andern in Evas Rock.

»Komm,« sagte darauf diese kurz, »du darfst in meinen Garten.«

Ungläubig schaute das bleiche Kind auf; aber sie sagte nichts; sie schritt nur emsig in ihren schweren Schuhen neben der heute barfüßigen, viel größeren Genossin her, die den Kopf trug wie eine, die eine Gnade erteilt hat.

An einer von innen verriegelten Pforte am Garten blieben sie stehen. »Warte hier,« sagte Eva, »ich werde sehen, ob mein Vater nicht drin ist, und dich dann hereinlassen.«

Sie enteilte ins nahe Haus, und die einsame Hanne stand scheu auf dem sonnigen Weg. Das Abenteuerliche lag ihr nicht; es machte sie beklommen und ängstlich. Als ein Abenteuer aber empfand sie es, daß sie in diesen Garten eintreten sollte, der allen Kindern wie ein verbotenes, 91 geheimnisvolles Paradies war; vor dem die hohe, gestrenge Gestalt des Forstmeisters und die fremde Tabea mit dem Männerhaar Wache hielten.

Scheue Blicke warf sie gegen das Haus, ob an den Fenstern nichts Drohendes sichtbar werde, und als wollte sie sich kleiner machen, drückte sie sich hart an die Gartenpforte.

Da wurde diese von innen rasch geöffnet, so daß Hanne taumelnd, fast stürzend, hineingelangte in das fremde Land.

Aber Eva, die sonst über jeden Streich schallend lachte, drückte erschrocken die Hand auf den Mund, als fürchte sie, der Genossin könnte ein Laut entfahren, hier, wo doch die Stille daheim war, die nur die singenden Vögel brechen durften.

Mit einer Sorglichkeit, die ihr sonst fremd war, verriegelte sie die Pforte wieder und nahm Hanne führend an der Hand. An einer Steinbank vorüber, auf der jetzt die gesammelten Veilchen lagen, ging es durch buchsgefaßte, feuchte, noch leere Gemüsebeete in das Buschwerk hinein.

Dunkle Eiben und rötlich schimmernde Mahonien standen mit niederen Föhren zusammen in düsteren, nie gelichteten Gruppen. Das noch kahle, aber schon vom drängenden Grün schimmernde Gehänge alter Lärchen wiegte sich in lautlosem Rhythmus darüber im Frühlingswind.

An Fichten und Tannen wucherte das dürre Geschling der Waldrebe und der kletternde Efeu empor, die ersten Windröschen und die noch dichtgerollten Spiralen der Farne drängten zwischen faulenden Nadeln und altem Laub aus der moderig riechenden Erde. 92

Schmale, fast verwachsene, von Flechten grüngefärbte Wege gingen durcheinander, und für Hanne war es zum Erstaunen, wie flink und sicher Eva in der Wildnis ausschritt.

Auf einer Lichtung machten sie Halt. Ein schwerer steinerner Tisch stand da, auf seinem plumpen Schaft und mit der graugrünen Färbung fast anzusehen wie ein aus der dunklen Erde gewachsener Riesenpilz. Das Busch- und Baumwerk umschattete den Platz, daß es kühl und feucht war inmitten des sonnigen Frühlingstags, als sei ein Stück trotzigen Winters hier zurückgeblieben. Es war, als ob Eva von der frostigen Kühle nichts spüre. Sie schritt auf die halbzerbrochene Bank zu, die sich an den Stamm eines efeuumwachsenen Baumes schmiegte, und setzte sich, daß ihre nackten Füße baumelten.

»Komm,« rief sie herrisch, aber doch mit verhaltener Stimme, »hier darfst du sitzen.«

Aber die andere stand ohne Regung. Wie von eisigem Frost durchschauert sah sie aus. Ein bläulicher Schatten lag über ihrem Gesicht, an dem dicken Hals klopften schwer die geschwollenen Adern, und die sonst so ruhigen Augen hatten einen stechenden Blick. Auf einmal stöhnte sie auf, wie erwachend, und wandte sich fliehend in plumper Hast auf den engen Weg zurück.

Erstaunt sah Eva ihr nach. Langsam, wie in Verwirrung, glitt sie von ihrem Sitz. Dann schaute sie sich verwundert um, bekam einen scheuen, ja schreckensvollen Ausdruck ins bewegliche Gesicht und eilte hinter der Genossin her, daß ihr Röcklein flatterte. 93

Draußen, wo die Sonne schien, zwischen den Buchsgängen im Gemüseland, standen die Mädchen. Überflutend von tiefer, vielleicht feindseliger Erregung waren beider Blicke, als sie jetzt ineinandertrafen. Beide atmeten schwer, und es war doch nur ein kurzer Lauf gewesen.

»Hast du etwas gesehen?« stieß Eva hervor.

Da fing die Bleiche zu zittern und dann heftig zu weinen an, und sie weinte halblaut und schluchzend in ihre Schürze hinein und ging davon, ohne zu antworten.

Am Tag darauf fehlte sie in der Schule, und es hieß, sie liege krank.

Eva Auerstein schlich um das Häuslein von Hannes Großmutter, und getraute sich nicht hinein. Zuletzt faßte sie sich ein Herz und rief zum Fenster hinauf: »Hanne!«

Aber es kam keine Stimme noch Antwort, nur die gelbweiße Katze strich um das Geländer der niederen Staffel, und hinter der Stalltür klirrte die Kette der Kuh.

Wochenlang dauerte die Krankheit; aber sie hatte keinen Namen, und die Großmutter holte den Doktor nicht.

Wenn jemand nach Hanne fragte, so hieß der Bescheid: sie hat das Frieren. Und am Frieren ist ja noch keiner gestorben. Erst die Lindigkeit der Maienluft und der Duft blühender Wiesen und Hecken machten der Kranken das eisige Blut wieder warm. Da kam sie herausgekrochen auf die sonnige Hausstaffel.

Die Katze strich um sie her und rieb den Buckel an dem schmächtigen Gestältlein. Die Spatzen badeten im warmen, weißen Straßenstaub und balgten sich vor den stillen großen 94 Augen des Kindes. Aber als zum erstenmal Eva Auerstein in die Nähe kam, trat in diese Augen ein Erschrecken, eine Erinnerung, die nicht gut war für die Genesende. »Geh,« sagte sie dringend und angstvoll, »geh, ich fürchte mich!«

Aus der Freundschaft war ein scheues Sichfliehen geworden. Ein unsichtbarer, schwerer, dunkler Stein lag zwischen den beiden, den ihre Kinderhände nicht zu berühren wagten und nicht fortschaffen konnten.

Ein eisiger Schatten gaukelte zwischen ihnen, dessen Kälte sie auseinanderscheuchte, ohne daß sie sich Rechenschaft darüber geben konnten, warum alles so geworden sei, und es dauerte lange, bis sie sich einigermaßen wieder zueinanderfanden.

Wer will errechnen, wie lang und wie reich Kindheitsjahre sind! In vier ihrer Wochen geht mehr und Erstaunlicheres hinein, als in ein späteres Jahrzehnt. Sie haben ihr besonderes Längen- und Tiefen- und Breitenmaß, denn bei all ihren leuchtenden Stunden schimmert noch die Zeitlosigkeit mit, die weite Ewigkeit, aus der sie hergekommen und die den alternden Wanderern über die Erde zurücktritt, weil diese zählend und rechnend ihre Stunden und Tage ineinanderfügen, so daß kein Spalt und kein Spältlein bleibt, durch das der ewige Glanz hindurchschimmern könnte.

Wie lang und wie reich war zum Beispiel jener wunderbare Sommer, in dem Tag um Tag die Sonne leuchtend emporkam, über die fernen Baumwipfel stieg und mit goldenen Fingern nach Evas Bett und nach dem schlafenden bräunlichen, von den verwirrten Haaren umkräuselten Gesicht tastete. 95

Taten sich dann die dunklen Augen langsam auf, so war in ihnen noch etwas von dem fremden Ufer, dem unbekannten Leben, das drüben im Traumland die Seele umfängt, und sie schauten blicklos, fast verstört in die helle Stube.

Aber von dem Morgenglanz, der durch die Fenster strömte, schlüpfte jenes Fremde scheu und rasch zurück, wie ein Tierlein, das vor einem Feind in die Höhle huscht, darin es daheim ist. Dafür traten nun keck und lockend, grüßend und winkend und mit einem Mund voll klingender Versprechungen die Freuden, die Hoffnungen des aufsteigenden Tages heran, und sie ruhten nicht, ehe sich der dunkelhaarige Kopf aus den Kissen hob.

Aber manchmal, und seit der Schulzeit nicht gar so selten, traten auch schreckende Gestalten herzu: Grinsende Drohungen, peinliche Erwartungen, quälende Erinnerungen, mürrische Gewißheiten. Sie tanzten einen üblen Reigen, und ihr Schatten dämpfte das Morgenlicht.

An solchen Tagen ließ sich Eva geduldig wie ein Lamm und ohne jedes Ächzen die wirren Haare bürsten und flechten. Sie wehrte sich gegen kein Kleid, das Tabea verordnete, sie fand die Milch nicht zu heiß, sie ordnete ihre Bücher und Hefte mit stiller, peinlicher Sorgfalt.

Auf der gestrengen Tabea Behauptung, daß dieses alles wohl wieder von einem schlechten Gewissen herkomme, gab Eva keine Antwort und konnte keine geben; denn sie kannte sich lange nicht aus in den vieltönenden Stimmen, die ihr in der Luft erklangen, so stark, so hell und vielgestaltig, wie sie nur in denen aufklingen, die diese Erde wie Gäste und 96 leichtfüßige Wanderer betreten und sich nicht von ihr einfangen und in den dumpfen Sack stecken lassen.

Mit der Schule stand Eva in einem seltsamen Verhältnis. Sie war ihr nicht das Unabänderliche und mit zwingender Macht Ausgestattete, als das sie über den andern stand. Vielmehr trug Eva das starke und bis zum letzten Schultag nicht weichende Gefühl in sich, daß es ihr eigener, jederzeit widerruflicher Wille und Entschluß sei, mitzutun und sich den Gebräuchen und Ordnungen zu fügen. Vielleicht war sie aus dieser inneren Freiheit, aus diesem stolzen Vorbehalt her die lebendige, mitgehende Schülerin, die sie in den meisten Stunden war, und vielleicht lernte sie gerne und leicht, weil sie alles aus freiem Willen zu tun meinte. Wie das beste Pferd, das dem Zügel am liebsten gehorcht, diesen am wenigsten spüren darf.

Als die Weisheit der dörflichen Schule nicht mehr genügte, trat Tabea in die Lücke und unterrichtete Eva noch zu Hause in streng eingehaltenen Stunden. Diese Nebenschule war es, die Eva als Zwang empfand, als eine Vergewaltigung, gegen die Auflehnung am Platze sei.

Aber die Kurzhaarige hatte sich in einem harten, oft geknechteten Leben die Zähigkeit geholt, einem stürmischen Sinn starr zu begegnen. Der Forstmeister trat auf ihre Seite, und Eva glich lange dem bockenden Füllen, auf das man den ersten Zaum legt.

Aber an ihrem jungen, schwanken Wesen zerbrach nichts unter diesem Zwang, und bald nachher nahm sie es mit Gelassenheit hin, daß sie nun mehr als früher unter Tabeas 97 Regiment stand. Ja, es keimte mit der Zeit etwas auf in dem erwachenden Kind, eine Anteilnahme an dem menschlichen Geschick der Kurzhaarigen, ein Sichbegegnen auf nicht feindlichem, nicht gefährlichem Boden, so daß das Verhältnis zwischen den beiden sich unvermerkt entspannte, wenn es auch kein inniges wurde, weil die Kühle, die geradlinige Nüchternheit der Baltin das nicht zuließ.

Dieses innige Verhältnis, ohne das ein heißblütiges junges Menschenwesen nicht leben kann, und wenn es an den unmöglichsten Orten danach suchen und den merkwürdigsten Gegenstand dafür wählen müßte – Eva fand es in jenem wunderschönen Sommer bei der alten Fev.

Über den Zaun hinüber fing es an, als das Weib Unkraut jätete im Pfarrgarten.

Dort blühten in den Rabatten die hohen Rittersporn, der weithin leuchtende Gartenmohn, die frommen Lilienstengel, die nach Unschuld aussahen und nach Schuld dufteten, oder doch nach einem heißen, fremden Begehren. Dort hing der Jasmin in blütenschweren Zweigen über eine freundliche Laube, und die holden Knospen der Moosrosen standen arglos neben dem blauen Eisenhut, dessen Gift für den Kundigen den Zaubermantel ausbreitet und Raum, Zeit und Erdenschwere versinken macht.

Zwischen diesem Sommerprangen kniete das verkrümmte Weib mit dem Altersschnee auf dem Scheitel. Das verwaschene Tuch auf ihrem Haar war zurückgesunken, Schweißperlen standen auf dem braunen, runzelvollen Gesicht, und die zitternden Finger rauften das spärliche 98 Unkraut, das in dem sorglich gehaltenen Garten aufkommen konnte.

Es war kein notwendiges Amt, das die Alte versah. Mitleid hatte es ihr angewiesen. Aber sie war mit einer Vertiefung und einem Eifer dabei, als hänge Großes an ihrem Tun. Sie genoß jene Gnade, die den Jüngsten und den Ältesten dieser Erde zuteil wird: daß noch nichts oder nichts mehr für sie da ist, was mit fremder Wichtigkeit die Wichtigkeit der eigenen Dinge erdrücken könnte.

Wie schon oft, sah an jenem Tag Eva aus dem kühlen, tief beschatteten, auch im Sommersonnenglanz noch feuchten und dämmerigen Garten des Forsthauses hinüber nach dem so ganz anderen, auf Licht und freundliche Nützlichkeit angelegten Pfarrgarten. Es war dann immer eine Sehnsucht in ihr, ein merkwürdiges Heimwehgefühl, für das sie nicht Namen, nicht Grund, nicht Ursache wußte, und das nicht gestillt war, wenn sie durch die ihr bekannte Lücke am Zaun in den Pfarrgarten schlüpfte.

Auch wenn sie drüben stand auf den sonnigen Wegen zwischen den lachenden Blumen, war diese Sehnsucht noch da, ja da glühte sie erst recht auf und wurde oft so stark, daß der Kleinen die Tränen kamen vor einem Schmerz, den sie nicht verstand.

Lange und in großer Versunkenheit sah sie an jenem Tag der Fev auf die runzeligen Hände, die da an der Erde wühlten. Dann machte sie einen tastenden Versuch, mit dem Weib in ein Gespräch zu kommen. »Du,« sagte sie leise.

Aber die Alte achtete ihrer nicht, oder tat wenigstens nicht 99 dergleichen. Da streckte Eva die Hand und den braunen Arm durch den Zaun. »Du, gib mir eine Lilie!«

Nun drehte das Weib den Kopf und besah sich den Zaungast. »Nix, nix,« sagte sie kurz, »die Lilien gehören Pfarrers.«

Da wurde es wieder still, und die Alte versenkte sich eifriger als zuvor in ihre Arbeit.

Eva scharrte mit dem nackten Fuß in der feuchten Erde; aber ihre Gedanken waren woanders. Auf einmal straffte sie sich, als sei sie zu einem Entschluß gekommen. »Du,« fragte sie fast gebieterisch, »ist das wahr, daß du hexen kannst?«

Die Alte schaute rasch auf. In ihren Augen war ein seltsames Leuchten. »Wer sagt's?«

»Alle sagen's. Schreiners Hansjörg hat dich sehen zum Schornstein hinausfahren auf einem Besenstiel, und Stefans Hedwig hat in deinem Holzstall eine goldene Maus mit einem silbernen Schwanz gesehen.«

Das Weib nickte mit dem Kopf. Aufgelebt, ja fast aufgeblüht sah sie plötzlich aus. Ihre Worte hatten einen harschen und hochmütigen Klang, als sie sagte: »Schreiners Hansjörg soll bei Nacht daheim bleiben, dann sieht er nichts, und Stefans Hedwig gehört einem hoffärtigen Pack, sonst müßte sie Kätterle oder Bärbele getauft sein. Wenn die Leute den rechten Sinn nicht haben, dann ist auch kein Verlaß, daß sie die Mäuse recht sehen.«

Groß und saugend hingen Evas Augen an dem Weib. Sie zwängte ihren nackten Fuß durch die Zaunlatten, als wolle sie möglichst nahe herkommen. Die Antwort genügte ihr nicht. 100 »Sag doch, ob du hexen kannst!«

Die Fev richtete sich langsam von der Erde auf. Sie war so verkrümmt, daß sie kaum größer war als das Kind. Ihre Augen suchten in Evas bräunlichem Gesicht. »Ich kann dir's nicht sagen,« flüsterte sie geheimnisvoll, »du kannst nicht glauben.«

»An was merkst du das?« fragte ebenso flüsternd und geheimnisvoll Eva. Die Alte machte ihr einen Luftstrich übers Gesicht und sagte: »Es schaut ein Teufelein aus dir.«

»Jetzt?« fragte rasch, aber eher neugierig als erschrocken die Kleine, und sie zog blitzschnell ein Spiegelein aus der Tasche, ein rundes, talergroßes Ding, das ihr der Küfer Lutz vom Faßmarkt aus der Stadt gebracht hatte in treuer Freundschaft. Sie hielt sich's vors Gesicht, erst ganz dicht und dann von weitem, und prüfte und suchte, wie vielleicht ein Junge suchen mag, dem jemand sagte, der erste Bart beginnt zu sprossen.

Die Alte schüttelte den Kopf. »Du bist recht dumm! Bei Tag zeigt sich kein Teufel im Glas. Aber bei Nacht, da schneidet er Fratzen. So hat Lehnfrieds Christine in Zainingen drüben, die gar sauber, aber auch recht eitel war, bei Nacht in ihrem Spiegel einen Teufel gesehen und ist darüber hintersinnig geworden.«

»Was ist das: hintersinnig?« fragte die Kleine und ließ ihr Spiegelein sinken.

Das Weib rieb sich die Erde von den Händen. »Das ist's: wenn eine das Lachen verlernt und keine frohe Stunde mehr hat und wie gestorben ist bei lebendigem Leib.« 101

Eva steckte ihr Spiegelein in die Tasche. Ein tiefes Nachsinnen lag auf ihrem Gesicht. »Hast du das Teufelein bei mir gesehen?«

Die Alte nickte.

»Mußt du nun auch hintersinnig werden?«

»Ich nicht. Ich hab' etwas, was mich fest macht.«

»Wenn du aber nichts hättest?«

»Dann schon.«

Wieder lag tiefes Nachsinnen über dem braunen Gesicht Evas.

»Müssen die andern hintersinnig werden, wenn sie mein Teufelein sehen?«

»Schätz' wohl. Aber es guckt nicht immer aus dir.«

»Wann guckt es aus mir?«

»Wenn du den rechten Glauben nicht hast.«

»Was ist das: der rechte Glaube?«

Der eingefallene Mund der Alten verzog sich zu einer Grimasse, und all die Runzeln des schweißfeuchten Gesichtes zuckten, als sollte ein Lächeln werden.

»Frag deinen Vater oder den Pfarrer! Was kann denn ich wissen!«

Einen Augenblick schaute Eva ratlos und hilflos drein. Wieder war da eine der unlösbaren und undurchschauten Verwicklungen des Lebens, die den Tag zu verdüstern drohten, sooft sie am Horizont auftauchten. Aber sie schüttelte sich innerlich, sie schob diese unguten, dunklen Dinge weg und suchte abseits davon auf andern Wegen vorbeizukommen.

»Sage mir, wie man hext!« bat sie unvermittelt. 102

Das Weib gab lange keine Antwort. Ihre Blicke musterten wie in ernster Prüfung das zierliche Kind.

»Zu was möchtest du denn hexen können?« erkundigte sie sich dann.

Eva besann sich. Sie hatte ins allgemeine hinein den Wunsch gehabt zu hexen, und war nun überrascht, daß diese Frage auftauchte.

Dann sagte sie langsam und wie aus guter Überlegung heraus: »Ich möchte Hanne gesundhexen können und daß ihr Kropf vergeht und daß sie nicht die Schwindsucht bekommt, wie Stasel sagt.«

»Sonst nichts?« fragte die Alte.

»Ich möchte auch machen können, daß der Küfer Lutz ein Kind hat zum Spielen, und daß man sieht – daß die Stasel sieht,« verbesserte sie sich, »wie um den Kopf von Johannes Straubs Weib ein heller Glanz her ist.«

»Sonst nichts?« klang noch einmal die Frage.

»Und daß der Semme, dein Sohn, nicht mehr so häßlich ist und nicht mehr ein Gesicht hat wie ein – wie ein –« sie stockte und suchte – »wie einer, der einem Vogel gleich sieht.«

Die Alte schaute in sichtlicher Überraschung auf. »Einem Vogel sieht er gleich, sagst du?«

Eva nickte. »Einem Vogel in meinem Bilderbuch, ich kann dir's zeigen.«

Das Weib brach einen Stengel Eisenhut. »Da,« sagte sie, »leg das unter dein Kopfkissen. Aber sehen darf es niemand. Wenn es dürr und welk ist, wirfst du es ins Wasser und läßt es unter einer Brücke durchschwimmen. Dann kannst du 103 hexen, wenn du alt genug bist. Jetzt bist du noch zu klein und zu jung.«

Die braune Kinderhand griff nach dem Blütenstengel. Eine scheue Andacht lag auf Evas Gesicht.

»Werde ich dann alles hexen können?« fragte sie leise.

Das Weib zeigte wieder das grinsende Lächeln. »Alles kann kein Mensch hexen. Die einen hexen Gutes, die andern Schlechtes. Der Stengel, den du hast, ist fürs Gute. Wenn du hättest Schlechtes hexen wollen, hätte ich dir müssen dort die weiße Lilie geben.«

In des Kindes Gesicht trat ein merkwürdiger Ausdruck. Nach der weißen Lilie sah sie und dann auf die blauen Blüten in ihrer Hand. Es war, als ob sie vergleichen, abwägen, abschätzen wolle und als ob die Wahl sie quäle.

»Die weiße Lilie ist viel schöner,« meinte sie dann zögernd und unschlüssig.

»Kannst sie noch haben,« sagte das Weib wie ein Versucher.

»Dazu? –«

»Nein, dazu nicht. Hab' ich dir nicht gesagt: entweder – oder.«

»Was kann ich mit der Lilie hexen?«

»Das mußt du wissen, was du Schlechtes willst.«

Eva sann sichtlich angestrengt nach; ihre dunklen Augenbrauen rückten zusammen. »Daß Fräulein Tabea mir nichts mehr befehlen darf,« sagte sie dann entschlossen.

Das Weib machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Da braucht's die Lilie nicht, das geht noch da her,« und sie deutete auf den Eisenhut. 104

Eva drehte den Kopf, als müsse sie sich irgendwo Rats erholen, und ihr suchender Blick fiel auf jene Baumgruppe, in deren dunkelfeuchter Mitte sich Hanne dazumal das eisige Frieren geholt hatte.

Da sagte sie scheu: »Sehen möchte ich, was man nicht sieht.«

Mürrisch entgegnete die Alte: »Das hast du doch schon vorhin gewünscht, das ist noch nichts Schlechtes.«

Eifrig verteidigte sich das Kind. »Ich meine nicht das Schöne von vorhin, nicht den Glanz um der Bäuerin Kopf! Den habe ich doch gesehen! Ich meine das, was ich nicht sehe, was nur die Hanne gesehen hat, das, von dem man das Frieren bekommt.«

»Ach was,« entgegnete abweisend das Weib, »das ist alles nichts Schlechtes! Weißt du nichts Schlechtes, zu was willst du denn die Lilie?«

»Jetzt weiß ich's,« rief, wie von plötzlicher Erleuchtung gepackt, die Kleine, »ich will wissen, wo die Kinder herkommen.«

Betroffen schaute die Alte drein, dann bückte sie sich langsam nach dem weißen Lilienstengel und brach ihn ab.

Als sie sich aufrichtete, lag ein unguter, harter Zug auf ihrem Gesicht. »Da,« sagte sie kurz, dem Kind den Stengel hinreichend, »gib mir den andern.«

Eines Augenblicks Länge zögerte Eva, dann reichte sie die blauen Blumen durch den Zaun und nahm die Lilie. Jubelnd ging sie davon, und Fev beugte sich wieder nieder zur Erde, um Unkraut zu jäten. 105

Aber sie hob jetzt oft den Kopf und murmelte dann und wann vor sich hin. Einmal klang's: »Einem Vogel, sagte sie, einem Vogel sieht er gleich –«

Von diesem Tage an waren Eva und die alte Fev Freundinnen. Wo sie sich trafen, redeten sie zusammen, und es gab kein Erlebnis, das das Kind nicht vor die Alte hingebreitet hätte. Nur von dem Lilienstengel und seiner heimlichen Kraft war lange nicht die Rede.

Einmal aber, als es schon dunkelte und Eva am niederen Häuslein der Alten durchs offene Fenster schaute, winkte die Fev, sie möge hereinkommen. Sie folgte mit schlechtem Gewissen, denn Tabea wollte nicht, daß sie sich in all den fremden Stuben herumdrücke.

Ein merkwürdiger Geruch war in dieser Stube, auch wenn die kleinen Fenster offenstanden. Es roch nach Ruß und Leder und Pferdestall, nach Lampenöl, Schweiß und Zichorie.

Schnuppernd blieb Eva auf der Schwelle stehen und sagte: »Der Semme ist da.«

Das Weib räumte den Kaffeetopf und das Brot vom Tisch. »Schon wieder fort ist er,« sagte sie, »aber er tut dir nichts, auch wenn er da ist.«

»Weißt du,« erklärte das Kind, »ich mag ihn nicht gern sehen. Magst du ihn gern sehen? Er ist nicht schön.«

»Schön ist er nicht,« sagte trocken das Weib.

Eva, die barfuß war, wie fast immer, trat unhörbar in die Stube. »Warum ist er nicht schön?« fragte sie dicht hinter der Alten, so daß diese erschrocken zusammenfuhr.

»Weiß ich's? Vielleicht, weil sein Vater – –« Sie 106 brach ab und fragte: »Hast du damals den Lilienstengel unter einer Brücke durchschwimmen lassen?«

Eva erinnerte sich nicht sogleich, was gemeint sei. Dann sagte sie zornig: »Tabea hat ihn unter meinem Kissen weggenommen.«

»O du!« entgegnete das Weib ärgerlich, »habe ich dir nicht gesagt, sehen dürfe ihn niemand.«

»Sie hat ihn gerochen, als sie mir Gute Nacht sagte und betete. Mitten im Beten hat sie ihn gerochen.«

»Nun ja,« murrte die Alte, »hättest du den blauen Stengel behalten, den hätte sie nicht gerochen, auch nicht beim Beten.«

Niedergeschlagen stand Eva. Es sah aus, als komme ihr erst nach und nach zum Bewußtsein, was sie vergeudet habe.

»Werde ich es jetzt nicht wissen?« fragte sie gedrückt.

Mit ihrer Schürze fegte die Fev Brosamen und Kaffeespuren vom Tisch. »Was wirst du nie wissen?«

»Ich sagte dir's doch! Das von den Kindern – wo die herkommen.«

Klatschend schlug das Weib mit der Schürze auf den Tisch. »Kannst's nicht erwarten, daß du's weißt, und ist doch die Welt am schönsten, ehe man gescheit wird.« – –

Eva schlich zur Bank und setzte sich, daß die Füße baumelten. Die braunen, nicht ganz sauberen Hände hielt sie im Schoß gefaltet, und so sah sie sich um in der Stube, die ihr immer aufs neue schön und merkwürdig vorkam, sooft sie schon dagewesen war.

Es lief ein dunkler Balken durch die niedere, verrußte Decke der Stube, und an diesem Balken waren mit roter 107 Farbe Vögel gemalt, wie es sonst keine auf der Welt gibt. Diese Vögel saßen auf blauen Blumen, wie sie in keinem Garten wachsen, und da und dort hing noch eine Traube dazwischen, oder ein Apfel von ganz fremder, besonderer Sorte. Nicht satt sehen konnte sich das Kind an diesen Herrlichkeiten, und schon um des einen Deckenbalkens willen wäre ihr die Stube wichtig gewesen. Aber es gab noch andere Dinge da. So die zwei ausgestopften Tauben, die sich schnäbelten, und eine weitere Taube, die von der Decke hing und mit vieler Kunst von Semme aus einem leeren Gänseei und zusammengeklebtem Gefieder gemacht war. Der Kopf bestand aus Brotteig, der einen silberschimmernden Überzug erhalten hatte und nun mit den gelben Augen aus gläsernen Stecknadelköpfen fast drohend auf Eva herniedersah.

Wenn Fev in freundlicher Stimmung war, dann gab sie, dem kleinen Gast zu Ehren, dieser Taube einen gelinden Stoß, so daß sie an ihrem Faden zu schwingen anfing und dadurch einen fast unheimlichen Schein des Lebens annahm, der Eva immer von neuem in tiefe Verwunderung, ja oft in ein heimliches Grauen versetzte, weil ihr dabei so recht zum Bewußtsein kam, daß die Fev eine Hexe war.

Auch ein weißes Schränklein stand in der Stube, beschmiert und beschmutzt von breiten Fingerabdrücken und all den Spuren langen Gebrauchs. Es trug Malereien, die aber bis auf kümmerliche Reste abgesprungen waren, und diese Reste zeigten verschlungene, unentwirrbare Formen, von denen die Fev sagte, das sei Hexenschrift, die Eva vielleicht einst werde lesen können, wenn sie alt genug sei. 108

Das Kind nagte mit seinen Gedanken herum an diesen wunderlichen Zeichen, die so ganz anders waren als die Schriftzeichen, die sie in der Schule kennengelernt hatte, und ein brennendes Verlangen quälte sie manchmal, jetzt schon einzudringen in diese Welt, die ihr für später verheißen war.

In dem Schränklein standen Schüsseln und Töpfe, der Brotlaib lag darin und das Flachsgarn, das Fev im Winter gesponnen hatte. Dann waren ein paar ledergebundene Bücher da, deren altersfleckige Blätter wie weiche, faserige Lappen aussahen, die von ledernen Spangen mühselig zusammengehalten wurden.

Ob es Hexenbücher seien, hatte Eva gefragt, als sie sie zum erstenmal sah. Aber die Fev schüttelte den grauen Kopf. »Was denkst du! Zum Hexen brauche ich keine Bücher. Wenn man so alt ist, wie ich, kann man's auswendig.«

Gebetbücher waren es, und in einem gab es Bilder: Jerusalem, die Stadt mit den goldenen Zinnen und Toren, hoch in den Bergen, und das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, mit der Siegesfahne.

Diese Bilder anzusehen wurde Eva nicht satt. Ihre Augen weiteten sich und leuchteten, und es tat sich vor ihr eine Ferne auf, ein Land der Schönheit, zu dem die beiden Bilder der geheimnisvolle Schlüssel waren.

Die Fev aber erzählte, wie sie schon oft in Jerusalem gewesen sei. Da gibt es einen Weg in der Stadt, der führt einen hohen Berg hinauf. Rechts und links stehen Häuser, die haben keine Fenster, und ihre Mauern sind grau wie lauter Elend. 109

Diesen Weg ist der Heiland gegangen, dazumal, als sie ihn zum Kreuze führten. Dort hat auf einer Hausschwelle der Simon von Cyrene gesessen, der sich zuerst weigerte, dem Herrn das Kreuz abzunehmen und es erst tat, als ihn Kriegsknechte dazu zwangen, weil Jesus zusammengebrochen war. Darum muß er jetzt als der ewige Jude heimatlos über die Erde wandern, und ein paarmal ist er auch schon durch Meßberg gekommen.

Aber das sind alte Geschichten, die die Fev eigentlich gar nicht erzählen wollte, weil doch jedes Kind sie weiß. Nur das wollte sie erzählen, was ihr passiert ist, als sie kürzlich wieder einmal in Jerusalem war und die Straße mit den grauen Elendshäusern hinaufging.

Da saß auf einem dieser Häuser ein kleines graues Vögelein, das sang immerzu einen merkwürdigen Sang. Nur so ganz leise tat's, wie: »O–je, o–je, o–weh, o–weh!«

Die Fev, die neben Eva auf der Bank saß, ahmte des Vögeleins leises, flötendes Singen nach, auf eine ganz kunstvolle Weise, daß es klang, als rufe irgendwo ein fremder, scheuer, kleiner Vogel.

Dann erzählte sie weiter. Das Vögelein wollte nicht aufhören, auch nicht, als die Fev es durch Händeklatschen zu scheuchen suchte. Leute gab es keine in der steilen Gasse. Die waren alle schon viele hundert Jahre tot. Alle damals auf einen Schlag gestorben, als droben auf dem Berg der Heiland das Haupt neigte und verschied.

»Alle?« fragte das Kind.

»Alle!« entgegnete hart die Alte. 110

»Aber das Vögelein, das war nicht gestorben, das stammte noch von damals her, und es war um des Heilands Kreuz geflogen.«

»Woher weißt du das?«

»Sei doch still! Kannst du nicht warten?«

Als das Scheuchen und das Händeklatschen nicht helfen wollte, dachte die Fev: der Gescheiteste gibt nach! Und sie setzte sich auf die Schwelle von dem Haus, auf dem das Vögelein saß, und beschloß zu warten, wie lange das Tierlein so fortmachen werde mit Singen oder wie man das heißen soll.

Wie sie nun dasaß, merkte sie mit einem Male, daß es an derselben Stelle war, wo der Simon von Cyrene gesessen hatte.

»An was merktest du das?«

»Wenn du dein Maul nicht hältst, erzähle ich nicht weiter,« erklärte das Weib.

Dann ging auch schon ein Türlein auf in ihrem Kopf, daß sie auf einmal verstand, was der Vogel sang, und alles. – »Alles,« wiederholte sie und nickte schwer, mit dem Ausdruck herben Ernstes im verrunzelten Gesicht.

Eva wagte nicht mehr zu unterbrechen. Aber in heißem Verlangen hingen ihre Augen an des Weibes Lippen.

Und diese erzählte weiter; aber in einem andern, fast feierlichen Ton. Sie verstand, daß das Vögelein seit jenem Tag, da der Herr am Kreuz in bittern Qualen schrie, sein schönes, lustiges Singen verlernt hatte, und nun nichts mehr konnte, als das leise, klagende »O–je, O–weh!« Einen andern Namen hatte es seither bekommen; es hieß jetzt »der 111 Jammervogel« und hatte früher »Freudenvogel« geheißen. Der Simon von Cyrene hatte es in einem Käfig gehalten. Aber an dem Tag, da der Herr mit dem Kreuz vorüberkam, war aus Versehen das Türlein am Käfig offen geblieben, und so hatte das Vögelein die Freiheit gefunden. Nun fliegt es immerfort durch die Welt und kann nicht sterben, wie sein Herr. Wo aber bald Jammer einkehren wird bei einem Menschen oder in einem Haus oder in einer Gemeinde, da bleibt es und singt: »O–je, o–weh,« bis gekommen ist, was kommen soll. – –

Das Kind und die Alte saßen nebeneinander in tiefer, trauervoller Versunkenheit. Der warme Wind kam zum Fenster herein und ein ferner heller Amselruf.

Dann fragte Eva leise: »Für wen hat das Vögelein gesungen, damals, als du vorbeikamst und dich hinsetztest? Es waren doch alle Leute tot.«

Das Weib sah sie von der Seite an. »Bin ich niemand? Ich war nicht tot. Mir hat's gegolten.«

»Was für ein Jammer ist zu dir gekommen?«

»Jammer genug,« murmelte die Alte; »dem Semme seine Christiane ist bald darauf tot im Molchsee gelegen.«

Ein leises Grauen lief dem Kind übers Herz. Von dieser Sache hatte sie schon gehört. Die Stasel hatte davon gesprochen, und auch die Buben und Mädchen in der Schule. Es war etwas dabei, das man nicht sagen durfte, etwas ganz Schweres, Schwarzes, Unheimliches, das einem die Kehle zuschnürte.

Wie um diesem Unheimlichen mit Gewalt zu entgehen, stieß das Kind jetzt hervor: »Wer hat's getan?« 112

Das Weib sank ganz in sich zusammen und antwortete nicht. Ihre alten runzeligen Hände legten sich ineinander wie zum Gebet, ihr graues Gesicht hatte etwas Steinernes, Erstarrtes.

In die lange Stille hinein sagte endlich Eva leise und verwundert: »Fev, du legst ja deine Hände zusammen.«

Das Weiblein schien wie aus einem Schlaf zu erwachen. »Ja, warum soll ich sie denn nicht zusammenlegen?«

»Sie sagen, wer eine Hexe ist, legt nie die Hände zusammen.«

Die Alte lachte kurz auf. »Was wissen denn die! Horch doch nicht auf die Meßberger Narren.«

Wieder war's eine Zeitlang still, so daß man das Raunen des Abendwindes in dem Baum vor dem Fenster hörte.

»Warst du seither wieder in Jerusalem?«

Die Fev schüttelte den Kopf. »Damals war's zum letztenmal.«

»Gehst du auch nicht mehr hin?«

»Wenn ich dir doch sage: es war zum letztenmal.«

Leise seufzte das Kind. »Wenn du mich doch einmal mitgenommen hättest!«

»Zu zweit darf man da nicht kommen.«

»Warum nicht?«

»Was weiß denn ich! Meinst du, ich müsse alles wissen?«

»Fev,« begann nach einer Weile Eva wieder, »woher hast du's damals gewußt?«

»Was?«

»Daß du dort saßest, wo der Simon von Cyrene gesessen 113 hat, und daß das Vögelein um des Heilands Kreuz flog?«

Die Alte reckte sich ein wenig auf. Ihre Augen gingen über das Kind. »Das ist das Teufelein, das du in dir hast, das immer aus dir fragt. Kannst du nicht glauben, was ich dir sage?«

Erschreckt duckte sich Eva, ein Zug von Ratlosigkeit trat auf ihr braunes Gesicht. »Wenn es doch das Teufelein ist!« sagte sie dann fast kläglich.

Das Weib schüttelte ungeduldig an ihrer Schürze. »Ach was, auch einem Teufel kann man das Maul verbieten. Was meinst du, wie oft ich es meinem schon verboten habe!«

»Hast du auch einen?« fragte die Kleine erfreut.

»Will's meinen,« bestätigte das Weib, und es klang fast stolz, »alle rechten Leute haben einen.«

Mit großen Augen schaute Eva durchs Fenster in das Spiel der Blätter. Ein neues wichtiges Stück Welterkennen ging in ihr auf, und das Teufelein in ihr, das nicht glauben wollte, war das erste, das Beifall nickte.

»Erzähle noch mehr von Jerusalem,« sagte sie nach langem Schweigen.

»Da ist nicht viel Gutes zu sagen,« entgegnete abweisend die Fev. »Wie ich da vor dem Haus auf der Schwelle saß und das Jammervögelein singen hörte, da sah ich auf dem Weg im Staub die Spur von des Herrn Jesu Fuß.«

»Von beiden Füßen doch,« fiel Eva berichtigend ein.

»Nur von einem sieht man sie noch,« entgegnete das Weib mit einer merkwürdigen Härte in der Stimme; »über 114 die andere ist ein Wagen gefahren. Aber jetzt bist ganz still und läßt mich erzählen, oder machst, daß du weiterkommst. – Also, die Spur habe ich gesehen, und es hat mich gelüstet, daß ich ihr nachging den Berg hinauf. Aber nichts war's. Kein Kreuz da droben und nichts. Bin ganz falsch gelaufen. Alles leer. Alles leer, wie drüben auf dem Eckberg, wo nichts steht als ein Wacholderbusch, und noch ein anderer, der verdorrt ist. Kein Mensch ist mir begegnet, daß ich einen hätte fragen können um den Weg, oder was denn los sei. Nacht ist's geworden. Kommst nicht mehr heim, hab' ich gedacht. Nie mehr kommst heim. Setzst dich hin, hab' ich gedacht. Mitten in lauter Steine. Und ich sitze hin, wo ich gerade steh. Mitten in lauter Steine. Und so schlaf ich ein. In meinem Bett bin ich aufgewacht. So –«

Das Weib hatte vor sich hingemurmelt, wie eine, die mit sich selber spricht, und ihr grauer Kopf hatte dazu gewackelt und genickt.

Eva glitt von der Bank. »Ist's aus?«

»Ist dir's nicht genug, du Gänslein, du dummes?«

Mit einem Ruck hob das Mädchen die Hand. Ein angestrengtes, erschrecktes Lauschen lag in Haltung, Augen und Gesicht. »Horch doch!«

Ein leiser, seltsam klagender Vogellaut kam aus dem Baum vor dem Fenster. »O–je! O–weh!«

Auch das Weib stand jetzt auf. »Das ist er,« sagte sie, »das ist der Jammervogel. So – also der ist auch wieder da!«

Und sie horchten beide in den Abend hinaus, und unaufhörlich erklang der wehmütige Ruf. 115

»Wem gilt's jetzt?« murmelte nach langer Zeit versonnen das Weib. »Gilt's dir, oder mir, oder Meßberg?«

Auf ihren bloßen Füßen lief Eva geräuschlos zum Fenster und starrte nach dem Baum. Aber schon hingen die Schleier der Dämmerung über dem Gezweig, und das dichte Blätterwerk barg den traurigen Sänger. Da klatschte das Kind in die Hände, und man hörte, wie der Vogel schwirrend sich flüchtete. Aber alsbald klang sein Ruf wieder klagend aus weiterer Ferne, und die Fev sagte fast zornig: »Du meinst wohl, man könne ihn scheuchen, du Allergescheiteste! Soll ich dir sagen, wie es einem gegangen ist, der ihn hat scheuchen wollen?«

»Wie ist's dem gegangen?«

»Der hat – und es ist drüben in Reinbach des Ochsenwirts Knecht gewesen – der hat nach dem Vogel mit Steinen geworfen. Immerzu mit Steinen geworfen. Wenn der Vogel ein Stück weiter ist, dann ist der Schorsch nach und alsfort mit Steinen drauf. Und es wird drüber dunkel. So – wie's jetzt draußen ist. Und immer dunkler. Der Schorsch merkt's nicht. Immer dem Jammervogel nach. Er sieht die Steine auf dem Weg nicht mehr; aber wenn er auf den Boden greift, hat er einen. Und immer drauf auf den Vogel. Dann sieht er den auch nicht mehr; aber er hört ihn. Er ist wie wild, und immer tut's vor ihm: O–je, o–weh! Und dann und dann – um Gottes Barmherzigkeit willen – – dann tritt der Schorsch ins Leere und stürzt und schreit – und schreit, daß ich's hör' in meinem Bett.« –

Jäh, mit einem kreischenden Laut schweigt das Weib und fällt auf die Bank zurück wie in Entsetzen. 116

Das bräunliche Gesicht der Eva ist erbleicht. Mit geweiteten Augen fragt sie: »Tot?« –

Mit zittrigen Händen streift Fev über ihren Schoß und sieht nicht auf. »Man hat ihn gefunden in seinem Blut unter Müllers Steinbruch. Gelebt hat er noch und nach mir verlangt. Denn er war mein Schatz, und es ist lang her.«

In das versunkene Schweigen der Alten hinein fragt Eva fast stimmlos: »Und dann –?«

»Dann hat er mir erzählt, wie alles gekommen ist mit dem Vogel. Aber dazumal hab' ich noch nicht gewußt, daß es der Jammervogel ist, denn ich war noch nicht in Jerusalem gewesen.«

»Und dann?«

»Dann hab' ich ihm gesagt, daß sein Schrei zu mir gekommen ist in der Nacht, und wie ich jetzt das Kind heißen solle, wenn es da sei?«

»Welches Kind?«

Es ist, als höre die Fev nicht. Abwesend spricht sie weiter. »Wenn es ein Bub ist, sagt er, soll er Simon heißen, nach meinem Vater. Ist es aber ein Mädchen, dann laß sie Katharina taufen nach meiner Mutter. Und sie sollen dir kein Leids tun und dich nicht verschimpfieren, denn ich sei an allem schuldig. Ja, das hat er gesagt: er sei schuldig, und mich sollen sie nicht verschimpfieren. Ja. Und dann hat er den letzten Schnaufer getan – – Ja – –« Es ist tiefe Stille. Der Wind fährt in die Stube, daß die Taube an ihrem Faden zu schwingen anfängt. 117

Die Fev hebt den Kopf. »Bist du noch da? Mach, daß du heimkommst! Das Betläuten wird gleich anheben.«

Die Kleine rührt sich nicht. Schwere, dunkle Rätsel drücken ihr das Herz, ja die Glieder wie mit eisernen Klammern zusammen.

Draußen klingt aus großer Nähe der klagende Ruf: »O–je, o–weh!«

»Fev,« schreit da plötzlich das Kind auf und klammert sich an die Alte in tiefer Angst.

Des Weibes Hände streicheln zitternd der Kleinen Hand. »Sei still, sei still! Es ist vorbei. Es geht alles vorbei!« – –

*


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