Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Mit mächtiger Schleife umzieht der glasgrüne Fluß ein Gelände, das seit alten Zeiten der Riesenkopf heißt.

In flachen, langgestreckten, teils mit Gras und Heidekraut, teils mit Ginster und Tannenschonungen bestandenen Wellen verläuft oben das Land wie eine gefurchte Stirne. Unten, am Hals, wo die Flußwindungen sich am meisten einander nähern, führt ein sandiger Pfad durch die Heide, auf dem im Sonnenschein die Schmetterlinge spielen und bei Regen die schleimigen Schnecken ihre Spuren lassen.

Abseits von Wegen und Pfaden ragt ein großer grauer Stein in der Einsamkeit. Wenn die Sonne des hohen Sommers darauf liegt, flirrt und flimmert es oft aus ihm, als breche Stolz und Freude aus allen seinen Poren.

Und sollte sich ein Mithrasstein nicht freuen, wenn seine hohe Herrin, seine strahlende Gottheit in mächtigem Bogen über ihn hinzieht? Heilige Feste aus seiner uralten Vergangenheit fallen ihm dann ein, Feste, bei denen er der Mittelpunkt war, wie er jetzt ein Vergessener ist. Wer aber gedenkt nicht gerne in den Zeiten der Kümmerlichkeit ferner Tage des Ruhms und der Ehre!

Aus dem grünen Grund, den der Fluß durchströmt, wenn er die Schleife um den Riesenkopf hinter sich hat, steht ein Dorf. Dunkelbewaldete Hänge schauen darauf, und die grünen Flußwellen eilen nicht allzufern daran vorüber. Neu und gleichförmig an breiten Gassen aufgereiht stehen die Häuser, und fremd, verirrt, einsam ragt an freiem 8 Platz die graue alte Kirche mit den beiden mächtigen Silberpappeln vor dem Eingang.

Man sieht, daß dieses Dorf und diese Kirche einander eigentlich nichts angehen, daß sie nicht Kinder eines Zeitenschoßes sind. Und man sieht auch, daß das Dorf nicht, wie es doch sein soll, von innen heraus gewachsen ist. Es haben da nicht die Häuser Junge gekriegt oder Absenker und Auswüchse. Nicht Generationen haben hier gehaust, die von Zeit zu Zeit keinen Raum mehr gehabt und neue Zellen angefügt haben für Nachkommen und Nachkömmlinge.

Nach fertigem Plan, wie aus der Schachtel genommen, steht die Siedlung um die Kirche, und die Ehrwürdige kann in kein rechtes Verhältnis kommen zu solcher Nachbarschaft.

Versunken in Erinnerungen, fremd und stumm steht sie und denkt an das, was einst mit ihr jung war, neben ihr alt wurde und dann verschwand. An die biberschwanzgedeckten Dächer des Nonnenklösterleins, die ihr ehrfürchtig und demütig zu Füßen lagen, an die mächtigen Linden, die, ein stolzes Zwillingspaar, lang vor den emporgeschossenen Silberpappeln vor ihren Toren rauschten, und auch – wer wollte es ihr verargen – an den Glanz und Klang der vergangenen Gottesdienste, da noch nicht der Augustiner die starke und kühne Bauernhand an heiligen Flitter gelegt hatte, um ihn abzureißen, ehe das Heilige darunter ersticke.

Als eine harte, wenn wohl auch notwendige Tat empfand es die Kirche, und sie wußte, daß damit ihre und auch der Menschen sorglose Zeit auf immer zu Ende gegangen und der nackte, schwere, zwingende Lebensernst heraufgezogen war. 9 Tat so die Kirche fremd und kalt gegen außen, so konnte ihr doch manchmal das hartverwahrte Herz aufgehen, je nachdem ein Mensch bei ihr eintrat. So kam beispielsweise vor langen Jahren ein ganz weißhaariger Stelzfuß zu ihr, von dem einiges gesagt werden muß.

Sein Wagen hatte einen Schaden genommen und mußte ausgebessert werden beim Dorfschmied. Aus Langeweile und weil es in Meßberg nicht viel zu sehen gab, trat der Reisende in die Kirche. Er war lange in keinem Gotteshaus gewesen, und auch heute galt der Besuch nur dem Raum, nicht dem Hausherrn.

Der Stelzfuß, dem die Spuren und Narben eines harten, ja wilden Lebens ins Gesicht geschrieben waren, trat, sein Hütlein in der Hand haltend, in eine vordere Bank, weil ihm das harte Klopfen seines Stelzbeines auf den Fliesen, das in der leeren Kirche lauten Hall gab, zuwider war. Klang es nicht, als wolle es jemand oder etwas herbeirufen? Und es war doch dem verwitterten Alten nicht darum zu tun, in einer Kirche Begegnungen zu haben oder Zwiesprach zu halten.

In die schöngegliederte Wölbung des Schiffs und nach den prächtigen Glasfenstern schaute er, hinter denen die Frühlingssonne stand. Am holzgeschnitzten mächtigen Kruzifixus, der im Chor an einer Kette von der Decke hing, glitt sein Blick in scheuer Flüchtigkeit vorüber.

Dann nahm er einen silbernen Sechsbätzner aus dem Beutel, um ihn beim Fortgehen in die Opferbüchse zu legen. Er drehte die Münze in den Fingern und dachte spottend, um welcher Sünden willen er sie opfern wolle? Das Wort 10 »Sünde« aber war der alten Kirche wie ein Stichwort. Sie fing im selben Augenblick zu reden an.

Stark zitterte dem Manne die Hand. Die Münze entrollte ihm. Er stöberte unter den Bänken mit seinem Stock; aber nur Staub und Moder quoll hervor. Ermüdet, mit unruhig klopfendem Herzen, setzte er sich nochmals in eine Bank. Die Kirche redete und redete. Wie die Uralten es im Brauch haben, fing sie bei ihrer frühesten Kindheit an. Bei den frommen Nönnlein, den klugen Priorinnen. Über Jahrhunderte redete sie hinüber wie über Tage und Stunden. Sie beschrieb jetzt dem Gast die Häuser, die einst um sie und das Klösterlein herstanden, sie nannte Namen von altem, verschollenem Klang, an die kein Mensch mehr dachte.

Auf einmal war einer darunter, bei dem des Lauschenden Blick dunkler wurde. Verwirrt hob er den Kopf, wie ein aus der Ferne Angerufener. Da sah er den Namen, um den es sich handelte, neben sich an der Kirchenwand in roten Sandstein gemeißelt. Taumelnd fast trat er aus der Bank und vor den Stein.

Siehe, da stand geschrieben: »Hier ruht in Gott der Letzte seines Geschlechts: Anselm Veit von Siegeborn. Ihre Werke folgen ihnen nach.«

Regungslos stand der Alte.

Fing nicht die Kirche bei seinem Erstaunen zu lachen an? Erst heimlich und leise, dann hallend und schallend, daß die blanken Pfeifen der Orgel nur so grinsten? Scheu sah der Mann sich um. Und dann tat er etwas Unerhörtes. Etwas, was er nie getan hatte, seit ihm das hölzerne Bein angeschnallt 11 war, und auch vorher nur ein paarmal: er drückte die Hände vors Gesicht, und eine Träne rieselte an den Fingern entlang.

Die Kirche aber raunte: »Siehst du nun, wie das ist, wenn man im öden Alter an seine blühende Jugend denkt! In funkelnden Jahren war der Siegeborn dein treuester Freund, dein liebstes Bruderherz. Um ein Weib kamet ihr auseinander, ihr jähen Hitzköpfe. Jahrelang habt ihr euch dann gehaßt mit jenem grimmigen Haß, der zu Asche gebrannte Liebe ist. Fallen einmal Tränen darein, so wird wieder Liebe daraus – – – Nie hast du einen Menschen geliebt, wie den da unten. Wild, zerfahren wurde dein Leben, als ihr euch getrennt! Nie hörtest du Kunde von ihm, bis deine Jugend hinter allen Bergen lag. Denkst du noch an den Tag, als dein Bein zuschanden ging? Dein Regiment war aufgerieben, dein Leib zerfetzt, deine Seele wund. Der Medikus, der das strömende Blut stillte, gab keinen Pfennig um dein Leben. Eins nur hast du da inbrünstig gedacht: ich will nicht sterben, ehe ich ihm, meinem Kameraden, noch einmal über den Weg gelaufen bin! Heute endlich ist's so weit. Heute kreuzt er deinen Weg und du bist nah am Ziel!«

Der Weißkopf hörte nur noch mit halbem Ohr, was die Kirche weiter erzählte von dem großen Brand, der Dorf und Kloster zerstört und sie einsam in einer fremden Welt zurückgelassen hatte.

Seine Gedanken waren bei dem Toten unter der Platte, und plötzlich sah er den Sechsbätzner auf dem Grab des letzten Siegeborn liegen. Scheu hob er das Geldstück auf, das ihm der Tote darbot. 12

Die Kirche lachte kichernd. »Du hast geflucht, weil ich dir den Batzen abnahm, und ich wollte dir doch nur den Freund dafür herausgeben. Gute Ware für gutes Geld – ich lasse mir nichts schenken.«

Die Münze entrollte zum zweiten Male des Alten Hand. »Es ist mir nicht zu teuer,« murmelte er verstört, »daß ich um einen Sechsbätzner den Siegeborn soll gefunden haben. Wären die Goldgulden nicht vertan, ich wollte wohl einen in den Kasten legen. Schlaf wohl, du! Mich alten Sünder wird man schwerlich in eine Kirche betten. Ich bin auch nicht der Letzte eines Geschlechtes. Weit fort von da hat es Junge meines Namens und Junge meines Bluts mit fremden Namen. Wild war die Zeit und heiß das Blut. Wenn einmal wieder einer, der von mir stammt, zu dir kommt, dem kannst du den Sechsbätzner reichen, wie vorhin mir. Es mag leicht ein armer Teufel sein. Und jetzt: fahr wohl! –«

Er klopfte mit dem Stelzbein auf die Grabplatte und humpelte hinaus, wo der Frühlingswind in den jungen Blättern der Silberpappeln raunte.

Das ist lange her. Irgendwo in der Gegend ist des Weißkopfs Grab. Sein Stelzfuß und der Ruf seines wilden Lebens war alles, was er seinen fernen Erben unverpfändet zurückließ. Aber sie ließen sich daran genügen. Es war ihnen eine schöne Mär, daß ein kühner Abenteurer ihres Namens, ein tapferer, wenn auch zügelloser Kumpan in der Erde gebettet lag, dort, wo sie ursprünglich herstammten. – –

Nach jenem großen Brand, von dem die graue Kirche wußte, erstand das Dorf Meßberg in seiner jetzigen Gestalt. 13 Die roten Ziegeldächer leuchteten bald durchs Wiesental, als sei etwas von der Feuersglut hineingeknetet. Manchmal dachte vielleicht ein Wanderer, der von den Höhen herüberschaute, es wäre kein Fehler gewesen, wenn auch die Kirche in Asche gesunken wäre; denn wie ein grauer, berußter Fleck lag sie zwischen der frischen Neuheit. Aber die Einsichtigen wünschten das nicht. Sie wußten zu gut, daß ein neues Gotteshaus lange Zeit ist wie eine neue Geige, die nicht singen und den vollen, echten Klang nicht hergeben will, selbst wenn ein Meister sie streicht.

Erst die dahingegangenen Geschlechter, die Scharen der lauschenden Unsichtbaren, die um Altar und Kanzel schweben, die über den Taufstein gleiten und in den Nischen knien, erst sie nehmen der Kirche das Kahle, Leere und Herbe, erst ihr heiliges Schweigen gibt den Unterton zu Predigt und Lied.

Auf dem uralten Klostergrund und zum Teil auch aus den rauchgeschwärzten Steinen der dahingesunkenen Heiligtümer entstand das Pfarrhaus und unweit davon, drüben über den großen, stillen, aneinanderstoßenden Gärten, die Jägermeisterei, oder, wie es später hieß, das Forsthaus.

Man konnte in den Gärten lange nicht graben und hacken, ohne auf Spuren von einst zu stoßen, und manche Menschen konnten in ihnen nicht in der stillen Sonne liegen oder in den verschlungenen Wegen lustwandeln, ohne Dinge und Klänge zu vernehmen, die nicht zum Heute gehörten, sondern wie ein nachgebliebener Ruch von Vergangenem waren. Freilich, die Lauten, die Stumpfen, die noch nicht zu echter Bewußtheit erwachten, vernahmen nichts. 14

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