Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Auf leisen Sohlen kam der graue Tag herauf. Heinz schaute ihm mit wachen Augen entgegen und dachte, daß heute Heiliger Abend sei.

Aber es eilte ihm nicht, aus dem Bett zu kommen. Keine drängende Freude, keine ungeduldige Erwartung trieb ihn auf. Still schaute er in die Dämmerung, aus der sich nach und nach die Gegenstände lösten, als werde ganz langsam ein 184 verhüllender Schleier zurückgezogen. Aber nicht die nahen Dinge stiegen vor ihm auf und wurden ihm bewußt, sondern vergangene Morgenfrühen.

Weißt du noch, Justus, wie unsere Betten nebeneinanderstanden in jener langen, schmalen Stube, vor deren Fenster die Eisenbahnzüge vorüberdonnerten?

Wie wir dann an einem Morgen aufwachten und wußten, daß Weihnachten sei! Aber jedesmal war etwas da, was über unsere freudehungrigen und sonst immer fröhlichen Bubenherzen einen dunklen Mantel breitete. Wir konnten nicht aufjauchzen, nicht in heller Lust aus den warmen Kissen fahren und dem Tag entgegenjubeln. Still lagen wir nebeneinander und sahen etwas, was uns verstummen machte Jahr um Jahr.

An einem Heiligen Abend früh war unsere Mutter gestorben. Der Glanz der Kerzen hatte am Abend über ihren Sarg hingestrahlt. Sie hatte das gewollt. Er sollte nicht dunkel sein für uns, dieser Abend, der allen leuchtet; ihr Gehen sollte uns die Weihnachtslichter nicht auslöschen. Weißt du noch, wie wir neben ihrem Bett standen, das doch ein Sarg war?

Bett und Sarg! Wie unfaßlich, wie geheimnisvoll spielte das lange Zeit in meinen Gedanken durcheinander! Du, Justus, der um vier Jahre Ältere, warst vielleicht klüger; aber ich konnte Bett und Sarg nicht auseinanderhalten. Ich weiß noch, wie ich von da an manchen Abend in mein Gitterbettlein stieg mit dem Gedanken, mit der leisen Furcht, es könnte über Nacht etwas Blumengeschmücktes, 185 Feierliches daraus werden, in dem ich ganz still und reglos liegen müßte!

Über den Heiligen Abend breitete sich für uns ein Schleier. Weißt du noch, Justus, wie wir beide jedes Bilderbuch, jeden Wiegengaul, jede Trompete erst nach ein paar Tagen recht eigentlich in Betrieb nahmen! Wie wir vorher diese Dinge nur aus der Ferne zu lieben wagten, weil etwas in uns war, das die laute Freude scheuchte! Aber trotz allem war für uns das Fest nicht um seinen Glanz gebracht. Es war nur ein ganz anderer Glanz als der, den die übrigen kannten. Hast du dir das auch im Herzen bewahrt, Justus, diese heimliche, fast stolze Gehobenheit, weil unser Weihnachten ein so besonderes Weihnachten ist? Es ist schon etwas daran: Wen das Leid anrührt, der trägt einen heimlichen Stern um den Hals! Aus Süß und Herb, aus Trauer und Freude gemischt ist uns für alle Zeit Weihnachten, und das gibt die edelsten Feste! –

Plötzlich richtete sich Heinz auf. Etwas wie ein Fanfarenton war ihm zwischen die leise spielenden und ziehenden Gedanken gefahren: Eva!

War das heute auch noch da, was gestern aufgetaucht war? Stand es nun fest, unwiderruflich, unwiederbringlich? Sein Herz klopfte wild in Schrecken und Angst, seine Augen starrten hinaus in den grauen Tag.

Was hatte er gestern abend gesagt, der alte, plumpe, bärtige Doktor? –

Eine Lähmung sei da, eine Lähmung auf der ganzen linken Körperhälfte? 186

Wahnsinn! Das konnte, das durfte doch nicht sein!

Eva, dieses bewegliche, behende, zierliche Geschöpf, dieses flinke Ding, das man im Dorf das Hexlein nannte, sie konnte nicht gebunden werden von so unheimlicher, grausamer Fessel!

Es mußte vorübergehen, es konnte vorübergehen, hatte der Doktor gemeint. Vielleicht ganz bald schon. Vielleicht in Jahren.

Und wenn es nicht vorüberging? – Grinste nicht das hölzerne Schifflein aus allen Ecken? – Siehst du, wie du hineingegriffen hast in ein Menschenschicksal, und dein Griff war Unheil! Übernimmst du sie nun, die Verantwortung, wie du lachenden Mundes gesagt hast? Kannst du deinen Kopf aus diesem Schlingwerk durcheinanderlaufender Fäden ziehen, ohne daß dir das Blut über die Stirne läuft?

Er stand auf und kleidete sich an. Bleich und gealtert war sein Gesicht, aus seinen Augen blickte die schwere Sorge.

Am Frühstückstisch wußte Tante Dine noch nichts Neues von drüben.

Die drei Menschen saßen still nebeneinander, eingesponnen in Erinnerungen, von den Schatten des Einst und Heute stumm gemacht.

Wieder und wieder mußte Heinz auf den Vater schauen. Man sah, daß seine Gedanken weit fort waren. Aber heute nicht bei Büchern und Gelehrsamkeit, sondern wohl bei dem fernen Frühling und dem kurzen Sommer seines eigenen Lebens. Wie von innen her geheimnisvoll erhellt war das schmale, blasse Gesicht, und in den Augen glänzten fremde Sterne. 187

Daß er, Heinz, das früher nie gesehen hatte!

Er grübelte vor sich hin. Es war ihm, als sei er jetzt erst für irgend etwas reif geworden, jetzt erst zum Mann erwacht.

Aber kein Stolz, kein übermütiges Kraftgefühl quoll in ihm auf, wie er es sonst oft empfunden, wenn er etwas erreicht oder eine Etappe seines jungen Lebens hinter sich gebracht hatte. Eher griff ihm jetzt Bangigkeit ans Herz und ein Zögern wie vor Toren, die ins Ungewisse führen.

Tante Dine rückte den Stuhl. »Entschuldigt,« sagte sie, »ich muß jetzt wissen, was drüben los ist. Bleibt ruhig sitzen, bis ich Botschaft bringe.«

Sie horchten ihr nach, wie ihr flinker Tritt auf Flur und Treppe verhallte, und wie die schwere Haustüre ins Schloß fiel. In heimlicher Scheu trafen sich dann die Blicke der Männer. Sie fragten einander ohne Worte: Fürchtest du – –?

Und nun stand der Vater auf und trat ans Klavier. So selten tat er das, obgleich er gut spielte und im verborgenen Grund seines Herzens von einer Zeit wußte, da die Musik gleich stark nach seiner Seele gegriffen hatte wie der andere Drang, dem er dann gefolgt war.

Er schlug den Deckel auf und griff zu einem leisen Lied in die Tasten. »Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein'n neuen Schein. Es leucht't wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Halleluja!«

Mit seiner bedeckten, weichen Stimme sang er den alten, innigen Vers, und Heinz fühlte, wie ihm die Lippen zitterten, als er einzufallen versuchte. 188

Schon sanken des hageren Mannes Hände von den Tasten; er saß abgewendeten Kopfes und schaute in den grauverhangenen Tag hinaus.

Auf einmal stand er auf. »Ach, Heinz,« sagte er, »wenn das nicht wäre, das ewige Licht, das der Welt den neuen Schein gibt!«

Auch der Sohn stand jetzt auf. Neben seiner kraftstrotzenden Gestalt sah der Vater wie verfallen aus. Es blieb ganz still in der Stube. Heinz hatte ein Gefühl, als drücke ihm eine Hand die Kehle zu, und wenn er sich dagegen wehren würde, müßte ein Schrei herauskommen.

Dann horchten sie wieder und warteten. Und dann kam Tante Dine und sagte – ach nein, sie sagte nichts. Sie sah ganz bleich und fremd aus und atmete schwer. Und dann verzog sich ihr Gesicht wie bei einem Kind zum leisen Weinen: »Sie ist gelähmt.«

*

Gegen den Abend lief Heinz hinaus, dem Fluß zu. Grau und still war die Welt, und sie kam ihm abgeschlossen und in sich gerundet vor. Es lag nichts mehr darüber hinaus; der fast zum Greifen nahe Horizont umfaßte alles Seiende wie eine gefüllte Kugel, die im Leeren schwebt.

Im Frost der vergangenen Tage zusammengesunken waren die Schneemassen. Nicht mehr weich und üppig überquellend deckten sie Felder und Wege. Hart und harsch sahen sie aus, streng und gefestigt, ein Panzer des streitbaren Winters.

Unter dem niederen Himmel zogen Rabenscharen dahin. 189 Die schwarzen Flügel rauschten hörbar wie ein Strom über dem einsamen Menschen. Ein Eisvogel streifte schillernd am Weg entlang und über das Feld hin dem Wasser zu.

In Heinz war Andacht und Stille, wie er sie nie gekannt. Strömte sie ihm aus dieser verstummten Welt entgegen, oder trug er sie hinaus zu ihr? Er wußte es nicht; er kannte sich in sich selbst nicht mehr aus.

Langsam und versunken wanderte er weiter, nichts suchend und ohne Weg. Da kam er an die Hecke von Johannes Straubs Obstgarten, dort zirpten und schimpften Goldammern, als ärgerten sie sich über sein Kommen.

Er blieb stehen und sah den Vögeln zu, wie sie flink und fröhlich zwischen den kahlen Ruten der Hecke huschten. Früher hatte er eigentlich nie Vögel beobachtet. Andere Dinge hatten ihn hingenommen. Die feinen und strengen Gesetze der Mechanik zu errechnen, sich zurechtzufinden in Physik und Mathematik, das war seine liebste Welt gewesen.

Nun sah er plötzlich in eine andere hinein. Es war, als sei eine nie erblickte Türe vor ihm aufgegangen, durch die ein fremdes Land zu sehen war. An fernen Weihnachten in der Stadt hatte Tante Dine ihm und Justus erzählt, daß in der Heiligen Nacht alle Kreatur von einem Engel gegrüßt werde, der da verkündigt: »Auch euch ist heute der Heiland geboren.« Und das Kommen des Gottmenschen sei ein Tag des Glücks und der innersten Verwandlung für jedes irdische Geschöpf, ja für die mütterliche Erde selbst. – Für ein schönes Märchen hatten er und der ältere Bruder die Geschichte bald gehalten, 190 und heute durchschauerte es ihn plötzlich, daß dies alles wortwörtlich wahr sei! Ein Wissendsein und eine Ehrfurcht ohnegleichen schien ihm die ganze winterliche Welt auszustrahlen, wie er beides nie unter Menschen gefunden.

Langsam sanken jetzt die Abendschatten. Wie dünne, dunkle Schleier wallte es vom Fluß herauf über die Hecke und über das weite, kahle Feld hin. Sein Blick suchte den Himmel ab. Einen Stern möchte man sehen in dieser Nacht, den Stern, der über der Krippe steht.

Aber eine graue, stumpfe Decke würde heute alles Blinken dort oben verhüllen. Er kehrte sich ab und wandte den Schritt heimwärts. In der Ferne glühte ein erstes Licht auf. Das war im Forsthaus. Seine Augen hingen groß an dem flimmernden Funken.

Dort, ach dort fing die Menschenwelt wieder an und mit ihr die herzbeklemmende Not! Kleine, arme Kleine, wirst du nie wieder mit gesundem Körper die stille, feierliche Herrlichkeit eines Winterabends in der Einsamkeit genießen können? Du, die das einsame Streifen kennt und liebt; du, die auf unbekannten Fährten im Schnee ihrem Schicksal entgegenstapfte, du scheuer, flinker Vogel du? –

Ach, nun wirst du vielleicht immer abhängig sein von andern, immer gebunden, immer an der Kette! Und ich werde draußen sein in der weiten Welt; ich werde dir nicht helfen, werde dein Schicksal nicht mit dir tragen können! Wäre ich doch nie aufgetaucht in deinem Lebenskreis! Hätte ich dir nie ein hölzernes Schiff geschnitzt, nie die lockende Fährte in den Schnee getreten! 191

Aber du, was brauchtest du auch so scheu zu tun vor mir! Was brauchtest du mich auch zu fliehen wie den Bösen? Darf man mit dir nie einen Scherz machen? Wärst du mein Kamerad geworden, wir hätten manches unternehmen können! Ich hätte schon gesorgt, daß das Schifflein geschwommen wäre! Dann hätte der Semme sich gehütet, dich zu schrecken!

So rechtete er aus der innern Qual heraus mit der Kleinen und vergaß die dämmerige Welt. Da tauchte, von hinten her kommend, eine Gestalt neben ihm auf. Er hatte keine Schritte gehört, hatte nicht geahnt, daß ihm jemand folge. Er schrak zusammen und spürte, wie ihm das Blut jäh nach dem Herzen strömte.

Er hob den Kopf und sah in Semmes häßliches Gesicht. »Du!« stieß er hervor, und es war wie Wut in ihm, »du Scheusal kannst einen wohl erschrecken! Was tust du da außen?« –

Der Knecht drehte den langen Hals. Seine Hand, die in einem unförmlichen Handschuh steckte, fuhr nach der Kappe. Etwas Schlotterndes, Unsicheres lag über dem hageren Menschen.

»Wegen den Bäumen, den jungen – die Hasen nagen –« er stotterte und stieß heiser und rauh hervor: »Ist das wahr, daß sie sterben muß?«

In Heinz war noch kein Gleichgewicht. Jäh blieb er stehen. Seine Augen flammten in des Knechtes Gesicht. »Du,« sagte er fast schreiend, »du trägst die Schuld! Wenn sie nicht stirbt, ist sie lahm.« 192

Da stand auch der Knecht. Schlaff hingen seine Arme. Einer der schweren Handschuhe fiel zu Boden. Ein dumpfer, ächzender Laut klang auf. –

Und nun kam Glockenton vom Dorf herüber. Er zerschnitt das Qualvolle, das zwischen den beiden Männern sich spannte. In hellen Schlägen kam er daher, nicht wie müdes Abendläuten.

Erschüttert lauschte Heinz. War da nicht eine Stimme: »Euch ist heute der Heiland geboren! Dir, mir und aller Kreatur!«

Er fühlte plötzlich keinen Zorn mehr. Nur weinen hätte er mögen wie ein Kind. Nach des Knechtes Handschuh bückte er sich und reichte ihn dem Erstarrten.

»Komm,« sagte er leise, »dein Bauer wird auf dich warten. Die Kirche fängt an!«

Aber der Knecht blieb stehen und nahm den Handschuh nicht. Sah ihn vielleicht gar nicht. Es zuckte jetzt in seinem Gesicht. Dann würgte er hervor: »Man soll den Hund nicht auf mich hetzen! Das muß jeder sagen: den Hund soll sie nicht auf mich hetzen! Das ist – der Hund – sie hat – –«

Er schwieg und starrte ins Leere in dumpfer Hilflosigkeit.

Heinz konnte den Blick nicht von dem häßlichen Gesicht wenden. Auch hier dieses Abwälzen der Schuld auf die Schultern der Kleinen! Waren sie nicht Spießgesellen, er und der Knecht, und Eva, ihr unseliges Opfer? –

»Semme!« schrie er auf, fast gegen seinen Willen, »du und ich, wir müssen der Eva Arme und Füße sein! Verstehst du das? Wir haben sie auf dem Gewissen!« 193

Und er ließ den Handschuh wieder zu Boden fallen und schritt dorfwärts, ohne sich umzublicken.

*

Nun trug Eva jahrelang die furchtbare Fessel. Wohl wich mit der zurückkehrenden Kraft die übelste Hilflosigkeit; aber ihren vollen Dienst taten die gelähmten Glieder nicht. Statt daß die einst flinken Füße das emporwachsende Mädchen in ein reicher werdendes Leben trugen, mußte Eva jenes Schwerste lernen, das es für heißes Blut zu lernen gibt: das Abhängigsein von den andern und von den Schwachheiten des eigenen Körpers. Aber den übelsten Dingen auf Erden ist es erlaubt, oder wohl von einem hohen, gütigen Willen geboten, daß sie einen verhüllenden Schleier über dem nackten Antlitz tragen, der ihre furchtbaren Züge mildert. So sah Evas Abhängigkeit zumeist aus, als sei das Mädchen in ihrem Umkreis gebietende Herrin geworden.

Ganz anders als früher stand der Forstmeister jetzt zu seiner Tochter. Sie war ihm nicht mehr der oft freundliche, oft auch ein wenig bange machende Besitz, nicht mehr der heimlich gesegnete Zufallsreichtum seines bestohlenen Lebens, sondern eine Aufgabe, die unvermerkt aus den langen, leeren, von keinen großen Zielen durchleuchteten Tagen seiner dahinschwindenden Mannesjahre heraustrat.

Im äußerlichen Zusammenleben der beiden änderte sich nicht viel. Noch immer war der Mann am liebsten draußen in der Waldeinsamkeit, die ihm vertraut war bis in ihre innersten Heimlichkeiten. Aber die Bilder und Gedanken, die er jetzt durch den stillen, sonnigen Wald oder durch das 194 zornige Rauschen der windgepeitschten Wipfel hintrug, sie änderten sich unvermerkt, und sein eigenes, sich rundendes Leben trat an Wichtigkeit heimlich zurück vor dem Leben des dunkelhaarigen Mädchens, das erst am Beginn stand.

Und wieder, wie vor Jahren schon, nahm der Forstmeister in aller Stille das Suchen auf nach Ursprung und Herkunft dieses Lebens. Aber er tat es nicht mehr wie einst, indem er nur äußerliche Spuren suchte, die immer und immer wieder im Schnee jener Winternacht verliefen, sondern er horchte angestrengt und mit zähem Erwarten in das aufblühende Mädchen hinein; er beobachtete, verknüpfte und folgerte, und wenn ihm auch das gesuchte Geheimnis auf diese Weise sich nicht enthüllen konnte, so enthüllte sich ihm doch etwas von jenem andern Geheimnis: daß eines Menschen Seele ein selbständiges Gebilde ist, das Erziehung und Umwelt nur füttern, aber nicht gestalten können. Wie einst das Kind schwer von außen her zu bändigen und dann doch oft so leicht von innen her zu lenken gewesen war, so sah der Mann heute noch das Mädchen. Ein Abenteuerhaftes spürte er an ihr, das nicht gebrochen und nicht zu zerbrechen war durch die körperliche Fessel, und das doch immer wieder geheimnisvoll und unberechenbar einmünden konnte in klare Gelassenheit und Ruhe, ja in sachliche Nüchternheit, die alle Lagen und alle Dinge ohne umkleidenden Schimmer sah. Oft mußte er an ein Wort der Baltin denken, daß Eva durch ihr Gebrechen behütet sei vor vielem, was das Leben an Gefahren sonst für sie gehabt hätte, und oft war ihm, als sei von diesen Gefahren nicht eine einzige gebannt durch die Lähmung 195 der jungen Glieder, wohl aber durch etwas, was in des Mädchens Seele lag.

Über diesem Erkennen, das ihm durch eine Stimme vermittelt wurde, der er nicht mißtrauen konnte, wurde er ruhig, ja sorglos dem jungen Mädchen gegenüber, wie er früher dem Kind gegenüber sorglos gewesen war. Aber wenn er das Kind der Wildbahn überlassen hatte, so war ihm jetzt nichts angelegener, als für das Mädchen nach ebenen Wegen suchen zu helfen.

Auf seinen einsamen Gängen überdachte er ihr Leben und Schicksal. Einen Beruf suchte er für sie, ein Ziel, einen Inhalt für die kommenden Jahre. Und er fand keinen.

Er wußte: sie war klug, sie lernte leicht, sie sah mit hellen Augen überall das, worauf es ankam. Und doch – alles, was er sich ausdachte, wäre ihm vorgekommen wie eine weitere, eine härtere Fessel für die schon Gefesselte. Über allem, was sie konnte und wozu sie stark und tüchtig genug gewesen wäre, sah er ein anderes schweben, ein Höheres, ein Ungreifbares, das man nicht herunterziehen durfte und konnte, um es zu einem Ziel, einem Beruf zu machen. Er spürte und ahnte das in Eva, was er einmal vor langen Jahren in jenem feinen, schönen Wesen gesucht hatte mit der ganzen Glut und dem ganzen Glauben seiner Mannesseele, und was er dann unter bitteren Kämpfen und Krämpfen hatte verlorengeben müssen.

Seine Augen weiteten sich und sahen in die Ferne. Menschenschicksal! Die einen suchen brünstig und glaubensvoll und müssen dann in die Dornen greifen; den andern bieten 196 sich schimmernde Schätze dar, und sie stürmen dann sinnlos in irgendeine Wüste hinein, um allen Reichtum zu vergeuden und zu zertreten.

Würde wohl einmal einer sein, ein Mensch, ein Mann, der Evas Reichtum sah? – Einer, der ihn begehrte und genoß?

Der Forstmeister spürte, wie ihm das Blut in die Stirne trat. Sie war noch ein Kind, und seine Gedanken kamen ihm plötzlich vor wie Kuppler und Verräter. Aber wie er sie auch scheuchte, sie kehrten zurück und riefen ihm zu: Du belügst dich, wenn du sagst, sie sei noch ein Kind! Sie ist ein werdendes Weib, und es ist nichts stärker, nichts reiner, nichts ausgeprägter in ihr als das, was das Weib zum echten Weibe macht: die Fähigkeit, in heißer Liebe und Hingabe die ganze Welt zu vergessen, wenn es der Geliebte will.

Aber dann trat mit der gleichen Stärke der andere Gedanke auf: sie kann sich nicht würdelos und sinnlos verschenken. Sie hat einen Kompaß in sich, einen Magnet, der seinen Pol kennt. Sie ist kein Blümlein an jedermanns Weg, keine Beute für schweifende Jäger, und es tut nicht not, sie zu hüten, weil etwas da ist, von dem sie umhütet wird. Es ist nicht Stolz, es ist nicht Klugheit, es ist nicht Erfahrung. Es ist ein Hauch ihrer Seele, den jeder spürt. Nicht jener Hauch von Reinheit, von Kindlichkeit, vor dem zuletzt doch nur die Guten und Starken haltmachen und der deshalb nur so lange Schutz ist, solang nicht die echte Gefahr droht. Nein, es ist etwas anderes, das ich nicht recht durchschaue, etwas, das scheucht, wie eine versteckte Fährlichkeit, wie eine 197 glimmende Lunte, von der man nicht weiß, wann, wo und wie sie zündet.

So grübelte und suchte der Mann, und dann stand er wieder vor dem verschlossenen Tor: Wo kommt sie her, diese Menschentochter, wo liegen die Quellen, die Schlüssel ihres Wesens?

Auch der Pfarrer, dieser fast allzusehr auf sich selbst zurückgezogene Mann, versuchte in den Jahren nach Evas Krankheit ihr nahezukommen und in ihr Leben, das jedem verarmt erschien, etwas Bereicherndes hineinzutragen.

Seine seelsorgerliche Begabung war von herber, für die Meßberger allzu keuscher Art. Billiger Trost und wohlfeiler Zuspruch wollten ihm nie über die Lippen. Weil er solche Dinge nicht gab und weil sie für anderes selten Verwendung hatten, hielten ihn die Bauern für arm und nahmen ihn wenig in Anspruch. Wenn sie ihn riefen, taten sie es meist aus dem Gefühl heraus, damit mehr dem Herrgott, diesem an bestimmten Bräuchen zäh hängenden Herrscher, als der eigenen Seele einen Dienst zu erweisen. Darum war auch kein Gefühl der Dankbarkeit gegen den Pfarrer in ihnen. Viel eher die Überzeugung, daß der Herrgott ihnen zu Dank und Wohlgeneigtheit verpflichtet sei, weil sie sich mit ihrem Pfarrer gut zu stellen suchten.

Auch Eva gegenüber konnte der gelehrte und zurückhaltende Herr nicht gegen seine Natur. Und doch war ein zäher, ihn quälender Wille in ihm, der Hartverkürzten irgendeine Entschädigung in ihr junges Leben zu tragen. Scheu und ungeschickt versuchte er viele Wege. Oft meinte er, 198 ans Ziel zu kommen, und mußte dann doch sehen und fühlen, daß er in die Irre ging, oder doch einen zu weiten, zu vielverschlungenen Pfad eingeschlagen hatte.

Er las ihr vor. Dinge, die ihm bei seinen Studien unter die Finger gekommen waren, wie schöne Steinchen oder merkwürdige Gebilde beim Graben in die Tiefe.

Sie hörte zu, sie sammelte, sie bewahrte, sie spielte damit. Aber als einen richtigen Reichtum empfand sie die Gaben wohl nie. Die Geschichten der Jerusalemshexe und der Hanne, all das Zeug, das die Bauernmägde wußten und erzählten, legte sie in die gleiche Lade, und wenn der Pfarrer meinte, mit schillernden Kleinigkeiten das Mädchen wie an einem vorgehaltenen Brocken in die Tiefen richtigen Studiums hineinlocken zu können, so mußte er sehen, daß sie ihm vor der Zeit umkehrte.

Einmal erst, als sie, lange nach ihrer Krankheit, an einem klaren, stillen Sommerabend ins Pfarrhaus kam, zog der Mann, ohne es zu ahnen und zu wollen, die Lade auf, aus der er einen echten, großen Reichtum in das Leben des Mädchens ausschütten konnte. Einen Reichtum, so tief und unverlierbar, daß Eva ihn gar nicht übersehen und abschätzen, sondern ihn nur wie eine selig Träumende aufnehmen konnte.

Das Pfarrhaus war leer an jenem Abend, Tante Dine im Dorf und die Magd im Garten.

Durch die offenen Fenster strömte Heugeruch und der süße, heiße Duft von Rosen und Jasmin und blühendem Holunder.

Mit seinen, vom langen Lesen etwas müden, fast starren Augen schaute Pfarrer Sommer auf, als Eva durch all die 199 offen gelassenen Türen auf die Schwelle seines Zimmers trat.

Sie kam ihm nicht gelegen. Er hatte die tiefe Ruhe unbewußt so sehr genossen, war so sehr in eine andere Welt versenkt gewesen, daß die Störung ihm weh tat. Aber das ging wie ein flüchtiger Schatten vorüber; dann stand er auf und trat auf sie zu.

Sie wollte wieder gehen, als sie vernahm, daß das Haus leer sei. Aber der Pfarrer hörte die leise Enttäuschung aus ihrer Stimme, und er wußte, daß die Treppe, die des Kindes flinke Füße einst im Fluge nahmen, für das Mädchen jetzt Mühsal bedeuteten, so daß sie nur selten kam. Er trat mit ihr in das Zimmer, wo immer noch wie einst die Zwillinge an den Pfeilern zwischen den Fenstern standen und Tante Dines blanker Nähtisch und das glänzende Klavier, das im Sommer ohne Decke war.

Und ein Zufall – oder was war es doch! – wollte, daß an diesem Klavier der Deckel aufgeschlagen und ein Notenblatt aufgelegt war. Und ein anderer Zufall ließ den Mann sich ans Klavier wenden und fragen: »Soll ich ein wenig spielen?«

Sie hatte schon öfters zugehört, wenn dieses Klavier im Pfarrhaus klang. Tante Dine spielte Lieder darauf: »Leise, leise, fromme Weise.« Und: »Großer Gott, wir loben dich.« Und: »Herbei, o ihr Gläubigen!« Auch einen Walzer konnte sie und eine langsame Mazurka, bei der einem das Herz merkwürdig traurig wurde.

Das war alles ganz schön; aber wenn dann Tante Dine 200 den blanken Deckel wieder über die gelblichen Tasten legte, war in Evas Herzen diese Musik auch eines der schillernden Steinchen, die bei den andern in der Lade lagen, mehr nicht.

An jenem Abend dachte Eva zuerst, es sei ganz gut, wenn der Herr Pfarrer ein wenig Musik mache, bis Tante Dine aus dem Dorf komme. Dann aber – – –

Ach ja, ach ja, wie ist das doch, wenn zu einem Menschen Gott kommt, um Einkehr zu halten? Oder das Schicksal, oder das Große, oder wie man es eben heißen will, das, was einem das Herz ganz und gar umwendet, so daß man es nachher selbst nicht mehr kennt! Daß man neue Augen bekommt, neue Sinne, eine neue Seele, neue Maßstäbe, neue Sehnsüchte und ein neues Wissen um sich selber und die Welt?

Wie ist das, wie ist das? Durch welche Türe schlüpft es herein, dieses Alleswandelnde, das die Schalen von eines Menschen Wesen abklopft und eine neue Periode heraufführt für den ewig in die Ewigkeit hineinwachsenden Erdenpilger?

Hunderterlei sind die Tore, durch die es treten kann, das Allgewaltige. Es kann ein Pförtlein wählen, nicht größer als ein Nadelöhr, und es kann durch hochgewölbte Hallen einziehen. Still und heimlich, wie auf Taubenfüßen, kann es kommen, oder im Donnerton großer Geschehnisse.

Bei Eva kam es an jenem Abend durch des Pfarrers Klavierspiel.

Der Mann hatte seine Brille abgelegt und saß eine Weile gebeugten Hauptes, wie nachsinnend, ja, fast wie betend vor 201 den Tasten. Und dann legte er die Hände darauf und fing erst ganz leise zu spielen an.

So leise war's, so schmeichelnd, wie man ein Kind an der Hand nimmt, wenn man ihm vorsichtig etwas zeigen will, was ihm die junge Seele packen und erschrecken könnte.

Dann wuchs, dann schwoll, dann reifte das Spiel aus zu einer Fülle, zu einer Höhe, die den Mann selbst mitriß und weiterführte, so daß ihm der Weg unter den Füßen entschwand und seine Flügel, die sonst gefesselt waren und bedeckt mit Bücher- und Amtsstaub, sich weit entfalteten.

Da dachte er nicht mehr an die Besucherin und daß er ihr hatte ein wenig Musik machen wollen. Alle Schönheit, alle Klarheit, alle Freiheit, wie sie bei den großen Geistern und Meistern der Musik zu finden ist, war um seine Seele her wie ein schimmernder Ozean.

Eva saß zur Seite in Tante Dines breitem Stuhl. Ihr dunkles Haar fiel in das schmale, bräunliche Gesicht, die großen Augen waren wie in Verwunderung, ja wie in Schrecken geweitet. An dem Spielenden hingen sie, dessen Züge verwandelt und nicht wiederzuerkennen waren.

Alles Müde, Gealterte, Verkrampfte war daraus weggewischt, und eine selige Gelöstheit, eine unbegreifliche Jugend schien darüber gebreitet.

Dem Mädchen zitterte das Herz. Das Wissen um heilige Wunder, um ewige, glänzende Welten strömte in sie ein wie eine unaufhaltsame Flut. Fortgetragen fühlte sie sich aus aller Enge heraus, versetzt unter die Scharen derer, die kein 202 Amt haben, als mit ihrem Sein und Wesen ein Lobgesang zu sein, ein jubelndes Halleluja!

Als das Spiel verklang, war Evas Gesicht naß von Tränen, um die sie nicht wußte, die sie nicht trocknete.

Sie schaute um sich, als komme sie von weit her, und dann stöhnte sie auf, wie unter einem Schmerz. Sprechen konnte sie nicht, und auch der Pfarrer sprach nicht. Es war, als schämten sie sich voreinander und wollten sich fliehen und fänden keine Schlupflöcher.

Das war die Stunde, in der Pfarrer Sommer Seelsorgerdienste tat an Eva.

Wie sehr aber, wie tiefgründig, nachhaltig und schwerwiegend er für des Mädchens Seele gesorgt und an ihr gearbeitet hatte, das ahnte damals weder er noch die Besucherin. Sie wußten beide nicht, daß »ein wenig Musik machen am Sommerabend« der Weg sein kann, den ein Göttliches nimmt, um einzuziehen in ein Menschenherz.

Es war das aber nicht so, als ob von diesem Tag an Eva nun das gewesen wäre, was man musikalisch nennt. Sie wollte kein Instrument lernen und kümmerte sich nicht um Notenzeichen. Ja, sie verlangte kaum, Musik zu hören; sie hatte fast Angst davor, als wisse sie, die Unwissende, von der Nichtwiederholbarkeit gewisser Stunden.

Aber sie trug von dieser Zeit an jenes Geheimnisvolle in sich, das alle Erlebnisse und Geschehnisse erhöht und verklärt, wie ein Kreuz die Notenzeichen. Was ihr von nun an widerfuhr, ob es groß war oder klein, blieb nicht klanglos und stumpf in ihr. Sie lernte erleben. Sie hatte einen Schlüssel zu 203 Türen, die sie zuvor gar nicht gesehen hatte. Es war das in ihrem Wesen aufgewacht, was der Menschen Stammeln das Schöpferische nennt und was nicht, wie ein neuer Besitz, sich anderem Besitztum anreiht, sondern das, wie jenes Weibes Sauerteig, nicht nachläßt, bis daß alles durchsäuert ist. – –

Und nun wäre es leicht, zu sagen, daß das alles auch ohne des Pfarrers Spiel in Eva zur Entfaltung gekommen wäre, und daß ein Abendstündlein am Klavier nichts Schicksalhaftes sei. Aber die das sagen, bedenken nicht, daß ohne das Keimen der kleinen Eichel zwischen dem niedrigen Laub am Waldboden die Eiche nicht wäre, deren Wipfel jahrhundertelang im Winde rauscht, und daß der Immerseiende wie ein Nichtseiender wäre, wenn er nicht wie ein Kommender immer wieder irgendwo Einzug hielte.

Mit der ihm eigenen wortkargen Treue und Zähigkeit, die in Meßberg niemand recht verstand, tat von da an der Pfarrer an dem emporwachsenden Mädchen den besonderen Seelsorgerdienst. Er lehrte sie, ohne Worte dabei zu verlieren, Beethoven kennen und Bach, und neben den ganz Hohen auch andere, die dem Ewigen dienen in reinen Kleidern. Aber die Possenreißer und Seiltänzer auf den lauten Gassen lehrte er sie nicht kennen, denn er hatte längst begriffen, daß Musik kein Gaudium ist, sondern eines der Taue, die die Jenseitigen uns herüberwerfen, damit wir einmal sicher landen können an ewigen Ufern. Um das aber, was seine Musik in Evas Herz und Wesen wirkte und anrichtete, kümmerte sich der Pfarrer eigentlich wenig. Er hatte zu viel Hochachtung für eines jeden 204 Freiheit und war zu sehr auf seine eigene Freiheit bedacht, um ein Seelenschnüffler zu werden.

In anderer Art, als der Vater Sommer, trat der Sohn in Evas heimlichen Dienst.

Er war längst wieder in seinen Studien und Arbeiten. Die laute Stadt brandete um ihn her wie vor jenen Ferien, und seine Träume, seine Ziele lockten hinaus in die Welt. Aber durch das bunte Leben und Locken schimmerte jetzt wie ein ruhiger Hintergrund Meßberg und die Erlebnisse dort.

Der Wintersonntag mit den lautlos treibenden, einsamen Schneeflocken in den grauen Gassen, das Kirchenglockenläuten, der Gottesdienst, bei dem Eva fehlte, die rätselhafte Angst, die wie ein scheuchendes Gewissen war und ihn hinaustrieb auf die verschneite Heide und an den dunkel ziehenden Fluß – alles das war jetzt immer da und verblaßte nicht.

Unter die Zeichnungen und Berechnungen von Kolben und Zylindern, Wellen und Schrauben schlich sich immer öfter ein hölzernes Schifflein.

Schuld? Wer spricht von Schuld? – Sühne? Was ist zu sühnen? – Was zeichnest du eigentlich, Heinz? Das gehört doch nicht zu einer Schiffsmaschine? Nein, soll es auch nicht! Einen Fahrstuhl soll das geben, einen Fahrstuhl von ganz besonders leichter und doch starker Bauart. Warum sollte ein Maschinenbauer nicht auch so etwas fertigbringen? Müßte es ihm etwa zu wenig sein, sich damit abzugeben? – Soll es dir zu wenig sein, Heinz Sommer, dort, wo du zerstört hast, auch wieder Hilfe zu bringen? – Unsinn! Wer 205 hat zerstört? Bist du als Kindsmagd nach Meßberg gegangen? Nein, nicht als Kindsmagd. Nur als einer, der die arglose Eva zum Narren hielt.

Die Gedanken kamen und gingen, und der Fahrstuhl entstand unter ihrer zwingenden Herrschaft. Aber als er fertig und nach Meßberg geschickt war, ja, als von dort die Dankbarkeit und Lobsprüche kamen, zeigte es sich, daß die Sühnetat und Opfergabe, die Heinz den zürnenden Göttern in der eigenen Brust damit dargebracht hatte, noch nicht groß und wertvoll genug war. Er, der seither so ungestüm und zielbewußt Vorwärtsstürmende, war jetzt ein Unentschlossener, Zaudernder.

Wie aus einem heimlichen Verlies, in dem sie eigentlich hätten sterben sollen, tauchten des Vaters Wünsche auf, um die so mancher heiße Kampf geführt worden war: daß Heinz Arzt werden solle, wie viele Vorfahren es gewesen waren.

Heinz, der so hitzig um Selbstentscheidung für sein junges Leben gerungen hatte, ertappte sich jetzt oft auf einem zögernden Erwägen, einer heimlichen Ratlosigkeit.

Statt wie sonst mit gesammelter Seele hinter den Berechnungen und Zahlen höchst zuverlässiger Mechanismen zu sitzen, versank er jetzt oftmals in ein quälendes Grübeln über geheimnisvolle, nicht zu enträtselnde Zusammenhänge im Organismus des menschlichen Körpers, denen er auf die Spur kommen wollte wie einem unerkannten Gesetz der Physik, der Mechanik.

Aus dieser Not heraus beschloß er – wie alle Unentschlossenen – einen mittleren Weg zu gehen und neben seinem 206 eigenen Studium her ein paar Semester Anatomie des menschlichen Körpers zu hören.

Als er dem Vater diesen Entschluß mitteilen und begründen wollte, setzte er sich zu dem Brief hin in einer Befangenheit, einer Ratlosigkeit, die ihm sonst fremd war. Aber beim Schreiben muß wohl sein Schicksal selbst hinter ihn getreten sein, um ihm die Feder zu führen; denn er schrieb Dinge, die er eigentlich gar nicht so gedacht hatte, die ihm selbst überraschend waren.

Er schrieb, daß ihm über der Arbeit an Evas Fahrstuhl der Gedanke gekommen sei, es zu seinem Lebensberuf zu machen, solche Hilfsmittel für körperlich Verkürzte und Verkümmerte zu konstruieren. Vielleicht auch später künstliche Glieder. Er müsse zu diesem Zweck nur erst den Organismus und die Anatomie des menschlichen Körpers studieren und gedenke, wenn es der Vater erlaube, vorerst bei Hempel ein paar Semester zu hören.

Als er so weit war mit seinem Brief, stützte er den Kopf in die Hände. Ein merkwürdiges Gefühl, halb Schrecken, halb Freude, kam über ihn. Stand da nicht vor ihm auf dem Papier die Lösung und Erlösung von all den dumpfen Quälereien des letzten Jahres? Vergebens hatte er sie immer gesucht, vergebens mit der eigenen Seele darum gerungen. Und nun war sie da, wie vom Himmel gefallen. Ein Kraft- und Glücksgefühl von einer neuen Art strömte in ihn ein. Es war nicht mehr jener jugendliche Überschwang, der keine Grenzen sieht, sondern ein männlicher Ernst, der sein Ziel erkannt hat und die hohe Macht, die es ihm steckte. 207

So fing für Heinz Sommer, der sich schon sein Haus, ja einen Palast auf der Insel Ceylon gebaut hatte, ein mühseliges und doch schönes Grundsteinlegen an, ein sehr langsames Vorwärtsschreiten, das die ganze Zähigkeit, Eigenwilligkeit und Unbeugsamkeit dieser Natur erforderte und in Dienst nahm, und sie in diesem Dienst umschmiedete zu Kraft und Zielbewußtheit.

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